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Aufsteiger und Versager
ОглавлениеSo sehr sich die Zünfte allerdings bemühten, die Tessiner Zuzüger wirtschaftlich auszuschliessen, sie erreichten das Gegenteil. Die Locarner machten aus der Not eine Tugend. Da ihnen keine andere Wahl blieb, verlegten sie sich zuerst auf den Handel. Damit erwarben manche nicht nur beträchtliche Reichtümer – was ihnen viele Zürcher dann auch wieder nicht gönnten –, sondern sie wälzten bald die gesamte Wirtschaft des Kantons um, indem sie eine moderne Textilindustrie und den Verlag nach Zürich brachten. Hatten sich das die Zünfte erhofft? Sicher nicht. Dialektik des Kapitalismus. Ausgerechnet die vermeintlich willkommenen Glaubensbrüder, die man wirtschaftlich dermassen benachteiligt hatte, stiegen am Ende zu den Herren der Stadt auf. Nicht alle, aber erstaunlich viele.
Ein gutes Beispiel stellt Aloisio Orelli dar, der Seckler aus Locarno. Auch ihm hatte man in Zürich den Beruf verwehrt. Ohne Aussicht, irgendwie seine Familie durchzubringen, sah er sich gezwungen, als Krämer sein Leben zu finanzieren. 1557 eröffnete er einen kleinen Laden. Er verkaufte Hüte, Kerzen oder Seifen, bis er in den Seidenhandel einstieg, und es entstand ein Unternehmen, das seine Nachkommen bis 1700 zum grössten Seidenexporteur Zürichs hochzogen. 1778 stellte die inzwischen regimentsfähige Familie mit Hans Heinrich von Orelli den ersten Bürgermeister. Damit war man ins sogenannte Regiment vorgestossen, in jene kleine Zahl von herrschenden Zürcher Familien, die zu jener Epoche Stadt und Kanton regierten. Die Orelli hatten mit anderen Worten den Olymp erstiegen. 1735 übernahm ein Orelli eine bekannte Druckerei, die im Jahr 1780 eine neuartige, periodische Publikation herausgeben sollte, man nannte sie die «Zürcher Zeitung», seit 1821 heisst sie «Neue Zürcher Zeitung» und gilt als eine der renommiertesten Zeitungen Europas. Aus der Druckerei war in den Jahren zuvor ein Verlag (im modernen Sinn) geworden. Er heisst heute Orell Füssli und gehört der Schweizerischen Nationalbank.20 Wer weiss heute noch, dass die Orelli einst als Seckler aus Locarno gekommen waren? Vertrieben wegen ihres Glaubens, aus der Heimat verjagt wie Hunde, wurden sie aufgenommen in einer misstrauischen Stadt, die sie am Ende feiern und verehren sollte, als hätten sie immer hier gelebt. Amerika an der Limmat.
Nicht alle Locarner hatten so viel Glück. Die meisten scheiterten, und ihre Namen sind vergessen, und doch darf ihr Beitrag zum Wohlstand der Schweiz nicht unterschätzt werden. So gut wie alle verfolgten eine Karriere wie die Orelli: Denn was hatten die Locarner zu bieten, was den Zürchern fehlte? Wie vermochten sie sich zu differenzieren, um es in der Sprache des modernen Marketings auszudrücken? Was war ihr Alleinstellungsmerkmal?
Sie kannten Italien, das reichste Land der Epoche. Sie sprachen Italienisch und fanden somit mühelos den Weg zum wichtigsten Markt in Europa, der wiederum enger verbunden war mit der übrigen Welt als jedes andere Land des Kontinents. Wer mit dem Nahen Osten, Indien oder Afrika, ja mit China, Konstantinopel oder am Schwarzen Meer Handel trieb, kam an Italien kaum vorbei, noch beherrschten Venedig und Genua den westlichen Zugang zur Welt. Nicht mehr lange, aber noch lange genug: Die atlantische Weltwirtschaft, die bald heraufziehen sollte, da die Portugiesen den Seeweg nach Indien erschlossen und Christoph Kolumbus 1492 Amerika für die Europäer entdeckt hatten, war 1555 längst im Entstehen begriffen. Wenn es eine tragische Pointe in der italienischen Geschichte gibt, dann wohl die Tatsache, dass niemand die einst so privilegierte Stellung Italiens im Welthandel dermassen untergrub wie der Italiener Kolumbus. Er stammte aus Genua, der Herrin des Mittelmeers.
