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I. Am Anfang war Kant
ОглавлениеAm Anfang war Kant – darin sind sich die drei Hauptrepräsentanten des Deutschen Idealismus – Fichte, Schelling und Hegel – ganz einig, auch die wesentlich die nachkantische Ära mitprägenden Reinhold, Schiller und Hölderlin gingen damit konform, alles Denker, die Hegel als die „würdigen Nachfolger“ Kants ansieht.1 Diese Epoche einer Weltphilosophie wird noch heute von manchen, besonders von den gerade akademisch dominierenden Modephilosophien, ohne tiefgehende Prüfung trivialisiert oder gar diskreditiert und als überlebt verschrien. Diese Denkrichtung soll in die Mottenkiste der Philosophie oder ins Museum verbannt werden, man ruft das nachmetaphysische Zeitalter aus. Oder man versucht, seitens anderer heutiger Strömungen, den Deutschen Idealismus zu vereinnahmen, auf Kosten angemessener Interpretationen. Das radikal „Unzeitgemäße“ dieser Denkepoche bringt vielleicht den Geist unserer Zeit auf den Punkt. Diejenigen, die heute mit dem Strom der Zeit schwimmen, werden vielleicht in Jahrzehnten mit Verwunderung feststellen, dass „die Werke, die sie in ihrer Polemik vom Hörensagen als längst widerlegte Irrtümer ansahen, das substantielle Denken, den Geist ihrer Zeit enthalten.2 Solange laut Friedrich Nietzsche das noch als unzeitgemäß gilt, „was immer an der Zeit war“ und jetzt „mehr als je an der Zeit ist und nottut“ – nämlich Wahrheit „zu wagen und versuchen“ –, müsse man unzeitgemäß sein.3 Was Schelling über die Nachfolger Kants schrieb, mag auch für die gesamte, hier behandelte Denkströmung gelten: „das reine Gold dieser Philosophien von den Zutaten der Zeit zu scheiden und in reinem Glanze darzustellen“.4
Diese Einleitung zu dem von mehreren Autoren gestalteten Band Kant und der Deutsche Idealismus – Andrea Esser (Jena), Martin Bondeli (Bern), Markus Gabriel (Bonn), Anton Friedrich Koch (Heidelberg), Andreas Schmidt (Jena) und Klaus Vieweg (Jena) – will und kann die Überlegungen der behandelten Denker nicht vorwegnehmen und kann natürlich keineswegs ein Gesamtbild zeichnen. Es sollen am Anfang, im Sinne eines Handbuchs, nur wenige, ausgewählte Hauptstränge der fulminanten Denkbewegung nach Kant angedeutet werden. Die Vorbemerkungen beschränken sich darauf, knappe Umrisse und erste Orientierungspunkte für einen Weg durch den schwer zu durchdringenden Dschungel dieser von Kant ausgehenden Entstehungsperiode der neuen Denkbewegungen zu zeichnen. Die einzelnen Beiträge zu Kant (Esser), Fichte (Schmidt), Schelling (Gabriel) und Hegel (Koch) sowie zur Elementarphilosophie Karl Leonhard Reinholds und ihren Folgen (Bondeli) werden dann unterschiedliche Perspektiven auf diesen „Honeymoon der deutschen Philosophie“ (Nietzsche) eröffnen, einer philosophischen Strömung, die in all ihrer Differenziertheit und Varianz ihre Strahlkraft auch international behauptet. Ein Handbuch kann nur ausgesuchte Hauptpunkte auf der Landkarte dieses Denkraums erschließen, mögliche Zugänge dafür öffnen, Aufmerksamkeit für ein tieferes Studium erzeugen.
Dieter Henrich hat im Rahmen seiner bahnbrechenden Konstellationsforschungen die treffliche Metapher der Supernova für die Philosophie um 1800 gebraucht. Ähnlich einer kosmischen Supernova ereignete sich in den Jahrzehnten nach Kants Kritik der reinen Vernunft eine Helligkeitseruption im philosophischen Universum, die intellektuelle Sphäre erlebte eine Explosion, durch welche immense geistige Energie freigesetzt wurde, bis hin zum scheinbaren Verlöschen dieser Himmelserscheinung.
