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Die Glaubensspaltung und ihre Folgen

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Mehr als sechzehn Wochen war Nicolao Greco im Kerker von Locarno gesessen, man hatte ihn verhört und befragt, gefoltert und gequält, und immer wieder hatte er beteuert: «Nicht unsere Frau im Himmel habe ich gemeint», also die heilige Maria, als er über sie geflucht habe, sondern bloss ihr Bild aus Holz, das «Würmer und Schaben» zernagten.1 Doch niemand glaubte ihm. Zwei Zeugen gaben an, sie hätten es mit ihren eigenen Ohren gehört, wie Greco vor der Kirche mit einer Frau in Streit geraten sei und dabei sogar die Mutter Gottes angegriffen habe: «Diese Frau ist eine Hure», soll er gesagt haben, «tagein, tagaus besoffen, und wenn man sie kritisiert, dann geschieht doch nichts.»2

Da unterlag er aber einem Irrtum. Ein Mönch zeigte ihn beim Land­vogt an, und weil Greco als Protestant bekannt war, ging es sogleich um sehr viel mehr als um Gotteslästerung. Blieb das Tessin katholisch, oder setzten sich am Ende die Reformierten durch? Kam es zum Bür­gerkrieg unter den Eidgenossen? Greco, der Schuhmacher, kam unter die Räder.

Wir schreiben das Jahr 1554. Es waren erst ein paar Jahrzehnte vergangen, seit die Eidgenossen das Tessin erobert hatten – oder korrekter die ennetbirgischen Vogteien, wie man damals sagte. Ihre Herrschaft war noch frisch, und kaum hatten die Eidgenossen begonnen, das so fremdartige Gebiet im Süden zu verwalten, lagen sie sich in den Haaren: Die Ursache hatte einen Namen. Huldrych Zwingli und seine Refor­mation.

1519 war Zwingli als Leutpriester ans Grossmünster in Zürich gekommen. Ein Leutpriester kümmerte sich um die einfachen, einheimischen Leute. Wer nun meint, es handelte sich deshalb um eine unbedeutende Stelle, täuscht sich, im Gegenteil, Zwingli sprach zum Volk, und er sprach so gut und redete von so revolutionären Dingen, dass ihm die Zürcher zuerst ihr Seelenheil, dann ihren Kanton, schliesslich ihr Leben anvertrauten. Zwingli (1484–1531) sollte zu einem der einflussreichsten Männer der Schweizer Geschichte werden – auch der Wirtschaftsgeschichte. Von Zü­rich aus verbreitete dieser charismatische, eigenwillige Pfarrer einen neuen Glauben, der in manchem den Ansichten von Martin Luther (1483–1546) entsprach, dem deutschen, ebenso rebellischen Mönch, der zu jener Zeit die katholische Kirche in Aufruhr versetzte. Doch Zwinglis Lehre unterschied sich in wesentlichen Fragen so grundlegend, dass daraus eine eigene Kirche entstand, die reformierte, die zwinglianische. Als Pro­tes­tanten betrachteten sich beide, Zwingli und Luther, geliebt oder verstanden haben sie sich nie.

Die Glaubensspaltung, die Anfang des 16. Jahrhunderts fast ganz Europa wie ein Fieber ergriff, hatte sich früh auch in der Schweiz fest­gesetzt, vielleicht nirgendwo auf so engem Raum und nirgendwo so unversöhnlich. Hass und Rechthaberei. Denn nicht überall kam Zwinglis Bot­schaft gut an: Während die einen, besonders die Städter in Zü­rich, Schaffhausen, Basel, St. Gallen oder Bern, den neuen reformierten Glau­ben gerne annahmen, lehnten die anderen ihn ab, vor allem in der Inner­schweiz, aber auch in Solothurn und Freiburg. Sie blieben katholisch. Seither gibt es zweierlei Eidgenossen, katholische und reformierte, und sie leben in katholischen oder reformierten Kantonen. Oft standen sie sich feindseliger gegenüber als ihren ärgsten gemeinsamen Feinden.

Am Ende erwiesen sich die Verhältnisse innerhalb der Schweiz als so zerfahren, dass sich die Eidgenossen, also jene brutalen Krieger, die noch vor kurzem halb Europa mit Angst und Schrecken erfüllt hatten, vorzugsweise mit sich selbst beschäftigten. Sie wirkten wie gelähmt: Entzweit im Glauben, aufgewühlt durch die Religion, verblendet in jedem Detail. Man stritt um Dörfer, man stritt um einzelne Familien, man achtete darauf, welcher Metz­ger die Katholiken bedienen durfte und welcher Bäcker die Refor­mierten, man stritt jahrhundertelang. Dass die Eidgenossenschaft dies überlebte, wirkt wie ein Wunder, wenn vermutlich auch kein göttliches.

