Читать книгу Gute und Böse Nachtgeschichten - Markus Walther - Страница 20
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Das Raumschiff „Phönix“ war außergewöhnlich alt. Seit Jahrzehnten schwebte es nun tapfer durch die unbeugsame Nacht des Weltraums. Ohne Halt hatte es seine Passagiere durch die Lichtjahre transportiert. Mark 025 war der eine der beiden Passagiere, die zurzeit an Bord waren. Eve 026 war die andere.
Der Erziehungsroboter hatte beiden von klein auf beigebracht, dass sie Nachkommen des „Clans“ sind. Die Bedeutung dieser Worte jedoch war in der zurückliegenden Zeit verloren gegangen. Das Wort „Familie“ bedeutete für sie nur, dass sie die Kinder von Eve 025 waren. Sie wussten, dass Eve 025 sie durch künstliche Befruchtung empfangen hatte. Das Genmaterial, das einmal Eve 026 werden sollte, war mit dem ihren identisch. Genauso wie der Gencode von Mark 025 mit dem von Mark 024 gleich war.
Mark 024 war bei einem Unfall umgekommen, noch bevor die beiden auf die Welt kamen. Eve 025 starb bei der Geburt von Eve 026. Somit waren sie die erste Generation des „Clans“, die allein aufwuchs.
Mark Croscniz und Eve Houland waren ihre Ahnen. Sie hatten den „Clan“ geschaffen, um sich selbst einen Teil der Unsterblichkeit zu sichern. Ihre Ethik längst begraben, ließen sie das Raumschiff bauen, gefüllt mit dem automatischen Befruchtungslabor, dem Robotersystem und dem Computer. Der Computer lehrte jede neue Generation die Regeln des „Clans“, die vor langer Zeit formuliert worden waren. Es waren Gesetze, die der Computer auch durchsetzte.
Eine Regel trat durch das verfrühte Ableben der Eve 025 in Kraft. Sie besagte, dass die künstliche Befruchtung von Eve 026 sofort eingeleitet werden musste, wenn sie das unterste statistische Alter der Fruchtbarkeit erlangt hatte. Der Fortbestand des „Clans“ musste gesichert sein.
Eve 026 lag nackt auf dem sterilen Tisch des Labors. Mark 025 stand neben ihr und hielt ihre Hand. Er versuchte, ihr damit ein wenig Trost zu spenden, denn sie hatte schreckliche Angst. Wimmernd beobachtete sie die Roboterarme, die, im ganzen Raum verteilt, an den Vorbereitungen des medizinischen Eingriffs arbeiteten. Die DNA-Kopien waren schließlich bereit.
„Wird es wehtun?“, flüsterte Eve.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Mark unsicher. Mit einem Taschentuch wischte er ihr eine Träne von der Wange. Sie schluchzte erstickt.
„Ich möchte nicht, dass die Maschine das mit mir macht!“
„Willst du, dass sie uns bestraft?“
Fotorezeptoren glitten von der Decke hinab und scannten Eve. Sie zuckte zusammen.
„Ich will hier raus.“ Aus den Seiten des Tisches glitten Haltebügel heraus. Zwei Roboterarme drückten zunächst ihre Arme und dann ihre Beine hinein. Die Stellen ihrer Haut, an denen die Bügel zudrückten, verfärbten sich weiß. Mark sah in ihr schmerzverzerrtes Gesicht und ließ sie entsetzt los. Er musste ihr helfen! Mit seinen Händen versuchte er, einen der Haltebügel aufzudrücken. Dabei riss er sich die Haut auf, doch das Metall blieb unerbittlich an seinem Platz. Ein weiterer Roboterarm näherte sich Eve. An seinem Kopfteil war die Spritze mit der befruchteten Eizelle.
Mark blickte sich verzweifelt um. Der Wasserspender! Er nahm ein Reagenzglas aus dem Wandregal, kippte den Inhalt auf den Boden und füllte es bis zum Rand mit Wasser. Dann griff er nach dem Roboterarm, stemmte ihn von Eve weg und schüttete das Wasser über die Kabelstränge der Maschine. Funken blendeten ihn, bis der Raum in Dunkelheit versank. „Eve?“, fragte er unsicher und nach Atem ringend.
„Hier!“, erklang es kläglich hinter ihm. Die Bügel hatten sich gelöst und sie freigegeben.
„Verschwinden wir!“, rief Marc ihr zu.
Der Kurzschluss hatte das System lahmgelegt. Der Computer fuhr sein Backup hoch. Dann schickte er Drohnen aus, um Eve 025 zu suchen. Zuletzt hatten die Sensoren bei den Rettungskapseln Bewegungen gemeldet.