Für die Locarner, die man aus ihrer Heimat vertrieben hatte, blieb gerade die Heimat ihr wesentlicher Aktivposten. Ohne Probleme reisten sie allerdings nicht nach Italien. Zu Anfang waren sie als italienischsprachige Protestanten besonders unerwünscht. Kaum hatten sie Locarno verlassen, schloss das Herzogtum Mailand seine Grenzen. Hier regierten die spanischen Habsburger, die katholischen Könige schlechthin. An «Handel und Wandel», wie der freie Personenverkehr damals hiess, war nicht mehr zu denken, und Mailand, der zentrale Markt in Norditalien, war den Locarnern aus Zürich versperrt. Man wich auf Bergamo aus, das zu Venedig gehörte, und da die stolze Republik stets das Gegenteil davon machte, was die Habsburger taten, die in Mailand den Ton angaben, stiessen die Locarner auf venezianischem Territorium auf keinerlei Schwierigkeiten.
Da die Zürcher Obrigkeit aber rasch realisierte, dass der Handel mit Italien, den die Locarner nun aufzogen, das eigene Budget entlastete, nahm man mit den Mailändern das Gespräch auf. Innert Kürze wurde ein Abkommen erreicht. Allerdings hatte man den Umweg über Madrid gewählt, um in Mailand ans Ziel zu gelangen. Denn Philipp II., König von Spanien und der wahre Herr der Lombardei, hatte eben durch seine Gesandten an der Tagsatzung «seine besondere Liebe zur löblichen Eidgenossenschaft» ausgedrückt und versprochen, «Bündnis, Freundschaft und gute Nachbarschaft mit den Eidgenossen zu halten».21 Wenn einer der mächtigsten Könige Europas sich schon so goldig um die Schweizer bemühte – er hoffte auf Söldner –, dann sollte man ihn beim Wort nehmen, dachten sich die Zürcher. Freundschaft und gute Nachbarschaft? Das musste auch für die Locarner aus Zürich gelten, und man brachte es tatsächlich fertig, dass der Herzog von Mailand, der Statthalter des spanischen Königs, die Grenzen wieder öffnete. Den Locarnern wurde freier «Handel und Wandel» im ganzen Herzogtum zugesichert, unter der Bedingung jedoch, dass sie sich nirgendwo auf ein «Argument» einliessen, womit ein Gespräch über die Religion gemeint war. Nach wie vor fürchteten sich die Mailänder vor dem Missionseifer der Protestanten.22
Wahrscheinlich zerbrachen sie sich für nichts und wieder nichts den Kopf, denn die Locarner, die nun nach Mailand fuhren, hatten anderes im Sinn als die Religion: Ohne Handel mit Italien wären sie in Zürich untergegangen. Jetzt aber, unter diesen günstigen Umständen, erschlossen sie nicht bloss den Zürchern, sondern den Schweizern insgesamt eine neue Welt.
Ein Zweites kam dazu. Vielleicht weil sie Aussenseiter waren, erkannten die Locarner Möglichkeiten, die die Zürcher bisher ausser Acht gelassen hatten. Denn neben dem reichen, aber unsicheren Italien gab es ja noch andere Märkte in Europa, insbesondere Frankreich, dessen gigantische Bevölkerung jeden Kaufmann anziehen musste. Und wer sich auskannte, wusste, dass gerade dieser Markt niemandem offener stand als den Eidgenossen.
Vor gut dreissig Jahren, 1521, hatten die eidgenössischen Orte mit Frankreich einen überaus vorteilhaften Soldvertrag abgeschlossen: Indem sie dem König fast exklusiv das Recht einräumten, in der Schweiz Söldner zu werben, bekamen sie als Gegenleistung zahlreiche wirtschaftliche Vergünstigungen. So wurde zwischen den beiden Ländern der freie Handel eingeführt, Schweizer Kaufleuten gewährte man die Erlaubnis, sich im Königreich so gut wie unbehelligt aufzuhalten, vor allem erhielten sie Handelsprivilegien in Lyon, der führenden französischen Handels- und Industriestadt jener Zeit.