Im Tessin gab es zu Anfang bloss wenige Protestanten. Doch je mehr sich die Reformation in Italien ausbreitete, desto mehr spürte man die Folgen auch im Tessin. Protestantismus in Italien? Das Land war natürlich ein Sonderfall. In Rom herrschte der Papst über einen eigenen Kirchenstaat, im Wesentlichen das heutige Mittelitalien, also ein ziemliches Territorium, was sich indirekt auf der ganzen Halbinsel bemerkbar machte. Wenn die katholische Kirche irgendwo eine Art Heimvorteil besass, dann in Italien, und es schien den Gewaltigen der römisch-katholischen Kirche nichts Schlimmeres denkbar, keine Kränkung, keine Beleidigung, als dort, gewissermassen auf dem Heimmarkt, von den Protestanten bedrängt zu werden. Wer Italienisch sprach, wer in Italien lebte, dem elegantesten, füh­­renden Land der damaligen westlichen Zivilisation, musste dem alten Glauben erhalten bleiben, koste es, was es wolle.

Deshalb führten die Päpste 1542 in Italien eine etwas mildere Variante der spanischen Inquisition ein. Mild? Sie war brutal genug. Bei dieser «Congregation der heiligen Inquisition gegen die ketzerische Verderbnis» handelte es sich um eine blutrünstige Einrichtung, einen Geheimdienst zur Aufspürung und Aburteilung von Ketzern, wo Priester und Mönche das Ge­­wissen ihrer Opfer unter der Folter erforschten, bis sie gestanden, vom wahren Glauben abgefallen zu sein, womit die wenigsten zwar ihr Leben retteten, doch dem Vernehmen nach ihr Seelenheil. Die meisten starben auf dem Schafott mittels einer Hinrichtungsmethode, die sich danach richtete, wie schwer ihr Verrat wog. Das Repertoire der Henker war beachtlich.

Trotzdem fanden die Lehren und Bücher von Luther, Zwingli oder Jean Calvin (1509–1564), dem grossen Genfer Reformator, ihren Weg nach Italien. Besonders unter Gebildeten, aber auch unter Unternehmern und Handwerkern stiess der Protestantismus auf offene Ohren und Herzen, nicht zuletzt deshalb, weil dessen individualistische Auffassung des christlichen Glaubens wohl solche Leute vermehrt anzog, die selber dank eigener Leistung einen sozialen Aufstieg zustande gebracht hatten. Es war eine Religion der Tüchtigen. Es war eine Religion der Städter. Umso gefährlicher musste sie der katholischen Führung vorkommen. Innert Kürze bildeten sich in vielen Städten Italiens evangelische Gemeinden, nie offiziell, aber heimlich, im Verborgenen; Hochburgen, die darum von der Inquisi­tion umso aufmerksamer überwacht wurden, lagen in Siena, Ferrara, Vicenza und Lucca, aber selbst in Mailand, Venedig, ja in Rom tauchten immer mehr Protestanten auf, sozusagen unter der Nase des Papstes. War es nicht höchste Zeit zurückzuschlagen? Es setzte eine systematische Unterdrückung ein, die am Ende fast jeden Protestanten aus Italien vertreiben sollte. Italien war katholisch – alles andere war unvorstellbar. So beschlossen es die Päpste, so setzten sie es durch.

Wie weit die Inquisition zu diesem Zweck zu gehen bereit war, wie grotesk sich ihre religiöse Polizeiarbeit manchmal auswirkte, offenbart ein Mandat, das der Erzbischof von Mailand und sein Grossinquisitor 1543 gemeinsam erliessen: «Niemand soll fortan, wäre es auch in einer ihm selbst gehörenden Kirche oder Wohnung, die Heilige Schrift predigen oder lesen ohne schriftliche Erlaubnis des Erzbischofs und Inquisitors, bei Strafe der Exkommunikation (…).»3

