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1.2 Der Begriff der »sozialen Benachteiligung«
ОглавлениеDer Begriff der »sozialen Benachteiligung« steht in engem Zusammenhang mit dem Begriff der sozialen Ungleichheit. Aspekte der sozialen Ungleichheit wie Armut und Reichtum, rechtliche Einschränkungen und Privilegien, geringer und hoher Bildungsstatus, Krankheit und Gesundheit bilden die exogenen Faktoren,die Auswirkungen auf die Entwicklung der personalen Identität und das Selbstbild des Menschen haben. Armut, rechtliche Benachteiligung, geringe Bildungsqualifikation und Krankheit fördern somit die Entwicklung eines negativen Selbstbilds. Benachteiligungsfaktoren können auch kumulieren, sich gegenseitig bedingen und selbstverstärkende Verläufe in Gang setzen und damit die Entwicklung einer positiven Identität zusätzlich gefährden. Eine gelingende Lebensbewältigung ist dadurch gefährdet, so dass sozial benachteiligte Jugendliche häufig einen erhöhten Bedarf an sozialen Unterstützungsleistungen haben.
Der Begriff impliziert somit einerseits eine objektiv messbare und eine subjektive Komponente. Die objektive Seite sozialer Benachteiligung beschreibt Personen bzw. einzelne Gruppen mit niedrigen gesellschaftlichen Statuspositionen, deren Zugang zu wertvollen Ressourcen bzw. zu gesellschaftlicher Teilhabe und zur Erreichung bestimmter Ziele eingeschränkt ist (vgl. Stimmer 2000). Auch das Recht kennt den Begriff der »sozialen Benachteiligung«. Im § 13 SGB VIII Absatz 1 und 2 werden zwei Arten von Benachteiligungen von jungen Menschen unterschieden:
»1) die strukturelle soziale Benachteiligung: Davon betroffen sind junge Menschen, die aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe in ihren persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten, in ihrem Zugang zu Bildung, Ausbildung und Beruf sowie allgemein in ihrer Teilhabe an der Gesellschaft systematisch eingeschränkt werden; 2) die individuelle Beeinträchtigung: Als individuell beeinträchtigt werden junge Menschen angesehen, wenn persönliche Merkmale es ihnen erschweren, bestimmte, für ihre Entwicklung und die gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft wichtige psychische, kognitive oder soziale Anforderungen zu erfüllen«.
Soziale und individuelle Benachteiligung beeinflussen sich gegenseitig. Armut, geringe Bildungsqualifikation und Krankheit beeinflussen das Selbstbild; ein negatives Selbstbild kann wiederum Armut, geringe Bildungsmotivation und Krankheit begünstigen.
Im Kontext des Capability-Approach (vgl. Sen 1993) lässt sich soziale Benachteiligung als Mangel an Verwirklichungschancen beschreiben. Verwirklichungschancen spiegeln ein Bündel an Fähigkeiten wider, das als Ganzes eine Person in die Lage versetzt, ein erfüllendes Leben zu führen. Dazu gehören z. B. sich ausreichend ernähren, am gesellschaftlichen Leben partizipieren, über eine Wohnung und Kleidung verfügen, sich ohne Scham in der Öffentlichkeit zeigen und seine Meinung frei äußern zu können. Armut, Krankheit, rechtliche Diskriminierung jeder Art und geringe Bildungsqualifikation schränken diese Verwirklichungschancen ein, sie führen zu einem Mangel an Teilhabechancen.
Aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht (vgl. Schlack 2003) kann eine soziale Benachteiligung auch eintreten, wenn die seelischen und körperlichen Grundbedürfnisse wegen ungünstiger äußerer Lebensbedingungen nicht oder nur unzureichend befriedigt und dadurch die Gesundheit und Entwicklung des Kindes beeinträchtigt werden. Soziale Benachteiligung ist somit auch eine Folge von Mängeln der primären Sozialisation und der Interaktion des Kindes mit seinen Bezugspersonen. Das Risiko dieser Form sozialer Benachteiligung nimmt jedoch mit dem Grad der sozialen Stressbelastung zu, und der sozioökonomische Status ist dafür ausschlaggebend. Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status schneiden bezüglich Mortalität, Morbidität und gesundheitsbezogener Lebensqualität statistisch gesehen deutlich schlechter ab als Kinder aus sozioökonomisch besser gestellten Familien.
Von immer größerer Bedeutung für die soziale Entwicklung und damit Indiz für soziale Benachteiligungen sind nicht nur die erwähnten Faktoren sozialer Ungleichheit, sondern auch der Wohnort bzw. die Region, in der der junge Mensch aufwächst: Strukturschwäche, die sich z. B. in Abwanderung (wie in einigen östlichen Bundesländern) und hoher Arbeitslosigkeit äußern kann, bedeuten geringere Zukunftsaussichten für junge Menschen.
Lange Zeit wurde die Zielgruppe als sozial benachteiligt (vgl. Korte 2006) mit möglichen Schwerpunkten auf Markt-, Rechts- oder Lernbenachteiligung oder als Träger von »Risikobiographien« bezeichnet (Büchner 2001; Spies & Tredop 2006). Der umstrittene Begriff der sozialen Benachteiligung (vgl. Geßner 2004) hat schließlich auch die Einführung zielgruppenspezifischer Angebote legitimiert. In Deutschland geschah dies sogar in institutionalisierter Form, z. B. durch die Gründung einer eigenen Schulform, die ehemals als Sonder- und nun als Förderschule bezeichnete Schule für Kinder und Jugendliche, die als sozial benachteiligt eingestuft worden sind. Auch im außerschulischen Bereich hat der Begriff mitunter bewirkt, dass zielgruppenspezifische Maßnahmen z. B. der Jugend- oder der Migrationssozialarbeit entwickelt wurden und nach wie vor angeboten werden. Der Haken dieser Programme ist häufig, dass sie über den Charakter der besonderen Förderung (positive Diskriminierung) die angesprochenen Zielgruppen stigmatisieren und somit das Problem einer institutionalisierten Diskriminierung »verlängern« (vgl. Bommes 1996, S. 44). Spätestens hier wird deutlich, dass der Begriff eine gesellschaftliche Konstruktion ist, die für die Betroffenen negative Auswirkungen haben kann.