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2.3 Mikrokontext: Lebensstile und soziale Milieus

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Mikrosoziologische Theorien beschäftigen sich mit den Alltagspraktiken der Menschen, also mit dem konkreten Verhalten oder Handeln der Menschen. Sie konzentrieren sich auf die Untersuchung der Lebensstile und der sozialen Milieus der Menschen. Lebensstile12 sind raum- und zeitabhängige, gruppenspezifische Arten der Lebensführung. Als Lebensstil wird »der Stil des Lebens (…) als ein geschlossenes Ganzes, (…) von dem aus alle Elemente seines Seins und Tuns einen einheitlichen, aufeinander bezüglichen Sinn erhalten«, aufgefasst (Simmel 1900). Darunter fallen z. B. gemeinsame Verhaltensweisen oder gleichartige Organisationsformen des Alltagslebens, gemeinsame Werte, Lebensvorstellungen, Lebensweisen, Interaktionsformen, Erfahrungen und Wissensbestände. Müller (1992, S. 374) benennt fünf Merkmale des Lebensstilansatzes: Ganzheitlichkeit, Freiwilligkeit, Charakter, die Verteilung von Stilisierungschancen und Stilisierungsneigung. Lebensstile implizieren sowohl ein materielles oder ökonomisches als auch ein kulturelles oder ideelles Substrat. Das materielle Substrat wird durch die soziale Herkunft, den Beruf, das Einkommen und die Vermögensverhältnisse einer Person repräsentiert, das kulturelle Substrat ergibt sich aus der sozialen Herkunft und der Familie, der Bedürfnisse, Interessen und Mentalitäten (vgl. Müller 1992, S. 377). Lebensstile werden sichtbar in vier verschiedenen Dimensionen oder Verhaltensbereichen: dem expressiven Verhalten (Freizeitverhalten und Konsummuster), dem interaktiven Verhalten (Wahl sozialer Netzwerke und Beziehungen, auch Mediennutzung), dem evaluativen Verhalten (Wertorientierungen und Einstellungen, Haltung zu Religion und Politik) und dem kognitiven Verhalten (Selbstidentifikation, Wahrnehmung und Zugehörigkeit zur sozialen Welt) (vgl. Müller 1992, S. 377ff.). Lebensstile implizieren ein gewisses Maß an Wahl- und Gestaltungsfreiheit. Das Ausmaß der Gestaltungsfreiheit variiert vor dem Hintergrund der Entwicklung und Veränderung sozio-ökonomischer Verhältnisse. Im Vergleich zur Nachkriegszeit gibt es heute zweifellos mehr Möglichkeiten für alle; dennoch ist diese Wahlfreiheit nach wie vor stark schichtabhängig.

Nach Bourdieu (1983, S. 277ff.) sind Lebensstile eine Art Medium zwischen gesellschaftlicher Struktur und individuellem Handeln. Lebensstile präsentieren sich nach Bourdieu als ein Konglomerat, das durch das jeweilige ökonomische Kapital (Einkommen, Vermögen und Besitz), soziale Kapital (soziale Beziehungen) und kulturelle Kapital (Wissen und Bildung) der Person definiert ist. Es konkretisiert sich im Geschmack (im ästhetischen Sinne) der Person, mit dem Ziel, die Grenze oder Linie zwischen intersubjektiver In- und Exklusion aufzuzeigen. Der Geschmack signalisiert gleichzeitig die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe und die Distanz zu anderen Gruppen. Inszenierung und Distinktion sind die wichtigsten Mittel der Präsentation des Lebensstils.

Während sich Lebensstile auf Individuen beziehen, werden soziale Milieus als eine Gruppe von Menschen mit ähnlichen Lebensstilen definiert (vgl. Blasius 1994, S. 237). Soziale Milieus sind »Wertegruppierungen«, Gruppen mit ähnlichen Prinzipien der Lebensgestaltung, mit vergleichbaren Mentalitäten und Denk- bzw. Verhaltensweisen. Sie vermitteln »(…) durch Abgrenzung und Grenzerhaltung ein Gefühl sozialer Zugehörigkeit, vielleicht in verschiedenen Gradabstufungen eine Kollektividentität, die aber intern lose strukturiert ist: eine Kollektividentität ohne Kollektivbewusstsein« (Michailow 1994, S. 43, kursiv i. Orig.). In sozialen Milieus sammeln sich Menschen mit ähnlichem Einkommen, verschiedenen, jedoch auf ähnlichem Niveau befindlichen Berufen und mit vergleichbaren Bildungsqualifikationen. Es gibt weder eine völlige Unabhängigkeit noch eine absolute Deckungsgleichheit der sozialen Milieus mit der Schichtzugehörigkeit (vgl. Hofmann & Rink 1996, S. 190). Die Milieuzugehörigkeit ist aus Sicht des Individuums zwar nicht unendlich bindend, aber relativ veränderungsresistent. Die Bedeutung der Milieuzugehörigkeit für die einzelne Person ist zudem vor dem Hintergrund altersspezifischer Stilisierungsneigung auch stark altersabhängig, d. h. vor allem ein Bedürfnis Jugendlicher und Erwachsener, weniger von Kindern und älteren Personen (vgl. Müller 1992, S. 376).

Bourdieu (1997) bezeichnet das entscheidende Bindeglied zwischen gesellschaftlichen Strukturen und den Alltagspraktiken der Individuen als Habitus. Habitus ist demnach eine strukturierende Struktur (Struktur und Strukturierung), also eine Orientierung, innerhalb derer Handlungen getätigt werden (können und müssen). Im Zuge der Lebenszeit verfestigten sich diese inkorporierten Strukturen sogar dann noch, wenn sich die Kapitalformen oder Existenzbedingungen verändert haben. Der Habitus verfügt somit über eine in die Zukunft gerichtete Komponente, weil er aus der Vergangenheit über die erworbenen Erfahrungen in die Gegenwart hineinwirkt.

Diese individuellen, subjektiven Dispositionen, Präferenzen und Aspirationen sind auf einen jeweils besonderen sozialen Ort abgestimmt bzw. einem sozialen Milieu zugehörig. Der Habitus ähnelt somit dem Lebensstil, d. h., mittels des Lebensstils versuchen Menschen, Alltagspraktiken für den Umgang mit den entsprechenden Kapitalformen zu entwickeln oder mögliche Probleme, die sich aus bestimmten Kapitalformen ergeben, zu bewältigen. Armut, Krankheit, geringe Bildungsqualifikationen und Wohnungsprobleme können Lebenskrisen auslösen, die die Menschen zwingen, dafür geeignete Bewältigungsformen zu entwickeln. Soziale Milieus sind somit soziale Netzwerke von Menschen mit einem ähnlichen Habitus. Sie verfügen über ähnliche Alltagspraktiken, um die unterschiedlichen Aspekte der Lebenslage zu bewältigen. Menschen, die das alleine nicht schaffen, sind auf Hilfe angewiesen: Damit tritt die Soziale Arbeit auf den Plan. Ihre Funktion ist es, Menschen in prekären oder marginalisierten Lebenslagen zu unterstützen, vorausgesetzt, sie wollen diese Unterstützung auch tatsächlich nutzen.

Soziale Arbeit mit marginalisierten Jugendlichen

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