Dass die St. Galler, Basler oder Schaffhauser diese Rechte nutzten, war selbstverständlich. In diesen Städten gab es bereits Kaufleute, die sich auf den Fernhandel verstanden. In Zürich dagegen fehlte es an diesen Kenntnissen, ebenso am entsprechenden Interesse, so dass erst die Locarner erfassten, welche Goldmine hier verborgen lag. Sie war unermesslich.
Wenn die Locarner schon oft genug auf Schwierigkeiten im Herzogtum Mailand stiessen, weil sie dem falschen Glauben anhingen, so wandten sie sich jetzt umso lieber Frankreich zu, dessen Markt genauso aufnahmefähig erschien. Ohne Zürcher Bürgerrecht aber fiel das schwer, zumal die Franzosen darauf bestanden, dass nur Eidgenossen – nicht deren Untertanen wie etwa die Tessiner – in den Genuss der erwähnten Vorrechte kamen. Oft geschah es deshalb, dass ein Locarner einen Zürcher Strohmann vorschob, um in Frankreich seine Geschäfte zu erledigen. Das bedeutete Aufwand, das stiftete Abhängigkeiten, das war illegal. Um sich das zu ersparen, bemühte sich darum jeder Locarner, kaum war er heimisch geworden, um das Zürcher Bürgerrecht. Natürlich hätte ihn das auch in Italien viel besser geschützt. Doch die Zürcher wollten davon lange nichts wissen. Nur wenigen gönnte man das Privileg, und auch dann blieben Locarner noch Locarner, also Zürcher mit einem fremd klingenden Namen.
Dabei hätten die Zürcher allen Grund gehabt, den Locarnern entgegenzukommen. Denn dank ihnen setzte jetzt ein Austausch ein, der die Zürcher Wirtschaft in jeder Hinsicht belebte. Die Locarner kauften in Italien Waren ein, an denen es in der deutschen Schweiz mangelte, und sie exportierten Dinge, die sich im Süden absetzen liessen. Das alles hatte es auch früher schon gegeben. Zürich war immer mit dem Süden verbunden gewesen, was sich aus seiner geografischen Lage ergab. Doch die Locarner intensivierten den Nord-Süd-Handel in einem Ausmass wie nie zuvor. Wie immer zogen daraus beide Seiten Nutzen, wenn auch Zürich sicher mehr davon hatte. Noch lag die kleine Stadt an der Peripherie. Deshalb löste dieser Handel dort weitaus mehr aus als in Norditalien, dem Zentrum der damaligen europäischen Wirtschaft. Es setzte in Zürich ein Aufschwung ein, der streng genommen nie mehr abriss.
Betrachten wir die Baumwollindustrie. Bereits im 15. Jahrhundert hatten die Zürcher damit begonnen, Baumwolle zu Tüchli zu verarbeiten. Zwar hatte man Baumwolle schon vorher gekannt und mit Leinen zum sogenannten Barchent verwoben. Neuerdings traute man sich aber zu, Stoffe aus reiner Baumwolle zu verfertigen, grob zwar, dennoch hübsch und kleidsam, weshalb diese klein geschnittenen Tüchli sich bald grosser Beliebtheit erfreuten, vorab bei den Frauen: Sie benutzten sie gerne als Hals- oder Kopftuch. Doch bei aller Popularität: Das Tüchli blieb ein regionales Phänomen. Es wurde vorwiegend in der Stadt selbst und deren Umgebung getragen. Exportiert wurde kaum. Vielleicht boten die Weber ja nur miserable Qualität oder machten viel zu wenige Tüchli, wir wissen es nicht, jedenfalls fühlten sich die Zünfter nie bedroht. Anders ist es kaum zu erklären, warum das neue Gewerbe keinen Zunftvorschriften unterstellt wurde. Man liess es für geraume Zeit so gut wie unreguliert – bis es zu spät war, einzugreifen, weil andere, soziale Überlegungen in den Vordergrund rückten.
