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Entscheidende Wochen
ОглавлениеEberhard Arnolds älterer Bruder Hermann hatte inzwischen sein Studium angetreten. Clara war mittlerweile 17, Eberhards 16. Geburtstag stand bevor. Die Ferien sollten die beiden nicht mehr, wie bisher stets, mit der Familie verbringen. Das hätte sich schlecht mit der Schule vereinbaren lassen, denn die Sommerferien dauerten bis zum 7. August, die vorlesungsfreie Zeit an der Universität begann aber erst Anfang August. Stattdessen arrangierte die Mutter einen Ferienaufenthalt bei ihrer Cousine Lisbeth und deren Mann. Ernst Ferdinand Klein war Pfarrer in Lichtenrade bei Berlin. Er hatte früher ein Pfarramt in einem schlesischen Weberdorf innegehabt, hatte sich dort weit über das übliche Maß hinaus für die Interessen der Heimarbeiter stark gemacht und hatte ihre Ausbeutung durch die Tuchfabrikanten öffentlich angeprangert. Das Konsistorium der schlesischen evangelischen Kirche hatte ihn daraufhin in eine andere Kirchenprovinz versetzt. Dem streitbaren Pfarrer war die Bewunderung des 16-jährigen Eberhard sicher.
Eberhard Arnold als 19jähriger im Familienkreis (stehend von links: Clara, Carl Franklin Arnold, Betty, sitzend von links: Hermann, Elisabeth Arnold, Hannah, Eberhard)
Just im Sommer 1899 hatte sich Ernst-Ferdinand Klein mit seiner kompromisslosen Wahrheitshebe auch an der neuen Wirkungsstätte Feinde geschaffen. Er hatte durchgesetzt, dass der Kantor wegen unsittlicher Handlungen an einigen Mädchen der Dorfschule entlassen wurde. Der Kantor war nun zwar weg, aber dafür boykottierte ein großer Teil der Dorfbevölkerung die Gottesdienste. Eberhard und Clara Arnold fanden einen festungsmäßig verrammelten Pfarrhof vor. Gelegentlich gingen Scheiben zu Bruch; Drohbotschaften flogen durchs Fenster.
Durch die Umstände stieg der Onkel noch in Eberhard Arnolds Achtung. Der hatte sich von einem Erwachsenen noch nie so gut verstanden gefühlt. Und noch etwas beeindruckte ihn. Er schreibt später, an seinem Onkel habe er zum ersten Mal ein lebensfrohes und mutiges Christentum gesehen, eine Liebe zu Jesus und zu den Armen, wie sie ihm vorher noch nicht begegnet sei.
Eine Episode verfolgte der Gymnasiast nur als stummer und staunender Zeuge: Ein Heilsarmeesoldat war zum Essen eingeladen. Ernst-Ferdinand Klein begrüßte ihn herzlich, nannte ihn „Bruder“ und hörte sich sehr aufmerksam und bewusst den Bericht über die „Seelenrettungsarbeit“ in den dunklen Winkeln Berlins an. Eberhard Arnold war nach eigener Aussage tiefbeeindruckt – einerseits vom Respekt des Onkels vor dem einfachen Salutisten, noch mehr aber von der Hingabe und Selbstverleugnung, die er diesem Mann abspürte.
Ebenfalls im Lauf dieser vier Wochen entdeckte er das Neue Testament. Die Evangelien vor allem. Es war ihm peinlich, wenn hereinplatzende Verwandte ihn beim Bibellesen überraschten. Noch nicht einmal mit dem Onkel wollte und konnte er über die aufgebrochenen Fragen reden. Erst beim Abschied rückte er heraus mit seiner Befürchtung, zuhause gebe es niemanden, der ihm Jesus besser erklären könnte. Ernst-Ferdinand Klein versuchte diese Sorge zu zerstreuen.
Anfang August zurück in Breslau, wurden die Geschwister getrennt bei befreundeten Familien einquartiert. Die Eltern waren mit den jüngsten Töchtern, Betty und Hannah, an die Nordsee gereist. Eberhard kam in der Familie eines älteren Professors unter. Auch dieser war bekennender Christ, allerdings sehr nüchtern, musterhaft und unbeweglich und damit nicht der ersehnte Gesprächspartner. Dafür entdeckte der Gymnasiast im Schreibtisch seines Stübchens das Buch „Nachfolge Christi“ von Thomas von Kempen. Das Werk war damals schon rund 500 Jahre alt. Eberhard Arnold erkannte darin einen Schlüssel zu den Evangelien und einen Leitfaden für ein Leben in den Spuren Jesu: „ ‚Wer mir nachfolgt, wandelt nicht in Finsternis‘, spricht der Herr. Mit diesen Worten ermahnt uns Christus, seinem Leben und seinen Sitten zu folgen, wenn wir wahrhaft erleuchtet und von aller Blindheit des Herzens befreit werden wollen. Darum muss dies unsre höchste Sorge sein, uns in das Leben Jesu Christi zu versenken …“1