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1.6 Plädoyer für den Begriff der »marginalisierten Jugendlichen«

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Eine weniger stigmatisierende Bezeichnung der gemeinten Gruppe anzuführen, ist jedoch nicht einfach. Eine neutrale und kritische Bezeichnung müsste nicht nur den Status beschreiben, sondern vor allem den Prozess der Entstehung der sozialen Benachteiligung, der Bildungsferne oder der Ausgrenzung hervorheben. Zudem müsste auch der Schuldgedanke auf der Seite des Signifikats, hier der spezifischen Gruppe der marginalisierten Jugendlichen, eliminiert werden. Beide Aspekte werden bei der Verwendung der bisher dargestellten und kritisierten Bezeichnungen für die Gruppe nicht berücksichtigt.

Aus diesen Gründen wird in aktuellen Publikationen eher der Begriff der »Marginalisierung« verwendet. Marginalisierung kennzeichnet die marginale Position einer Gruppe als Folge eines gesellschaftlich erzeugten, d. h. weitgehend unfreiwilligen und nicht selbst verschuldeten Prozesses. Er ist weitaus neutraler, weniger stigmatisierend, und zudem signalisiert er die Dynamik und die Prozesshaftigkeit, die erst dazu geführt haben, dass Jugendliche in eine marginale Situation gelangt sind. Vergleichbar mit dem Terminus »sozial benachteiligt« lässt sich auch der Begriff »marginalisiert« nicht nur auf Personen und Gruppen, sondern auch auf Quartiere anwenden. Lange Zeit sprach man von »sozial benachteiligten Quartieren« und meinte damit Viertel, in denen besonders viele (aber nicht nur!) sozial benachteiligte Personen und Gruppen wohnen. Ähnlich ist es auch mit marginalisierten Quartieren. Hier wohnen vielfach marginalisierte Personen und Gruppen. Dazu zählen Jugendliche und junge Heranwachsende, die von Exklusion bedroht sind oder bereits exkludiert wurden. Nicht alle Menschen in marginalisierten Quartieren sind auch selbst marginalisiert. In marginalisierten Quartieren wohnen durchaus auch wohlhabende oder gebildete Personen.Mit anderen Worten: Nicht immer deckt sich das als »marginalisiert« bezeichnete Quartier mit den dort wohnenden und als »marginalisiert« bezeichneten Personen und Gruppen. Andererseits gibt es marginalisierte Personen auch außerhalb marginalisierter Quartiere. Festzuhalten ist jedoch, dass in marginalisierten Quartieren der Anteil marginalisierter Personen überproportional hoch ist.

Köhler & König (2016) verdeutlichen im folgenden Schaubild, welche Gruppen Jugendlicher als marginalisiert bezeichnet werden können ( Abb. 1).


Abb. 1: Die Gruppen marginalisierter Jugendlicher nach Köhler und König (aus: Köhler, Anne-Sophie & König, Joachim (2016): Marginalisierte junge Menschen mit komplexen Problemlagen als Zielgruppe der Jugendsozialarbeit. Forschung, Entwicklung, Transfer – Nürnberger Hochschulschriften, Nr. 16. Nürnberg: Evangelische Hochschule Nürnberg, S. 21,https://www.nuernberg.de/imperia/md/jugendsozi alarbeit/dokumente/evhsnbg_forschung_marginalisierte-jugendliche_2.pdf)

Die dunklen Bereiche verdeutlichen die Gruppe marginalisierter Jugendlicher. Dazu gehören exkludierte bzw. ausgegrenzte, »schwer erreichbare« und auch »unsichtbare« Jugendliche. Schwer erreichbare Jugendliche sind solche, die exkludiert sind und durch Maßnahmen des Hilfesystems kaum noch angesprochen werden können, um sie zu re-inkludieren. Häufig wird ihre Exklusion dann nur noch verwaltet. Die Lebenslage unsichtbarer Jugendlicher ist Institutionen meist gar nicht bekannt, ihre Kommunikation ist stark eingeschränkt oder gar nicht vorhanden, sie sind sehr introvertiert, halten sich nur selten in der Öffentlichkeit auf und bewegen sich meist ausschließlich in virtuellen Welten bzw. in sozialen Netzwerken. Aufgrund ihrer Unsichtbarkeit sind sie überhaupt nicht mehr für Institutionen erreichbar.

