Читать книгу Invisible Sue - Plötzlich unsichtbar - Markus Dietrich - Страница 6
Vergessen
ОглавлениеSue, die eigentlich Susanne Hartmann hieß, aber unter keinen Umständen so genannt werden wollte, schreckte mit leisem Aufschrei hoch. Was für eine unfassbar entfesselte Kraft. Vor ihr lag der aufgeschlagene Supermoon-Comic, ein Sammlerstück mit Alternativcover, von dem es weltweit nur einhundert Exemplare gab. Theodora hatte soeben ihre schlimmste Widersacherin Carol vom Ufer weggefegt und blickte Sue nun mit ihren großen weißen Augen an. Irgendwo in der Ferne klingelte ein Handy.
Zu oft schon hatte Sue sich gewünscht, dass auch sie verborgene Superkräfte besitzen würde. Irgendwo, tief in ihr drin versteckt. Oder dass sie eines Tages auf der Straße von einem Unbekannten angesprochen würde, der ihr sagte, dass sie eigentlich eine Elfe sei, versteckt unter Menschen. Nur mit einem Zauber belegt, der ihr Gedächtnis manipulierte. Aber bislang war niemand aufgetaucht und ihr Körper war alles andere als der einer Elfe. Erneut klingelte das Handy. Diesmal lauter und länger.
Sue sprang auf, zog ihre dunkle Kapuze tiefer in die Stirn, riss den zerfledderten Schulrucksack hoch und kramte panisch zwischen den zerknitterten Schulheftern und Comics herum. Wie spät war es? Sie hatte keine Ahnung.
Noch im Rucksack aktivierte sie ihr Telefon und rief: »Ja?«
Eine tiefe männliche Stimme meldete sich ungeduldig. »Wo steckst du?« Sue sah sich um. Der Klassenraum war leer. Keine anderen Schüler, kein Lehrer, und das spärliche Licht, das von draußen durch die Fenster drang, verhieß nichts Gutes. Es war schon wieder passiert. Sie war im Unterricht über ihrem Lieblingscomic eingeschlafen.
»Äh … ich bin gleich da.« Sue klemmte ihr Telefon hastig zwischen Kopf und Schulter und verstaute ihren kostbaren Comic im Rucksack so, dass er keine Eselsohren bekam.
»Hast du das Paket?«, fragte die Stimme.
Sue erstarrte. Mist. Das Paket. Wo hatte sie es hingelegt?
»Ja«, log sie und sah in ihrem Rucksack nach, wo es augenscheinlich nicht war. Die Stimme trieb sie ungeduldig an: »Beeil dich. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Sue rannte los. Etwas zu schwungvoll, denn mit einem unangenehm lauten Knall schlug ihr Telefon auf den Boden. Fluchend hob sie es auf. Der Riss auf ihrem Display war wieder ein Stück größer geworden. Nicht mehr lange und das Glas würde in tausend Stücke zerspringen. Von wegen Spider-App. Diese teuren Dinger waren einfach nicht für den Alltag geschaffen.
Hastig steckte sie das Telefon in die Hosentasche, angelte sich im Vorbeigehen ihre Jacke von der Garderobe und drückte mit voller Kraft die Klinke der Tür herunter.
Nichts geschah.
Sue drückte nochmal. Die Tür war abgeschlossen. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte Panik zu unterdrücken. Im Klassenzimmer eingeschlafen, die Tür verschlossen – das war der absolute Tiefpunkt dieser Woche. Hatten die Lehrer keine Aufsichtspflicht? Kraftlos klopfte sie gegen die Tür und rief: »Hallo? Hört mich jemand?«
Natürlich nicht. Die Schule musste zu diesem Zeitpunkt beinahe leer sein. Wenn sie Glück hatte, kam irgendwann der Hausmeister vorbei, bevor sie hier drinnen verhungert war. Wieder donnerte sie mit den Fäusten gegen die Tür.
»Hallo??? Ich bin hier drinnen eingesperrt …«
Schritte näherten sich. Ein Schlüssel wurde ins Schloss geschoben. Sue trat einen Schritt zurück und Frau Gunnarson, Sues junge Klassenlehrerin, öffnete.
»Susanne?«, fragte sie überrascht.
»Ich heiße Sue«, erwiderte Sue genervt.
Doch Frau Gunnarson ignorierte das wie immer.
»Ich hab dich überhaupt nicht gesehen. Warst du noch hier drin?«
Wo denn sonst?, dachte Sue. Scheinbar war sie auch für ihre Lehrerin wie für viele in der Schule einfach nur Luft. Egal ob sie hier war oder krank zu Hause, für die meisten existierte sie einfach nicht. Mal wurde sie im Sportunterricht einfach nicht aufgerufen, ein anderes Mal vergaß man sie bei der Klassenfahrt an der Raststätte. Angeblich hatte man ihr Fehlen nicht bemerkt. Auf jeden Fall blieb sie so das Hauptgesprächsthema auf der Rückfahrt, und sie musste sogar ganz vorn neben der Lehrerin sitzen, damit sich so etwas nicht wiederholte. Als wäre es ihre Schuld gewesen.
Sue hatte jetzt keine Zeit, um mit ihrer Wollpullover tragenden Lehrerin über Aufsichtspflicht zu diskutieren. Sie schob Frau Gunnarson sanft, aber bestimmt beiseite und sagte im Vorbeigehen: »Danke. Aber ich hab’s eilig.« Ausgerechnet heute komme ich mal wieder viel zu spät, dachte sie.
Hastig rannte sie den Gang entlang und verschwand im Treppenhaus.