Lesen ist gefährlich. Hilfloser konnte die katholische Kirche ihr Di­lemma nicht ausdrücken. Eine Organisation, die sich als eine Schrift­religion verstand, verbot ihren Anhängern, die Heilige Schrift auch nur zu lesen. Die beiden hohen Mailänder Kleriker fuhren fort: «Wer ketzerische, von der heiligen katholischen und apostolischen Kirche nicht erlaubte, bis auf diese Zeit von irgendeinem Erzbischof, In­qui­­sitor oder Commissarius verbotene, besonders aber die unten bezeichneten Bücher besitzt [ein Verzeichnis war beigefügt], soll dieselben binnen Monatsfrist den obigen beiden Herren einhändigen, und ist in diesem Fall von jeder Strafe frei; später sind solche unbedingt verboten, und die Übertreter verfallen nicht nur in die bereits verwirkten, sondern noch in schwerere Strafen, je nach Ermessen der beiden Herren. Dem Angeber sind Verschwiegenheit und ein Drittel der Geldstrafe gesichert.»4 Zeit der Verfolgung, Zeit der Denunzianten.

Wohin sich wenden? Wohin ins Exil? Manche italienischen Protes­tan­ten suchten nun in den ennetbirgischen Vogteien ihr Heil, um sich vor Gewalt und Tod zu schützen, ebenso im Veltlin und in der Landvogtei Chia­­venna, zwei Regionen südlich der Alpen, die seinerzeit noch den Drei Bünden, dem heutigen Graubünden, gehörten. Diese Zufluchtsorte lagen nahe, im buchstäblichen Sinn: Sowohl im Tessin als auch im Veltlin sprach man Italienisch, die Kultur war lombardisch, was nicht erstaunt, angesichts der Tatsache, dass all diese Gebiete erst kurz zuvor von den Schweizern dem Herzogtum Mailand entrissen worden waren. Zudem hatten sich hier bereits evangelische Kirchen entfaltet, insbesondere im Veltlin bestand zeitweise ein Drittel der Bevölkerung aus Protestanten. Italienische Prediger waren gefragt, italienische Protestanten (meistens) willkommen.

So kam es, dass auch die evangelische Gemeinde von Locarno, eine kleine, feine Kirche, stetig wuchs. Nachdem sogar Giovanni Beccaria, ein berühmter protestantischer Theologe, hierher geflüchtet war, bildete sich um ihn bald ein Kreis intelligenter, junger Männer aus den besten, meist adligen Familien. Sie hiessen Muralto, Duno, Ronco und Orelli.

Nicolao Greco stammte nicht aus dem Adel, sondern war bloss ein Schuhmacher in Locarno. Offenbar hatte ihn die reformierte Lehre überzeugt, worauf er der evangelischen Gemeinde beigetreten war. Nie hatten er oder seine Arbeit zu einer Beanstandung Anlass gegeben, weder bei katholischen Kunden noch bei protestantischen. Was an jenem vermale­deiten Tage in ihn gefahren war, dass er die heilige Maria dermassen beleidigte, entzieht sich unserer Kenntnis. Vielleicht hatte er zu viel Wein getrunken, denn dass er überhaupt vor der (katholischen) Kirche Madonna del Sasso aufgekreuzt war, hatte damit zu tun, dass er dort einem Mönch Wein abzuliefern hatte, wie dies die Kirche von jeher vorschrieb. Wo­möglich hatte ihn, den arbeitsamen Protestanten, das verstimmt. Wie dem auch sei, es nahm mit ihm ein böses Ende.

Endlich wurde Greco den eidgenössischen Behörden vorgeführt. Zwei­­fel­­los standen diese unter Druck. Zum einen von den benachbarten Mai­ländern, die schon lange mit Missvergnügen, ja Panik dem Treiben der Protestanten im Tessin zugesehen hatten. Bestand nicht die Gefahr, dass hier ein reformiertes Widerstandsnest heranwuchs, von wo aus jederzeit religiöse Agenten nach Italien geschleust werden könnten, um das Land und dessen katholischen Glauben zu unterwühlen? Ob in Mailand, Venedig oder im Vatikan, es galt die Devise: Wer als starrsinniger Protestant Italien verliess, verliess es für immer. Vor allen Dingen sollte er sich möglichst weit weg niederlassen, am liebsten wohl in der Hölle, und wenn das nicht praktikabel war, dann wenigstens auf der anderen Seite der Alpen. Aber sicher nicht im Tessin oder im Veltlin.

