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II. Kants Gedanken als „glühende Kohlen“ und der „theologischkantische Gang“ in Tübingen
ОглавлениеJakob Friedrich Abel wirkte als Vermittler kantischer Gedanken in Stuttgart und Tübingen. Er kann in Stuttgart als Lehrer von Schiller und Hegel gelten und lehrte dann in den Jahren des Studiums von Hölderlin, Hegel und Schelling als Professor am Tübinger Stift. Kant hatte in seinen Prolegomena die auch von Abel vertretene Philosophie des gesunden Menschenverstandes scharf attackiert, worauf Abel 1787 mit seiner Schrift Versuch über die Natur der speculativen Vernunft. Zur Prüfung des Kantischen Systems reagierte. Mit einer Distanzierung von einigen Positionen Reids und Beatties versucht er, das „alte Gebäude der Metaphysik zu retten“. Eine Ableitung aus Erfahrung scheitert an der Unmöglichkeit einer vollständigen Induktion, sodass Zugeständnis von Abel an den „zweifelsüchtigen“ Hume. Aber der Erweis von Kants Auffassung, dass wir nie ohne Raum und Zeit anschauen, nie ohne Kategorien denken, kann ebenfalls nicht durch Erfahrung erfolgen, also nur a priori, womit Kant in den Zirkel gerate, den Apriorismus durch den Apriorismus zu rechtfertigen.16 Nachdem also die Begründungen durch die Mittelbarkeit der Erfahrung als auch das Apriorische gescheitert wären, setzt Abel auf die Unmittelbarkeit einer Abstraktionskraft, auf unmittelbar gegebene Tatsachen des Bewusstseins in Form ursprünglicher psychologischer Gesetze. Letztere seien als vorfindliche, unwillkürliche und notwendige Operationen unseres Verstandes gewiss. Abel setzt damit auf die empirische Psychologie als Grundwissenschaft, will „aber aus den Gesetzen, unter denen die Seelenvermögen tätig sind, zugleich die Möglichkeit apriorischer Erkenntnisse rechtfertigen“17 – in Abels Worten: „apriori in der Seele“. Zu den „wirklichen äußeren Dingen“ kämen wir durch die Übertragung dieser inneren Gesetze auf den Gegenstand, des Subjektiven auf das Objektive. Aus der unwillkürlichen Abstraktion „Kraft“ etwa wird auf ein Existierendes geschlossen, in dem die Kraft enthalten sei. Raum und Zeit können so nicht bloß als Anschauungsformen genommen werden, sondern auch als wirkliche Bestimmungen eines wirklichen Dings. Hier verbinden sich demnach beachtenswerte Einwände gegen Kant mit den Konzepten der Legitimation auf der Grundlage des puren Findens von Tatsachen des Bewusstseins, einer Versicherung von Facta des Bewusstseins, also der These einer unmittelbaren Gewissheit, stets aber auf der Basis der Behauptung, dass es unmittelbare sinnliche Erkenntnis gebe.
Wie bei Reid und Beattie verschränkt sich das Common-sense-Philosophieren mit Gedanken der Offenbarungsreligion.18 Nachdem die genannten Schotten ihrem Landsmann David Hume skeptische Leugnung des christlichen Glaubens vorwarfen, wird nun Kant vorgehalten, dass er mit seiner in der Kritik der reinen Vernunft vorgetragenen Auffassung, wonach alles, was kein Gegenstand möglicher Anschauung, daher auch kein Gegenstand unseres Wissen sein könne, die Theologie fundamental angreife und Gott zu einer regulativen Idee zurückstutze. Laut Abel, der eine Identität von christlicher Religion und Vernunft behauptet, ist es „nach Gesetzen des menschlichen Verstandes notwendig, ein die Welt nach Willkür änderndes, alle Glückseligkeit zeugendes Wesen, einen allmächtigen, allwissenden und allgütigen Gott anzunehmen“. In der Rehberg-Rezension zu Kant wird dies thematisiert, speziell der Gedanke der Vereinbarkeit der sonderbarsten metaphysischen Spekulationen mit der Religion. In der kantischen Philosophie sei ein „skeptischer Atheismus“ am Werk. So werde behauptet, dass die Spekulationen über das, „was allen Erscheinungen zum Grunde liegt, und über den Begriff des Unbedingten und Bedingten für die Religion ganz unfruchtbar sey, und alle anscheinenden Beweise, die sie gewähren, auf blosse Täuschung hinauslaufen.“ Über die Beschaffenheit von Kants Ideen kann schlechterdings nichts bekannt werden, sie seien „erkenntnisleer“ und „gar keiner erkennbaren Bestimmung fähig, und bezeichnen also an sich nichts, sondern deuten nur an, dass das gesammte Feld der Erscheinungen noch auf etwas ausser sich hinweise, dessen Daseyn daher nicht erkannt, sondern nur geschlossen wird, und nothwendig vorausgesetzt werden muss.“19 Ausdrücklich findet auch das System Spinozas in diesem Kontext Erwähnung, verbunden mit der Attacke des Rezensenten auf den Spinozismus als Erzdogmatismus, Skeptizismus und Atheismus, verbunden mit dem Hinweis auf die „unlängst erschienene vortreffliche Kritik der praktischen Vernunft“.20
