Читать книгу Gute und Böse Nachtgeschichten - Markus Walther - Страница 9
ОглавлениеDer Vampir
Als Miranda den kalten Hauch im Nacken spürte, wachte sie auf. Instinktiv zuckte sie zusammen und rollte sich zur Seite. Das rettete ihr das Leben. Der Vampir, der neben ihrem Bett hockte und schon genussvoll die Augen geschlossen hatte, biss ins Leere. In seinem Gesicht zeichnete sich Enttäuschung ab, als er langsam die Augen öffnete, denn sein Opfer lag nun am anderen Ende des Bettes und wandte ihm den Rücken zu. Schlaftrunken versuchte sie, das Land der Träume wieder zu erhaschen. Um sein Werk zu vollenden, musste der Vampir ihren toten Ehegatten erstmal vom Bett rollen. Besonders schmackhaft war das Blut des Mannes nicht gewesen: Der Gute musste den Abend in einer Kneipe verbracht haben …
Mit einem dumpfen Plumps landete der Leichnam auf dem Boden. „Fettsack“, dachte der Vampir. Behutsam stieg er auf die Matratze und begann seine Annäherung an Miranda. Sanft legte er seine Hand auf ihre Schulter. Fast zärtlich strich er mit der anderen Hand ihr Haar beiseite.
„Lass das, Schatz“, säuselte sie im Halbschlaf, „nicht jetzt!“
Weiße Zähne blitzten im Licht des Vollmonds. Der Vampir sog den Duft des Triumphs nochmals tief in sich ein, bereit, das weibliche Fleisch zu kosten. Doch dann verschwand das Lächeln von seinem Gesicht. Ein Kampf wurde tief in seiner Mimik ausgefochten. Das Zentrum dieses Kampfes war seine Nase. Sämtliche Haare in ihr schienen sich aufzurichten und einen ungeheuer juckenden Tanz aufzuführen. Der Vampir spürte schon, wie sich das Kribbeln mehr und mehr steigerte, um sich in einem heftigen Niesen zu entladen. Er nahm sich vor, morgen Nacht einen Arzt aufzusuchen. Gegen seine Parfümallergie musste er unbedingt etwas unternehmen. Jetzt war es so weit; er konnte sich nicht mehr zurückhalten.
Als er nieste, wachte Miranda endgültig auf. Sie fuhr wie eine Feder aus den Selbigen hoch. Das blasse Licht der Nacht ließ sie genug erkennen, um zu sehen, dass nicht ihr Mann neben ihr hockte. Und sie erkannte auch die Reißzähne links und rechts im Mundwinkel des Vampirs. Ein ohrenbetäubender Schrei entfuhr ihr. Und dann begann sie damit, ihn wie eine Furie mit dem Kopfkissen zu bearbeiten. Auf Gegenwehr nicht eingestellt, hob der Vampir schützend seine Arme vor den Kopf. Sein linker Zahn verfing sich trotzdem im Bezug des Kissens und brach schmerzvoll ab. Das gab auch noch Arbeit für den Zahnarzt! Die Attacke endete genauso unverhofft, wie sie begonnen hatte. Miranda hatte panisch die Flucht ergriffen. Der Vampir nahm die Verfolgung auf. Er hatte gesehen, wie sie in die Küche gerannt war. Sie suchte bestimmt nach einem Messer. Das würde ihr nicht mehr helfen: Vampire konnte man so nicht töten.
Überrascht stellte er fest, dass sie nicht mit einer scharfen Klinge bewaffnet war, sondern mit einer Gewürzdose. Als er das Etikett erblickte, wich er zurück: Knoblauchsalz! Heute blieb ihm auch nichts erspart. Eigentlich war ihm der Appetit sowieso vergangen. Warum also nicht den Rückzug antreten? Ein Lächeln versuchend, drehte er sich um, um sich möglichst theatralisch in eine Fledermaus zu verwandeln. Dabei fiel sein Blick ungeschickterweise auf das Kruzifix über der Tür.
Als Miranda seine Asche auffegte und in den Hausmülleimer warf, lag das Bewusstsein des Vampirs im dritten Staubkorn oben rechts. Er dachte darüber nach, dass, wenn er sich in der nächsten Nacht wieder materialisieren würde, er lieber mal eine ruhige Kugel schieben und im Ortskrankenhaus ein paar Blutkonserven klauen würde.