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2.1 Makrokontext: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen

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Im Kontext der makrosoziologischen Perspektive sind zunächst die aktuellen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu analysieren. Moderne Gesellschaften kennzeichnen sich zunächst durch funktionale Differenzierung und durch ein Reflexiv-Werden. Damit verbunden sind die Rahmenbedingungen der Individualisierung, der Pluralisierung und der Globalisierung.

Zunächst ist festzustellen, dass moderne Gesellschaften sich durch eine funktionale Differenzierung kennzeichnen. Die Theorie funktionaler Differenzierung geht auf die systemtheoretischen Überlegungen Parsons und später Luhmanns zurück. Moderne Gesellschaften verändern sich ständig und werden angetrieben von zunehmender Komplexität. Historisch betrachtet, wurden in frühesten Gesellschaften Differenzierungen nach Geschlecht und Alter hierarchisiert. In archaischen Gesellschaften erfolgten Differenzierungen durch verschiedene Segmente (Familien, Clans, Dörfer), zwischen denen es kein soziales Gefälle gab. In der frühen Neuzeit wurden hierarchische Differenzierungen in Form von Schichtzugehörigkeiten (Stratifikation) sowie durch Zugehörigkeit in Zentrum und Peripherie abgelöst. Mit zunehmender Komplexität der Gesellschaft wurden diese frühen Formen der Differenzierung immer stärker durch funktionale Differenzierungen ersetzt. Allerdings werden Stratifikationen nicht komplett durch funktionale Differenzierung ersetzt, sondern sind nach wie vor existent. So existieren nach wie vor Formen stratifikatorischer Differenzierung z. B. in Form von sozialer Ungleichheit, aber auch als Differenzierung der Bedeutung von Nationalstaaten (in der Politik), Unternehmen (in der Wirtschaft) oder von Schulen (im Bildungssystem) etc. Die Systemtheorie versteht unter funktionaler Differenzierung (vgl. Luhmann 1984), dass jedes Subsystem Gesellschaft nur unter seinem spezifischen Blickwinkel beobachtet. Das Teilsystem der Wirtschaft betrachtet Gesellschaft nur hinsichtlich ökonomischer Prozesse, das Rechtssystem nur in Bezug auf juristische Phänomene und die Wissenschaft ausschließlich, ob Sachverhalte oder Prozesse wahr oder falsch sind. Zudem werden die gesellschaftlichen Funktionssysteme wie Recht, Arbeit, Wohnen, Gesundheit, Bildung, Wissenschaft und auch die Soziale Arbeit immer komplexer und spezieller. Das Rechtssystem fächert sich auf in zahlreiche, spezielle Rechtsgebiete (Arbeitsrecht, Familienrecht, Strafrecht etc.), für die speziell ausgebildete Expert*innen zuständig sind.

Ein weiteres Kennzeichen moderner Gesellschaften ist das Reflexiv-Werden der Gesellschaft. Damit ist gemeint, dass die Existenz der aus der »ersten Moderne« (Beck, Giddens & Lash 1996) hervorgegangenen Risiken (wie z. B. der Klimawandel) in der »zweiten, reflexiven Moderne« erkannt, analysiert und bekämpft werden müssen (vgl. auch Beck & Bonß 2001). Die Theorie reflexiver Modernisierung zeigt auf, dass die erste, industrielle Moderne erhebliche Nebenfolgen bewirkt, die ihre eigenen institutionellen Grundlagen gefährden und somit zu politischem Handeln zwingen. Dies entspricht nach Beck einer Selbstkonfrontation von Modernisierungsfolgen mit den Modernisierungsgrundlagen und charakterisiert die zweite Moderne als Risikogesellschaft:

»Die Konstellationen der Risikogesellschaft werden erzeugt, weil im Denken und Handeln der Menschen und der Institutionen die Selbstverständlichkeiten der Industriegesellschaft (der Fortschrittskonsens, die Abstraktion von ökologischen Folgen und Gefahren, der Kontrolloptimismus) dominieren. Die Risikogesellschaft ist keine Option, die im Zuge politischer Auseinandersetzungen gewählt oder verworfen werden könnte. Sie entsteht im Selbstlauf verselbständigter, folgenblinder, gefahrentauber Modernisierungsprozesse. Diese erzeugen in der Summe und Latenz Selbstgefährdungen, die die Grundlagen der Industriegesellschaft in Frage stellen, aufheben, verändern« (Beck 1993, S. 36).

Die Forderung nach dem Umbau der Gesellschaft in Richtung ökologischer, ökonomischer, kultureller und sozialer Nachhaltigkeit erreicht inzwischen alle gesellschaftlichen Funktionssysteme in zunehmendem Maße.

Zu den weiteren Rahmenbedingungen moderner Gesellschaften gehören Aspekte wie Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung und deren Zusammenspiel.

