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Inseln des Kapitalismus in einem Meer der Landwirtschaft

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Günstige Bedingungen, so stellte sich bald heraus, hiess vorweg: Den Zünf­­ten gelang es nicht, den Verlegern das Geschäft zu vergällen, ja es gab wenige Orte in Europa, wo dies den Zünften und den Behörden, auf die sie sich stützten, so gründlich misslang wie in der alten Eidgenossen­schaft. Hier triumphierte am Ende die Verlagsindustrie, als hätte es nie irgendeine Zunft gegeben. Das hatte sehr viel mit den Eigenheiten dieses kuriosen Landes in den Alpen zu tun.

Damit keine Missverständnisse entstehen: Die Schweiz war keineswegs das einzige Land, wo sich in den kommenden Jahrhunderten das Verlagssystem festsetzen sollte, ganz im Gegenteil, in gewissen Gegenden war es sehr viel früher in Erscheinung getreten.

Was die Schweiz aber auszeichnete, war eine ausserordentliche Dichte an Verlegern und «verlegten» Heimarbeitern. Fast jede Region war davon betroffen, insgesamt war das Land der Hirten und Bauern spätestens im frühen 18. Jahrhundert zu einem Industrieland geworden – als dies Jacques Savary des Brûlons auffiel und er, der französische Generalinspektor des Zolles, es deshalb in seinem «Lexikon des Handels» notierte. Ein bisschen irrte er sich: Es war nicht Zürich allein, sondern ein grosser Teil der Schweiz war «Peru» geworden.

Wenn hier allerdings der Eindruck erweckt worden wäre, dass es sich beim Durchbruch des Verlagssystems um einen zielgerichteten, allgemeinen und vor allem unumkehrbaren Prozess gehandelt habe, dann gäbe dies die Realität nicht angemessen wieder. Vielmehr breitete sich diese neue, kapitalistische Produktionsweise je nach Region und Epoche unterschiedlich rasch und erfolgreich aus. Ebenso hielten sich Mischformen und Über­gangs­­regimes, das Verlagssystem war nie eine einheitliche, gar regulierte oder alternativlose Einrichtung, keine Beschreibung wäre falscher: Sofern das Verlagssystem sich überhaupt entfaltete, stellte es die Ausnahme dar, nicht die Regel. Nur in bestimmten Regionen Europas setzte es sich durch, während die übrigen davon unberührt blieben. Zum Teil bis ins 19. Jahr­hundert lebten dort die meisten Menschen von der traditionellen Land­wirtschaft oder vom herkömmlichen Handwerk. Wo das Verlagssystem aber heraufzog, wälzte es die betroffenen Gesellschaften in einem Ausmass um, wie man das zuvor nie gekannt hatte.

Es waren Inseln des Kapitalismus, diese modern anmutenden Gewer­be­­regionen in Europa, in einem Meer der Subsistenzwirtschaft. Die wichtigsten lagen zu Beginn in Italien und Flandern, später – hauptsächlich im 17. und 18. Jahrhundert – tauchte die Textilindustrie und das damit verbundene Verlagssystem auch in anderen Gebieten auf: namentlich Sach­sen, in einzelnen Bezirken von Böhmen und Schlesien, ferner im Tal der Wupper, vorab in Barmen und Elberfeld (der heutigen Grossstadt Wupper­tal). Weiter im Bergischen Land und am Niederrhein im Westen von Deutschland, darüber hinaus im Elsass und in Nord­frankreich. Last, but not least in England, vor allen Dingen in der Graf­schaft Lancashire – und eben in grossen Teilen der Schweiz.

Alles blieb in Bewegung. Im Lauf der Jahrhunderte wandelte sich dieses grob skizzierte Bild der europäischen Wirtschaftsgeografie laufend um. Manche Regionen blieben auf Dauer konkurrenzfähig, andere verarm­ten, ohne dass immer ganz schlüssig zu erklären wäre, worauf dies zurückzuführen war. Aufstieg und Fall ganzer Landstriche, Triumph und Elend der Völker kennzeichneten jedenfalls die Geschichte des Verlags­systems.

Die Menschen, die daraufsetzten, wussten nie, wie lange der Auf­schwung anhielt, wie lange sie von dieser frühen Industrie leben konnten. Erschien Norditalien noch im 15. und 16. Jahrhundert unübertroffen, was die Modernität seines Gewerbes anbelangte, so stieg es in der Folge ab und sollte erst im 19. Jahrhundert wieder den Anschluss finden, ein ähnliches Schicksal erlitt Flandern oder geraume Zeit später das Elsass und Schlesien, wogegen der Schweiz ein erstaunlich beständiger Erfolg beschieden war.

