Читать книгу Warum die Schweiz reich geworden ist - Markus Somm - Страница 11

Warum Textilien?

Оглавление

Nirgendwo gab es vielleicht mehr Anreize für potenzielle Verleger, sich vom Zunftzwang zu befreien, als in der Textilproduktion. Wer innovativ war, wer Mut hatte, wer den Streit mit den Zünften nicht scheute, konnte mit Textilien reich werden. Sehr reich. Das lag an den besonderen Eigen­schaften dieses Produktes. Um das zu verstehen, ist es nötig, sich gewissermassen auf die Urgeschichte der Bekleidung einzulassen. Nur im Wissen darum ist die Entwicklung der modernen Textilindustrie zu erklären – auch in der Schweiz.

Neben Lebensmitteln waren (und sind) Textilien wohl die wichtigsten, da unverzichtbaren Güter des täglichen Bedarfs. Die einen stillen Hunger und Durst, die anderen bieten Schutz vor Kälte und Hitze. Ohne sie kann der Mensch nicht überleben. Wir brauchen sie jahrein, jahraus; wir können nie über längere Zeit ohne Nachschub auskommen. Was bei Lebensmitteln offensichtlich ist, wird bei Textilien deutlich, wenn wir an alle übrigen gewerblichen Produkte denken, die der Mensch in früheren Epochen benötigte. Ob ein Tisch, ein Pflug, eine Waffe oder ein Kupfer­topf: Diese Dinge schaffte man höchstens einmal an, bis sie nach Jahr­zehnten des Gebrauchs möglicherweise zu ersetzen waren. Oft wurden sie gar vererbt. Kleider dagegen zerschlissen, zerrissen, trugen sich ab, so dass man sie viel öfter erneuern musste. Weil wir alle ständig auf Lebensmittel und auf Textilien angewiesen sind, hat es sich schon immer um Massen­güter gehandelt, streng genommen sollte es möglich sein, schier unendlich viele Menschen damit zu beliefern. Unbegrenzt war nie die Nachfrage, sondern das mögliche Angebot.

Hier bestand von alters her ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Produkten. Die meisten Lebensmittel verderben ziemlich rasch oder werden Beute von Schädlingen, insbesondere Frischwaren, weshalb sich deren Produktion, Vertrieb und Vermarktung bis ins 19. Jahrhundert nur schwer industrialisieren liessen: Kritisch war immer der Transport. Wenn es zu lange ging, kam die Ware ungeniessbar an. Erst die Eisenbah­nen und die Dampfschiffe, die sich im Zuge der industriellen Revolution ab 1820 durchsetzten, entschärften dieses Dilemma; selbstverständlich leisteten auch die einige Jahrzehnte später erfundenen künstlichen Kühl­anlagen einen entscheidenden Beitrag dazu. Vorher liessen sich viele Le­bens­mittel kaum konservieren.

Im Gegensatz zu Lebensmitteln altern Textilien langsam, sie sind kaum verderblich, und sie lassen sich daher um den halben Globus verfrachten, ohne dass deren Qualität je litte, ausserdem sind sie leicht, was den Transport zusätzlich vereinfacht und verbilligt. Hinzu kommt ein weiterer Vorzug: Es erwies sich als vergleichsweise problemlos, Textilien für einen Massenmarkt zu produzieren, sobald die Arbeit intelligent organisiert wurde – wie es das Verlagssystem leistete. Das einzige Hindernis, das es noch wegzuräumen galt, stellten die Vorschriften der Zünfte dar.

In der Landwirtschaft fiel das ungleich schwerer – aus politischen, rechtlichen, aber auch wirtschaftlichen Gründen –, wir sprechen vom Eu­ropa des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Gewiss, in der Antike wurde etwa Getreide durchaus für einen Massenmarkt angebaut, um die damaligen Millionenstädte Rom und Konstantinopel zu versorgen. Das meiste Getreide stammte aus Ägypten, der Kornkammer des Römischen Rei­ches, sowie aus Nordafrika und Sizilien. Hier wurde das Korn allerdings in riesigen Be­trieben gewonnen, sogenannten Latifundien, also Guts­höfen im Bes­itz von vermögenden Aristokraten, wozu man Tausende von Sklaven ein­­setzte.

Es waren Dimensionen der Plantagenwirtschaft entstanden, wie sie in Europa eigentlich nie mehr wiederkehren sollten. Vielmehr glichen die römischen Latifundien den Plantagen, die die Europäer dann in Ame­­rika einführten und mit afrikanischen Sklaven betrieben. Brutal und unmenschlich waren beide Institutionen, die antike wie die moderne Skla­verei, und beide produzierten in hohem Masse für den Markt. Wenn sich übrigens im Fall des ägyptischen Getreideexportes das Prob­lem der Halt­barkeit von landwirtschaftlichen Gütern etwas weniger dramatisch darstellte, dann lag das auch daran, dass der Transport vom Nil über das Meer nach Rom führte. Das dauerte zwar noch lange genug, aber immerhin verfaulte das Korn seltener. Dafür schlugen Mäuse, Ratten und alle übrigen Schädlinge zu. Sie sollen jeweils bis zu 30 Prozent des Getreides weggefressen haben. Je mehr Zeit die Überfahrt in An­spruch nahm, desto weniger Korn kam in Rom an.

