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Der letzte Trieb

Blauer Stahl blitzt im grellen Sonnenlicht. Die Rotorblätter des Helikopters drehen sich träge in der schwülen Mittagshitze. Die Landekufen sind im heißen Teer eingesunken. Ein kaum merklicher, doch allgegenwärtiger Gestank liegt in der Luft. Miles nimmt ihn nicht mehr wahr. Seine Geruchsnerven sind seit langer Zeit schon wie betäubt. Er setzt sich seine Sonnenbrille auf und springt aus der Maschine. Sein Augenmerk ist auf die Menschenmasse am Ende der Straßenschlucht gerichtet. Im Zentrum der Leute steht ein Baum.

Der Baum.

Der letzte Baum.

Heute wird er sterben. Ein einsames grünes Blatt hängt oben in der Krone. Und heute wird es fallen, obwohl der Herbst noch Monate entfernt ist. Bis zuletzt hat man gehofft, dass ein weiterer Trieb aus der Rinde hervorbrechen würde. Jetzt ist alle Hoffnung verloren.

Miles ist Künstler. Ein Künstler der Fotografie. Bewaffnet mit seiner Kamera will er den Moment einfangen, in dem sich das Blatt vom Baum löst. Dies soll ein Mahnmal für die folgenden Generationen werden.

Er drängelt sich durch die Menge der Schaulustigen, bis nach vorne zu den Reportern. Fast zwanzig Fernsehkameras wollen diesen Augenblick dokumentieren. Aber Berichterstattung kann keine Kunst sein. Nur Miles ist es möglich, die ganze Tragik dieses Moments in einem einzigen Bild auszudrücken.

Die Wurzeln winden sich im Boden und tasten den Asphalt von seiner Unterseite ab. Sie halten den Stamm, der, umsäumt von einer zerfurchten Rinde, in den Himmel emporragt.

Miles kniet unter den kahlen Ästen und visiert durch die Linse den obersten Zweig an. Sein Finger hängt verkrampft am Auslöser. Die Zeit vergeht.

Das Blatt welkt.

Krümmt sich.

Dann: ein leichter Luftzug. Das Blatt löst sich und gleitet dem Boden entgegen. Miles verbraucht den ganzen Film für diese wenigen Sekunden des Sterbens.

Während Miles noch am selben Abend in der Dunkelkammer arbeitet, erwacht in einem anderen Zweig des Baumes ein Trieb. Ein winziges Blatt wird daraus entstehen.

Vielleicht sogar eine Blüte.

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