Denn Zwingli hatte ja den Solddienst unterbunden und damit vielen jungen Zürchern eine populäre Erwerbsarbeit entrissen. Die Schweiz zählte zu jener Zeit fast eine Million Einwohner, viel zu viele, als dass die Bauern in der Lage gewesen wären, alle zu ernähren. Die temporäre Auswanderung der jungen Männer war so gesehen unabdingbar. Als im Kanton Zürich dieser Ausweg nicht mehr offenstand, stellten sich die negativen Auswirkungen dieses politisch (oder theologisch) erzwungenen Strukturwandels gleich als drastisch heraus, insbesondere auf dem Land waren die Folgen zu besichtigen. Not brach aus. Die Behörden standen unter Druck. Kam es zu Unruhen?
In dieser heiklen Situation schien das Tüchli-Gewerbe den Zürcher Räten umso erwünschter, zumal manche Bauern auf dem Land sich längst dieser Tätigkeit widmeten. Wäre es jetzt eine gute Idee gewesen, es durch allzu engherzige Vorschriften zu ruinieren? Die Frage stellen heisst sie beantworten. Wenn das Tüchli-Gewerbe Abhilfe brachte, indem es Arbeitsplätze schuf, dann hatten die Behörden nichts einzuwenden. Sie förderten es stattdessen, weil «sich viele arme Leute in der Stadt und auf dem Land durchbringen und verbessern mögen und das Geld in das Land [in den Kanton Zürich] kommt».23
Deshalb hielten sie die Zünfte auf Distanz, ja selbst auf Abgaben und Steuern wurde verzichtet. Es gab keinen Zunftzwang, das heisst, niemand wurde gezwungen, sich einer Zunft anzuschliessen, wenn er Tüchli herstellen wollte. Ebenso wenig schrieb man «Schauen» vor, also Inspektionen, wo streng über die Qualität eines Tüchlis gewacht worden wäre, was den Behörden oder Konkurrenten stets einen Vorwand verschafft hätte, das Gewerbe zu schikanieren.
«Die Kombination von geringer Regulierungsdichte sowie Steuerfreiheit und vergleichsweise hoher Qualität», urteilt der Zürcher Historiker Ulrich Pfister, «dürfte somit die langfristige Konkurrenzfähigkeit des Zürcher ‹Tüchligewerbs› als eines der ersten ausschliesslich Baumwolle verarbeitenden Gewerbes nördlich der Alpen massgeblich unterstützt haben.»24 Jedermann konnte sich in dieser Branche versuchen. Ob sein Tüchli einen Kunden fand, lag an ihm, nicht an einer Behörde oder einer Zunft.
Das hatte Konsequenzen. Zum einen führte das liberale Regime dazu, dass viele Frauen in dieser Branche tätig wurden, selbst als Unternehmerinnen, weil keine (männlichen) Zünfter sie hinausdrängten. In den Zünften hatten Frauen in der Regel keinerlei Aussicht, je als Meisterin aufgenommen zu werden, es sei denn als Witwe eines Zunftbruders für eine begrenzte Zeit. Zum anderen liess dieser unregulierte Zustand viel mehr Innovationen zu, ob in der Produktion oder in der Arbeitsorganisation. Zum Dritten zog eine solche Branche natürlich Aussenseiter wie die Locarner an.
Zwar kümmerten sie sich kaum um die Herstellung der Tüchli, doch sie exportierten diese neuerdings nach Italien und eröffneten den Zürcher Tüchli-Webern ganz neue Perspektiven. Hatten sie vorher für die eigene Stadt und die nähere Umgebung produziert, fanden ihre Tüchli auf einmal Absatz in Bergamo, Venedig und Mailand. Denn die Locarner, die den Handel zwischen Zürich und Italien an sich brachten, waren ja darauf angewiesen, dass sie den Italienern etwas offerieren konnten, um damit andere begehrte Waren einzutauschen. Allzu viel Geld wollten sie dafür nicht einsetzen. Also verkauften sie Tüchli in Italien – und erhielten dafür Reis, Seifen, Würste, Federn, Kerzen, Waffen oder Getreide, alles Mögliche, vor allem aber brachten sie Rohstoffe zurück, die es in der Schweiz nicht gab: Baumwolle und Seide. Damit gelangten jene zwei Rohstoffe in die Stadt, die Zürichs wirtschaftliche Entwicklung für gut dreihundert Jahre bestimmen sollten.