Die These der Individualisierung moderner Gesellschaften ist vor allem von Beck (1986, S. 205ff.) aufgenommen und weiterentwickelt worden. Dem Autor gemäß ist nach dem Zweiten Weltkrieg ein neuer Modus der Vergesellschaftung aufgetaucht: die Individualisierung. Zunächst bedeutet er nichts anderes als Enttraditionalisierung. Die lange Zeit gültigen sozialen Kontrollnetze mit einer klaren und geschlossenen Weltanschauung und funktionierenden Autoritätsverhältnissen werden zugunsten eines Zuwachses an neuen Optionen, Freiheiten, Wahlmöglichkeiten und Chancen einer individuellen Lebensgestaltung abgelöst. Zwar gab es bereits in der Renaissance, in der höfischen Kultur des Mittelalters und im Protestantismus individualisierte Lebensstile. Allerdings nimmt die Individualisierung jetzt eine neue Gestalt und vor allem ein neues Ausmaß an.

Eine weitere wichtige Rahmenbedingung gegenwärtiger Zivilgesellschaften ist die Pluralisierung. Sie bezieht sich nach Beck (ebd., S. 161ff.) auf die Vervielfältigung der Formen sozialer Beziehungen6 und auf Lebensstile und ist mit der Individualisierung eng verbunden7. Die Pluralisierung der Beziehungsformen zeigt sich durch die Entstehung zahlreicher alternativer oder neuer Partnerschaftsformen. Single-Haushalte, nicht-eheliche Gemeinschaften, homosexuelle Paare, Lebensabschnittsgemeinschaften, Ein-Eltern-Familien, Familien mit Kindern, Ehen ohne Kinder, Zweck- und ›Sinn‹-Wohngemeinschaften treten neben die bislang statistisch gesehen am häufigsten anzutreffende Familie mit zwei Kindern, wie sie von Parsons (1956) noch als mehr oder weniger allgemeingültige »Normalfamilie« beschrieben worden ist. Während diese neuen Lebensformen für die inzwischen erwachsene Generation noch neu waren, wachsen Jugendliche heutzutage mit ihnen auf, d. h., sie empfinden sie als zum Alltag gehörend und nicht mehr als außergewöhnlich.

Als eine weitere gesellschaftliche Rahmenbedingung ist die Globalisierung anzuführen. Unter Globalisierung ist zunächst eine weltweite Verflechtung einzelner Subsysteme wie der Wirtschaft, der Wissenschaften, der Politik, der Medien und der Kultur zu verstehen. Diese Verflechtungen beziehen sich auf Staaten, Gesellschaften, Institutionen, Gruppen und Individuen. Historisch gesehen ist es wichtig zu sehen, dass Globalisierung nicht erst in diesem Jahrhundert erfunden wurde. Bereits im 15. und 16. Jahrhundert und spätestens im Zuge der Industrialisierung, der Arbeitsteilung und der Herausbildung des Kapitalismus als hegemonialer (Welt-)Wirtschaftsform werden wirtschaftliche Prozesse internationalisiert (vgl. Braudel 1986). Die damals entstehenden Formen des zweckrational geleiteten Wirtschaftshandelns bestimmen noch immer das Marktgeschehen, das sich aus Konkurrenzdruck, Innovationsdynamik, Rationalisierung und Werbung zusammensetzt, nur heute eben in einer globaleren Dimension und kaum noch durch politische, sondern fast nur noch durch ökonomische Macht gesteuert (vgl. Wallerstein 1974). Um das Ausmaß tatsächlicher Globalisierungstendenzen ausfindig zu machen, ist es erforderlich, Globalisierung in ihrer Vieldimensionalität8 zu begreifen, d. h. die Ausdifferenzierung der einzelnen Subsysteme in ihrer Komplexität und in ihrer Reziprozität zu interpretieren. Globalisierung ist eben deshalb so aktuell und effektiv, weil sie in immer mehr gesellschaftliche Subsysteme vordringt, dort die Strukturen verändert und somit Veränderungen für andere Subsysteme und Institutionen bewirkt. Diese Entwicklungen haben auch erhebliche Auswirkungen auf die Lebenslagen und Lebensstile Jugendlicher.

Im Umgang mit diesen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unterscheiden sich demokratische Gesellschaften mit einer stabilen Gewaltenteilung zwischen Legislative, Judikative und Exekutive erheblich von totalitären Gesellschaften, in denen die staatliche Gewalt in den Händen Weniger oder sogar nur einer Person konzentriert ist. Bemerkbar machen sich diese Differenzen auch zwischen Gesellschaften, die demokratisch legitimiert sind und rechtsstaatliche Verhältnisse tatsächlich schützen, und denjenigen Gesellschaften, die zwar demokratisch legitimiert sind, jedoch versuchen, diese Gewaltenteilung zu reduzieren oder gar außer Kraft zu setzen9.

Soziale Arbeit mit marginalisierten Jugendlichen

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