Eingeschränkte Ressourcen bzw. eine Lebenslage, die durch Armut, Arbeitslosigkeit, fehlende Bildung, Krankheit der Jugendlichen selbst oder ihrer Bezugspersonen gekennzeichnet ist, können zu folgenden, von Köhler & König (2016, S. 23) aufgeführten, sozialen Problemen führen:

• übermäßiger Medienkonsum bei starker Nutzung sozialer Netzwerke,

• Freizeitgestaltung, die von Phantasie- und Interessenlosigkeit sowie von geringer Initiative für neue Angebote und geringer Bandbreite an Aktivitäten geprägt ist,

• Mangel an positiven Vorbildern und Bezugspersonen (z. B. Freund*innen, Lehrer*innen, Verwandte, Ausbilder*innen),

• Isolierungstendenzen, geringe soziale Einbindung und bewusster sozialer Rückzug prägen das Sozialverhalten,

• mangelnde und unrealistische Zukunftsvorstellungen als Ausdruck empfundener Perspektiv- und Chancenlosigkeit,

• sozial abweichendes Verhalten, Passivität und Schulverweigerung,

• Häufung lebenskritischer Ereignisse und/oder traumatischer Erfahrungen, verbunden mit Angst und Misstrauen,

• erzieherische Defizite bei Eltern und Erziehungsberechtigten,

• Abhängigkeit von Suchtmitteln und häufig psychische Erkrankungen,

• wenig Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit aufgrund häufiger Versagenserfahrungen und negativer Reaktionen durch Andere.

Hingewiesen werden muss an dieser Stelle jedoch darauf, dass solche Reaktionen auftreten können, nicht notwendigerweise auftreten müssen. Zudem gibt es durchaus marginalisierte Jugendliche, die erfolgreiche Bewältigungsformen für ihre Probleme entwickeln. Dazu gehören z. B. auch hohe Bildungsaspirationen und -erfolge oder auch Aktivitäten wie z. B. widerständige Praktiken. Betonen muss man allerdings wiederum, dass marginalisierte Jugendliche von den o. g. sozialen Problemen weitaus häufiger betroffen sind als privilegiertere Jugendliche.

Wichtig ist es hervorzuheben, dass der Begriff der Marginalisierung sowohl eine Polarisierung von Personen bzw. Gruppen als auch eine Stigmatisierung derselben impliziert. Mit andere Worten: In eine marginalisierten Lage geraten Personen und Gruppen erst, wenn neben der Polarisierung bzw. Segregation auch eine Stigmatisierung stattfindet. Die Unterscheidung dieser beiden Prozesse ist wichtig, da nicht jede segregierte Person oder Gruppe auch gleichzeitig einem Stigma unterliegt. Zudem kann der Ruf einer marginalisierten Person, einer Gruppe oder sogar eines Quartiers sich durchaus ändern3.

Als Akteurinnen und Akteure der Stigmatisierung treten immer wieder sowohl Vertreter*innen der Medien und der Politik, aber auch gesellschaftlicher Institutionen wie die Schule, das Jugendamt oder die Polizei auf. Insbesondere der gemeinsame Auftritt dieser verschiedenen Institutionen kann zur Marginalisierung bestimmter Personen und Gruppen beitragen und für diese von verheerender Bedeutung sein. Zitate konservativer Politiker*innen werden insbesondere von der Boulevard-Presse immer wieder in die Öffentlichkeit transportiert. Indem Medien durch einseitige Berichterstattung bzw. Verlautbarungen ein negatives Bild bestimmter Personen, Gruppen oder sogar Quartiere konstruieren, bilden beide Institutionen eine so genannte unheilvolle Allianz. So werden häufig die angeblich »hohe (Ausländer-)Kriminalität«, der »starke Drogenkonsum«, die »enorme Gewaltbereitschaft« bestimmter Personen und Gruppen, aber auch deren fragwürdige Werte und Normen als Schlagzeilen für die Titelseiten der Boulevard-Presse verwendet. Aber auch eine scheinbar sensiblere Berichterstattung, die Klischees und Pauschalisierungen wie »türkische Kultur«, die Bezeichnung türkischer Jugendlicher als »Machos« bzw. türkischer Frauen als »Opfer der Zwangsverheiratung« benutzt, trägt zu dieser, für marginalisierte Personen, Gruppen oder gar Quartiere unheilvollen Allianz von Medien und Politik bei. Deutlich wird hier, dass von bestimmten Medien immer wieder bestimmte Jugendliche und diese in der Regel auch nur in bestimmten Regionen bzw. städtischen Quartieren4 mit Phänomenen wie Drogen, Kriminalität und Bandentum in Verbindung gebracht werden. Jugend wird dann oft als ›Problem‹ konstruiert mit erheblichen Folgen für die Betroffenen. Hinzu kommt, dass bei den einseitigen Beschreibungen der Handlungen marginalisierter Personen und Gruppen mögliche Gründe für deren Entstehung regelmäßig vernachlässigt bzw. verzerrt wiedergegeben werden. Werden solche marginalisierte Personen, Gruppen und Quartiere von außen (z. B. durch Medien, durch politische Verlautbarungen oder auch durch die Wissenschaft) stigmatisiert, dann kann bereits die Angabe des Wohnorts bei der Jobsuche, in der Schule, bei der Polizei oder auf dem Wohnungsmarkt dazu führen, dass diese Personen in ein schlechtes Licht gerückt bzw. diskriminiert werden. Delinquente Karrieren können durch solche Prozesse forciert oder sogar angestoßen werden5.

Will man die Gründe der Marginalisierung der Jugendlichen analysieren, muss man sich die gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die Lebenslage marginalisierter Jugendlicher, aber auch deren Lebensstile bzw. sozialen Milieus genauer anschauen.

Soziale Arbeit mit marginalisierten Jugendlichen

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