Es gibt noch einen weiteren Grund, warum Textilien zu einem der ältesten Handelsgüter schlechthin zählen. Sie sind lebensnotwendig, ohne Frage, aber es haftet ihnen paradoxerweise auch etwas scheinbar Über­flüssiges, etwas Frivoles an: Sie stillen genauso das Bedürfnis nach sozialer Distinktion, das die Menschen bewegt. Kleider machen Leute. Textilien gelten von jeher als Gebrauchs- und Luxuswaren zugleich. Wenn ein König seinen Rang heraushob, dann gerne auch mit bestimmten Stoffen oder Pelzen, manchmal allein mit deren Farbe. Purpurrot etwa, ein in der Natur sehr rarer, leuchtender Farbstoff, den man unter erheblichem Auf­wand aus der Purpurschnecke zog, war im antiken Rom den Senatoren vorbehalten, dann den römischen Kaisern, den mittelalterlichen Kaisern ebenfalls, schliesslich dem Papst und den Kardinälen.

Kleiderordnungen legten Hierarchien fest. Was den Königen recht war, war den Untertanen billig. Seide, teure Pelze, eine feine Verarbeitung, eine ungewöhnliche Glätte oder höherer Tragkomfort: Wer es sich leisten konnte, gönnte sich etwas Besseres, das oft nur auf dem Markt erhältlich war und das häufig genug aus einem fremden Land von weit her importiert werden musste. Seide stammte ursprünglich aus China, Baumwolle bezog man zuerst aus Indien und dem Nahen Osten, Pelze aus Russland und Sibirien, Wolle aus England.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Textilien stets die Aufmerksamkeit von Kaufleuten erregt haben. Einige der berühmtesten kapitalistischen Dynastien Europas wie etwa die Medici in Florenz oder die Fugger in Augsburg machten ihre ersten Vermögen mit dem Kauf und Verkauf von Textilien. Mit Stoffen liess sich handeln und viel Geld verdienen, zumal bei einer gewissen Klientel, den Mächtigen und den Reichen – was in jenen frühen Zeiten eine Voraussetzung war, dass ein Kaufmann sich überhaupt dafür interessierte. Warum hätte er sich sonst darauf einlassen sollen? Der Fernhandel barg so viele Risiken, dass man nur Güter über weite Distanzen verschickte, die einen sehr hohen Profit abwarfen: also äusserst begehrte Luxusgüter oder unentbehrliche, aber seltene Roh­stoffe wie Gewürze, Gold und Kupfer, Perlen, Elfenbein, Bernstein oder Drogen. Auch Sklaven gehörten dazu. Mit anderen Worten, dass der Kaufmann sich irgendwann in die Produktion von Textilien drängen würde, hatte etwas Zwangsläufiges. Er kannte die Abnehmer, er kannte die Produzenten, er kannte die Renditen. Was ihm zunächst noch fehlte, war der Massenmarkt, der Textilien in grosser Zahl aufnahm. Nur dann lohnte es sich für den Kaufmann, sich auch um die Produktion zu küm­mern.

Masse oder Klasse? Ob sich für Textilien ein Massenmarkt herausbildete, hing einzig davon ab, wie viele Menschen sich in der Lage sahen, für ihre Kleider zu bezahlen. Über grosse Strecken der Menschheitsgeschichte war das nicht der Fall gewesen, die meisten Männer und Frauen fertigten ihre Kleider selbst. Dazu benutzten sie in der Regel Flachs, den man anpflanzte und dann zu Leinen verarbeitete, oder Baumwolle, wo das Gleiche geschah, sowie Wolle, die man von verschiedenen Tieren gewann, in erster Linie aber von Schafen.

Sobald jedoch grosse Städte und komplexere Zivilisationen heranwuchsen, gab es zusehends mehr Menschen, die ihre Kleider nicht mehr selber herstellen wollten oder konnten. Je urbaner und arbeitsteiliger eine Gesellschaft sich entwickelte, desto mehr stieg die Nachfrage nach edleren oder praktischeren Stoffen, die man auf dem Markt erwarb, produziert von darauf spezialisierten Spinnern, Webern und Schneidern, oft unter geradezu industriellen Produktionsbedingungen.

Auch die Textilindustrie ist so gesehen uralt. Es dürfte sie schon vor viertausend Jahren in Babylon und Ninive in Mesopotamien oder im alten Ägypten gegeben haben, genauso wie wir sie im antiken Grie­chen­land, in Rom oder im alten China vorfinden. Weder aber, das sollte diese Vorläufer von der modernen Textilindustrie unterscheiden, weitete sie sich derart überwältigend aus wie in Europa seit dem späten Mittelalter, noch gab es je ernsthafte Ansätze zur Mechanisierung, wie dies Ende des 18. Jahr­hunderts in England anfing. Diese industrielle Revolution war einzigartig. Nur im Westen trat sie zunächst auf, bevor sie die ganze Welt erfasste.

Warum die Schweiz reich geworden ist

Подняться наверх