Die Mailänder wussten genau, wer von ihren Untertanen in Locarno Unterschlupf gefunden hatte. Ihnen sollte das Leben verleidet werden, bis sie weiterflüchteten. Für Greco, den kleinen Protestanten, drangen sie auf die Höchststrafe. Sollten die Eidgenossen dem nicht nachkommen, behielt man sich weitere Schritte vor. Das Herzogtum Mailand gehörte seinerzeit den spanischen Habsburgern. Spanien war eine Grossmacht und ausserdem sehr katholisch.

Zum anderen setzten sich die Eidgenossen selbst unter Druck. In Locarno regierte in jenen Tagen zwar ein Zürcher Landvogt, also ein Re­formierter, den die Herabsetzung der heiligen Maria wohl weniger aus der Fassung gebracht, wenn nicht ganz kalt gelassen hatte. Gerne wäre er dem unglücklichen, dummen Greco zu Hilfe gekommen und hätte ihn verschont, doch die eigentlichen Herrscher im Tessin waren nicht die Zürcher noch die übrigen reformierten Eidgenossen, sondern die Katho­liken, und zwar aus dem folgenden Grund.

Die alte Eidgenossenschaft bestand zu jener Zeit aus dreizehn gleichberechtigten Kantonen, besser gesagt Orten, wie die Zeitgenossen sie nannten: sieben katholischen, vier reformierten und zwei Kantonen, Gla­rus und Appenzell, die intern konfessionell gespalten waren und daher faktisch ohne Stimme an der Tagsatzung blieben. Fast alle Fragen drehten sich irgendwie um die Religion. Wer schon im Kanton sich darin uneins war, hatte an der Tagsatzung nichts auszurichten, dem obersten Organ der Eidgenossenschaft, wo alle Kantone vertreten waren. Also stand es jetzt sieben gegen vier: Den sieben katholischen Orten hatten die vier reformierten wenig entgegenzusetzen. Sie, allesamt Städte, nämlich Zürich, Bern, Basel und Schaffhausen, konnten jederzeit überstimmt werden. Zwar war man vor Jahren übereingekommen, das Tessin gemeinsam zu verwalten, tatsächlich aber kam den Katholiken ein Übergewicht zu. Deshalb war Greco verloren. Nicht nur er, wie sich bald zeigen sollte, sondern alle Protestanten im Tessin.

Grecos Schicksal war rasch besiegelt. Da es sich aber bei seinen Rich­tern um Eidgenossen handelte, glich die Urteilsfindung einem basisdemokratischen Verfahren, wo alle sich einmischten: Jeder Ort hatte einen Dele­gierten nach Locarno geschickt, und diese entschieden nun über Greco.5 Dass er schuldig war, stand gar nicht zur Debatte, er hatte ja unter der Folter alles gestanden, man machte sich bloss Gedanken über die Strafe. Lebhaft und ungezwungen wurde über Grecos Körper verhandelt. Man solle ihn eine Stunde an den Pranger stellen, wurde vorgeschlagen, um ihn dann mit Ruten durch Locarno zu peitschen. Das stiess allgemein auf Zustimmung. Ob es nicht richtig wäre, fragte ein alter Delegierter aus Uri, auch die Art des Verbrechens zu berücksichtigen? Er regte an, dass man deshalb Grecos Zunge, die Tatwaffe sozusagen, auf einen Stock nagelte. «Diesen Zusatz mag ich wohl leiden»6, sagte der Vorsitzende, Wen­del Sonnenberg aus Lu­zern, und alles schien in bester Ordnung, bis sich die Aussichten für Greco auf einmal weiter verdüsterten. Wenn es darum gehe, den Schuh­macher wirklich zu bestrafen, so verlangten die Gesandten der katholischen Orte nun unvermittelt, dann sei ihm «aus der Welt zu helfen».7 Also wurde «gemehret», wie das unter Eidgenossen hiess – und die Mehrheit war katholisch. Greco wurde zum Tod verurteilt.

Als man ihm die schlechte Nachricht überbrachte und einen Beicht­vater anbot, sagte Greco: «Ich bedarf keinen. Ich habe Gott gebeichtet; der hat mir meine Sünden verziehen und wird mich geleiten und trösten (…).»8 Kurz darauf wurde der Schuhmacher abgeführt, um ihn auf einem Platz in Locarno öffentlich hinzurichten. Er wurde geköpft. Das galt als Ent­gegen­kommen. Sonst verbrannte man Ketzer. Wendel Sonnen­berg, hiess es nachher, habe Tränen in den Augen gehabt.

Warum die Schweiz reich geworden ist

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