Читать книгу Gute und Böse Nachtgeschichten - Markus Walther - Страница 16
ОглавлениеEin Zauberlehrling
Der Raum war kalt und nüchtern eingerichtet. Metall, Chrom und schwarz lackiertes Holz waren die Materialien, mit denen der Innenarchitekt das Büro ausgekleidet hatte. Macht und Reichtum wurden jedem Gast vermittelt. Der monströse Sessel hinter dem Schreibtisch war leer. Der Meister hatte sein Reich verlassen, zumindest für die Nacht.
Morgen würde er wieder hier einmarschieren, mit seinen Gefolgsleuten im Schlepptau. Doch bevor sie zur Tagesordnung kommen würden, um die Intrigen für den Tag abzusprechen, könnte die kleine Überraschung, die Heinz für sie vorbereitet hatte, sie aus der Bahn werfen. So hatte er es sich vorgenommen.
Einzig dieser dämliche Tresor hinderte ihn an seiner Rache. Kein herkömmlicher Zahlenstab, in den man eine Kombination eingeben musste, und auch kein Drehknopf verwehrten ihm den Zugriff. Der Chef hatte an nichts gespart. Selbst zum Bewegen der Finger war er offensichtlich zu faul. Eine neumodische Sprachabfrage! Ein Mikrofon war neben dem Türknauf angebracht. Nur ein gesprochenes Wort konnte den Mechanismus in Gang setzen.
Heinz war jedoch nicht unvorbereitet. Vierzig Jahre lang hatte er in dieser Firma gearbeitet! Mit einem feuchten Händedruck hatte man ihn gestern entlassen. Außerdem wollte man ihm noch die Schuld dafür unterjubeln, dass die Bücher nicht stimmten. Ein paar kleine Manipulationen, die dem Finanzamt aufgefallen waren, konnte man am besten jemandem zuschieben, der bald nichts mehr mit der Firma zu tun hatte. „Nicht mit mir“, dachte Heinz. Auch als kleiner Buchhalter hatte er sich nie etwas gefallen lassen.
Er musste zwar immer draußen warten, wenn der Chef an den Tresor ging, doch die Sekretärin hatte mal leichtfertig gesagt: „Jetzt gibt er wieder das Zauberwort ein!“ Zauberwörter gab es nicht so viele und die Akten, die im Tresor waren, würden Heinz von seiner Schuld befreien und die Firma schwer belasten. Einfacher konnte es doch nicht sein.
Nachdem er wie ein gewöhnlicher Einbrecher hier eingedrungen war, rätselte er vor dem Mikrofon nach dem richtigen Wort. „Hokuspokus!“ Nichts geschah. „Abrakadabra.“ Wieder nichts. Ihm fiel auf, dass er zu unprofessionell an die Sache herangegangen war. Wütend auf sich selbst trat er gegen den Schreibtisch, doch außer einem schmerzenden Zeh änderte sich seine Lage nicht. „Sesam öffne dich!“ Okay, das war blöd. „Simsalabim“ war ihm auch einen Versuch wert. Mal in anderen Bahnen denken. Wie wär’s mit: „Magie!“ Oder „Zauberei!“ Das Mikrofon blieb unerbittlich. Vielleicht stimmte seine Tonlage nicht oder die Silben mussten deutlicher betont werden. So eine dumme Maschine hatte unter Umständen Probleme mit seinem Dialekt.
Unzählige Versuche später, draußen dämmerte bereits der Morgen, schlug seine Wut mehr und mehr in Verzweiflung um. Den Tränen nahe schlug er auf die Eisenplatte des Tresors ein und brüllte: „Nun geh’ doch endlich auf, du Scheißteil!“
Er sank auf dem Boden zusammen und winselte: „Bitte!“
Der Riegel klickte in der Wand und der Tresor sprang auf.