Oft hatte sich der Wandel wie ein Gewitter über einem Landstrich entladen, plötzlich, blitzartig änderte sich alles, manchmal lösten bloss ein paar Unternehmer das aus, wenn nicht eine einzige Person: «Im Jahr 1714 versuchte ein Glarner, seiner Magd und einigen Armen das Baumwoll­spinnen zu lehren; es verbreitete sich und erwuchs zuletzt zum wichtigsten Erwerbszweig des ganzen Landes»1, berichtete Johann Gottfried Ebel 1797 in seinem Reisebuch über die Schweiz.

Eigentlich war es ein Zürcher gewesen, Andreas Heidegger, ein reformierter Pfarrer, der nach Glarus gewählt worden war und dort nichts als Armut antraf. Der Kanton befand sich wirtschaftlich am Ende. Not, Ar­beits­losigkeit, Auswanderung plagten das Land, so dass Heidegger nach einem Ausweg für die Leute seiner neuen Kirchgemeinde suchte. Aus­gerechnet der Zürcher hinterging zu diesem Zweck seine Heimatstadt: Er liess heimlich Spinnerinnen aus Zürich kommen, damit diese den Glar­nern ihr Handwerk beibrachten. Das lag freilich gar nicht im Interesse von Zü­rich. Hatten sich die Behörden nicht seit Jahren bemüht, mit strengsten Gesetzen jeden Export von Fachwissen zu unterbinden? Heidegger kümmerte das wenig. Und so lernten die Glarnerinnen und Glarner innert kürzester Zeit das Spinnen, ja sie beherrschten es bald so gut, dass sie ihr Garn sogar nach Zürich lieferten – als ob es ihnen darum gegangen wäre, die Zürcher vollends zu demütigen. Heidegger machte später übrigens trotzdem Kar­­riere in Zürich. Er wurde zuerst Diakon, dann Pfarrer an der Prediger­kirche.

Wie es danach im Glarnerland weiterging, erzählte Ebel: «Auf das Spinnen der Baumwolle folgte bald das Weben der Mousse­line [eines feinen, weichen Stoffes aus Baumwolle]. Seit 1757 ist diese Fabrikation auf den höchsten Gipfel gestiegen. Jung und Alt, Weiber und Männer sitzen am Spinnrade, im Tal so wie in den Sennhütten auf den Alpen.»2

Die Industrialisierung holte auch Leute zurück, die einst ausgewandert waren, weil sie sonst verhungert wären. «An einem Hause zwischen Linthdorf [Linthal] und der Pantenbrücke sah ich einen wahren Herkules das Spinnrad umdrehen. Dieser Glarner, über sieben Fuss hoch [2 Meter 10], war in seiner Jugend Torschreiber bei einem deutschen Fürsten.»3 Als Torschreiber oder Torwächter wurden Steuerbeamten bezeichnet, die bewaffnet am Stadttor standen und von jedem Passanten, der in die Stadt wollte, eine Steuer oder den Zoll einzogen. Sie waren natürlich verhasst. «Diese Erwerbsarbeit war ihm bald zuwider, er kehrte in sein Vaterland zurück und vertauschte den Spiess mit dem Spinnrocken, welcher ihm seinen Unterhalt verschaffte.»4 Alle waren von der neuen Industrie betroffen: «Kinder von 5–6 Jahren helfen schon ihren Eltern und verdienen einige Kreuzer.»5

Was sich im Glarnerland zutrug, ereignete sich in allen Regionen, manchmal genauso abrupt, öfter allmählicher über die Jahre hinweg, doch im Ergebnis glichen sich die Vorgänge: Das Verlagssystem wälzte alles um, nicht bloss die Wirtschaft, sondern auch die Demografie, die Kultur, die soziale Schichtung und meistens auch die politischen Verhältnisse. Wenn sich vor der industriellen Revolution beobachten liess, wie der Kapitalismus sich an den unmöglichsten Orten verbreitete, dann bot die Schweiz vielleicht die besten Belege.

Ausgerechnet die Schweiz. Viele Zeitgenossen bemerkten das nicht oder wussten kaum Bescheid. Wer es aber wusste, vermutete Unregel­mässiges, Ungeheures, oder er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Geradeso wie sich heute noch manche fragen, warum die Schweiz je zu einer Zitadelle des Kapitalismus aufgestiegen ist.

Diese Geschichte begann an vielen Orten, und sie liesse sich in vielen Versionen erzählen. Warum nicht in Locarno?

Ebel, Gebirgsvölker, 271.

Ebd., 272.

Ebd., 272.

Ebd., 272.

Ebd., 272.

Warum die Schweiz reich geworden ist

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