Hölderlin, Hegel und Schelling erlebten wie vorher Diez und Niethammer in ihren Studienjahren am Tübinger Stift höchst turbulente Debatten um den Gehalt der kantischen Philosophie. Dort herrschte in dieser Zeit ein spezielles geistiges Klima, das von den Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der Revolution in Frankreich und deren Gegnern, zwischen den Theologieprofessoren – in erster Linie Gottlob Christian Storr, Johann Friedrich Flatt und Johann Friedrich LeBret – und den Anhängern der neuen Philosophie unter den Studenten und Repetenten geprägt war: „Nirgends wurde der Kampf zwischen der Autonomie der Vernunft und der Autorität von Gottes Wort so leidenschaftlich geführt wie in Tübingen zur Zeit der französischen Revolution.“21 Schelling attackiert einige seiner Professoren heftig: Sie würden „einige Ingredienzien von der Oberfläche des Kantischen System herausnehmen“ und damit ihre theologische Position stärken wollen: „Alle möglichen Dogmen sind nun schon zu Postulaten der praktischen Vernunft gestempelt, und wo theoretisch-historische Beweise nimmer ausreichen, da zerhaut die praktische (Tübingische) Vernunft den Knoten.“22 Die ganze Bandbreite der kantischen Philosophie stand zur Debatte: Freiheit, das Gespenst des Ding an sich, theoretische und praktische Vernunft, die zwei Stämme Sinnlichkeit und Verstand, das Ich und die Apperzeption, Idealismus und Realismus, Religion, Tugend und Glückseligkeit, Skeptizismus, die Manier des Postulierens, Glauben und Wissen.
Die jungen Tübinger Wilden waren gegenüber den alten Autoritäten und neuen Heroen der Philosophie nicht geneigt, ihren „Nacken zu beugen“ (Hegel), auch nicht im Blick auf Kant. Gerade auch die kantische Transzendentalphilosophie muss, entsprechend ihrer eigenen Forderung, vor dem Gerichtshof der Vernunft bestehen, man muss auch im Angesicht dieses neuen Evangeliums nicht auf die Knie fallen, sondern gut kantisch den Mut haben, sich der eigenen Vernunft zu bedienen. Man muss selbstbewusst in die Höhle des Königsberger Löwen eintreten, die skeptische Prüfung kann auch hier nicht suspendiert werden. Die Kritik der kritischen Philosophie verlangt großen Respekt vor dieser Revolution in der Denkungsart, hat jedoch unvoreingenommen und ohne Rücksicht auf den berühmten Namen zu erfolgen.
Die sich mit Blick auf die in Frankreich begonnene politische Formierung einer modernen Ordnung vollziehenden Kontroversen um die Transzendentalphilosophie Kants wie auch die Rousseau’schen Gedanken bilden den Rahmen. Wichtige Beiträge zu dieser „konstellatorischen Dynamik der Debatte im Stift“ liegen inzwischen vor.23 Die Rede vom „theologisch-kantischen Gang“ bleibt dabei doppeldeutig und spielt sowohl auf die Kontroverse zwischen der Tübinger supranaturalistischen Theologie (Storr, LeBret, Flatt, Süßkind, Rapp) einerseits und Kant andererseits, als auch auf die Symbioseversuche von Tübinger Dogmatik und kritischer Philosophie an. Nach der durch den Kreis um Diez und Niethammer repräsentierten ersten Generation von philosophischen Rebellen begann ab 1788 der intellektuelle Aufstieg der zweiten Generation mit ihren Helden Hölderlin, Hegel und Schelling.24 Zudem eröffneten zeitgleich Fichte und Kant mit ihren Religionsschriften und die entsprechenden Verteidigungsstrategien der Tübinger Theologen eine neue Phase, sodass die Troika sich vor einer veränderten Herausforderung wiederfand. Man steht vor einer schier unüberschaubaren Konstellation mit verschiedenen Frontlinien: etwa die Streitsache zwischen den Protagonisten der Tübinger Theologie und den Vertretern einer natürlichen Religion bzw. Volksreligion, die Kontroversen zwischen Tübinger Supranaturalisten und den Kant-Evangelisten à la Diez sowie den Kant-Fortsetzern Reinhold und Fichte.25
In Anspielung auf Schiller hielt Schelling seinen Freund Hegel für berufen, „vollends die letzte Tür des Aberglaubens zu verrammeln“‘ (Br I, 21) und einen gewichtigen Beitrag beim Ausjäten des „alten Unkrautes“ zu erbringen. Mit dem „Verrammeln“ erinnert Schelling vielleicht an Schillers Rousseau-Gedicht: „Nacht und Dummheit boshaft sich versammeln, / Deinem Licht die Pfade zu verrammeln“.26 Es bestand die Herausforderung, einer der einflussreichsten Strömungen der evangelischen Theologie auf Augenhöhe zu begegnen und ihr Paroli zu bieten – der Storr’schen Schule des Supranaturalismus. Ähnlich schwierig gestaltete sich die Tübinger Herausforderung im Angesicht der Rezeption von Kant und des Kantianismus seitens der Theologen und deren Reaktionen auf den Königsberger Philosophen und Fichte in Form eines „neuen kantisch-philosophischen Supernaturalismus“ à la Reinhold, was zur Verteidigung wie zur Kritik einzelner Lehrstücke der kantischen Philosophie führte. Auch tritt Spinozas Monismus als eine mit Kant ernsthaft konkurrierende Konzeption vor Augen, zumal Professoren im Stift wie Flatt und LeBret diese „Spinozisterei“ als Atheismus zu diskreditieren suchen.27 Den legendären Lessing-Satz: „Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich – hen kai pan! Ich weiß nichts anders“ zitiert Schelling fast wörtlich in einem Brief an Hegel (Br I, 22); dem Hölderlin-Eintrag in Hegels Stammbuch ist das hen kai pan hinzugefügt (Br IV/1, 136).
In zarter Differenz zur harschen Polemik Schellings – „Erklärung aller Dogmen zu Postulaten der praktischen Vernunft“ – bringt Hegel später seine klassische Formulierung von der listig-schlauen Vernunft ins Spiel: Unter dem „kritischen Bauzeug, das die Theologen zur Befestigung ihres gotischen Tempels herbeischaffen“, das „sie dem Kantischen Scheiterhaufen entführen, um die Feuersbrunst der Dogmatik zu verhindern, tragen sie aber wohl immer auch brennende Kohlen mit heim; – sie bringen die allgemeine Verbreitung der philosophischen Ideen“ (Br I, 17). Dies trifft auf Storrs wie auf Flatts Kant-Kritik und auf die öffentliche Flatt-Märklin-Debatte zu.28 Und die Kant-Widersacher lieferten durchaus bemerkenswerte Argumente wie etwa die skeptischen Einsprüche gegen Kant und Reinhold seitens Flatts, eines „Selbstdenkers“ (Fichte), einer der „scharfsinnigsten und liberalsten Bestreiter der Kantischen Philosophie“.29 Für den Gedanken des Göttlichen sind Flatt zufolge keine metaphysischen Ideen erforderlich, sondern dieser Glaube ist in „Erscheinungen der Natur“ und im „Wesen des menschlichen Verstandes“ gegründet. Während Flatt den von Kant vorgetragenen moralischen Überzeugungsgrund vom Dasein Gottes schätzt, jedoch die göttliche Autorität nicht als bloße Hypothese sieht, mausert sich der Tübinger Repetent Rapp nach anfänglichen Sympathien für Kant zum dezidierten Anhänger des Theologen Storr. Rapp hatte sich in seiner Jenaer Zeit stark an Kant angenähert – die Vernunft sollte demnach zur höchsten Richtschnur der Handlungen gemacht werden. Aus Jena war er jedoch als „der entschiedenste Kantianer, aber zugleich auch als der entschiedenste Storrianer zurückgekommen“.30 Der Streit um die Auslegung der kantischen Philosophie, die Spannung zwischen begeisterter Kant-Rezeption und Kant-Kritik, die Konfrontation verschiedener Stellungnahmen zum „Kantischen Kriticismus“ prägen wesentlich das geistige Klima während der Tübinger Jahre. Diese Debatten erhalten Gewicht für die – im Unterschied zu den erzkantianischen Kommilitonen Renz und Märklin – eben nicht von der Kantomanie Infizierten Hölderlin, Hegel und Schelling, denen es um einen ausgewogenen, differenzierten Blick auf die kantische Denkungsart zu tun war, um die unvoreingenommene Prüfung der Positionen der Transzendentalphilosophie. Wie kann die neue Denkungsart ihre Stichhaltigkeit belegen?