Die Initialzündung für diese Revolution in der Denkungsart schreiben seine kreativen idealistischen „Nachfolger“, die hier zunächst zu Wort kommen sollen, zweifellos Kant zu. Mit dieser exorbitanten Wertschätzung – Grundlegung einer neuen philosophischen Betrachtungsweise – geht die Auffassung einher, dass Kant nur den Anfang, den Beginn repräsentiere, den Übergang von einem Alten, Überlebten zum Neuen. Schelling verortet Kant „an der Grenze zweier Epochen in der Philosophie“, als einen Wendungspunkt von der überkommenen zu einer völlig neuen Denkungsart, die er „negativ-kritisch“ vorbereitet habe. Ähnlich „seinem Landsmann Copernicus, der die Bewegung aus dem Centrum in die Peripherie verlegte, kehrte er zuerst von Grund aus die Vorstellung um, nach welcher das Subjekt unthätig und ruhig empfangend, der Gegenstand aber wirksam ist: eine Umkehrung, die sich auf alle Zweige des Wissen wie durch eine elektrische Wirkung fortleitete“.5 Diese mit Kant einsetzende „ideale Revolution“ in Deutschland könne als Komplement der „realen Revolution“ in Frankreich gesehen werden.6 Ungeachtet des verbreiteten Missverstandes, der von einigen seiner Erläuterer und Anhänger geschaffenen Karikaturen oder schlechten Gipsabdrücke, ungeachtet der Wut bitterer Gegner wird „das Bild seines Geistes durch die ganze Zukunft der philosophischen Welt strahlen“.7
Insofern Kant laut Fichte der Stifter der Transzendentalphilosophie war, gilt er als der „erste Erfinder einer Weltsicht, welche die wohltätigste Revolution in der Menschheit hervorbringen wird“.8 Hegel zufolge begann mit Kant eine Revolution in der Form des Gedankens. Den Königsberger sieht Hegel als Inaugurator der „wichtigsten Revolution im Ideensystem“, er habe das Fundament für die neuere Philosophie gelegt. „Vom Kantischen System und dessen höchster Vollendung“ – so Hegel 1795 – „erwarte ich eine Revolution in Deutschland“.9 Die höchste Vollendung stehe somit noch bevor, die Ernte werde „einst herrlich sein“.10 So kann die Kant betreffende Positionierung eines Fichte, Schelling, Hegel, Reinhold, Schiller oder Hölderlin mit einer These von Schelling beschrieben werden: Die Revolution des Denkens wurde durch die kantische Kritik der reinen Vernunft ausgelöst, mit Kant ging die Morgenröte auf. Aber: „Wir müssen noch weiter mit der Philosophie!“11
An Kant scheiden sich seit den 80er-Jahren des 18. Jahrhunderts die Geister, er ist der große Zankapfel, zu seiner Denkungsart mussten sich alle philosophischen Strömungen positionieren – der Kampf um die Deutungshoheit der kritischen, transzendentalen Philosophie war in seiner Heftigkeit und Variabilität kaum zu überbieten. Das Spannungsfeld reicht von einfacher Zustimmung über Anknüpfung und Erneuerung bis hin zu Distanzierung und massiver Ablehnung – Um hier nur einige Repräsentanten der großen Kontroverse zu nennen –, die Vertreter der vormaligen Metaphysik und die Philosophen des gesunden Menschenverstandes versuchten, den Aufbruch zu stoppen oder einzudämmen. Die orthodoxen Buchstabenkantianer warteten stets auf die „Postkutsche aus Königsberg“, um die neuen Weisheiten zu empfangen, so Friedrich Schlegel, – sie seien „am Buchstaben stehen geblieben“ (Schelling). Die scharfen Kant-Kritiker legten beachtenswerte Einwände gegen die neue Philosophie vor (Aenesidemus Schulze, Flatt, Jacobi u. a.), die kritischen Fortsetzer entwarfen neue, an Kant anschließende Konzeptionen (Reinhold, Schiller, Fichte). Ähnlich der kosmischen Supernova erfuhr das Geschehen eine exponentielle Ausdehnung – von Königsberg aus nach Stuttgart und Tübingen, nach Jena und Berlin.
Das Themenspektrum der Positionierung zum Impulsgeber Kant war breit gestreut und kann hier nur knapp und verkürzt umrissen, schon gar nicht philosophisch eingeschätzt werden: Der Denker aus Königsberg galt als der Zermalmer der überkommenen Metaphysik, der eine Antwort auf die Frage suchte: Wie ist eine neue Metaphysik als Wissenschaft möglich? Die traditionelle, vormalige Metaphysik hatte man im Visier, es ging keinesfalls um ein nachmetaphysisches oder postmetaphysisches Philosophieren. Kant habe Fichte zufolge den „Ort des Wahren“ entdeckt, in der Apperzeption, im Ich liege „der Einheitspunkt aller Grundformen des Wissens“, jedoch habe er das Prinzip nicht zureichend offengelegt – „die Ausführung bleib hinter dem Vorsatz zurück“. In der „wissenschaftlichen Ausmessung des ganzen Gebiets der Vernunft [werde] das Wissen nicht in seiner absoluten Einheit gefasst“, sondern liege Fichte zufolge gespalten in verschiedene Zweige vor. Es geschieht „keine Deduction aus der Urquelle“, das Wissen werde „mehr empirisch gesammelt und durch Inductionsgesetze erhärtet“.12 Aus der Sicht von Schelling erfolgt eine wissenschaftliche Ausmessung des menschlichen Erkenntnisvermögens mit dem Ziel eines absoluten Erkennens als Vernunfterkenntnis, aber „die Prämissen fehlen noch“.13 Laut Hegel gewinnt die Philosophie die „große Form der Subjektivität“. Die Lehre von den synthetischen Urteilen a priori hält er für epochemachend, der Gedanke der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption zähle zu den tiefsten Einsichten. Mit der Betrachtung des Bewusstseins als solchem werde die Erkenntnis des Begriffs eingeleitet, das Paradigma der Bewusstseinsphilosophie konstituiert. Damit komme aber zugleich der grundlegende Dualismus dieser Denkungsart zum Vorschein, zwischen Bewusstsein und Gegenstand. Der Dualismus von Realismus und subjektivem Idealismus, des Myth of the Given und des Myth of the Construction, könne erst im spekulativen, begreifenden Denken eines absoluten Idealismus überwunden werden.
Karl Leonhard Reinhold, einer der Hauptakteure der nachkantischen Zeit, der eine Neubegründung der kritischen Philosophie mit Hilfe der Festigung des Fundaments philosophischen Wissen beabsichtigt, liefert eine klassische Formulierung des Paradigmas des Bewusstseins, nämlich, dass „die Vorstellung im Bewußtsein von ihrem Objekt und Subjekt unterschieden und auf beide bezogen werde“. Reinhold habe das „unsterbliche Verdienst, die philosophische Vernunft darauf aufmerksam zu machen, dass die gesamte Philosophie auf einen einzigen Grundsatz zurückzuführen“ sei, als dem Grundprinzip und dem Schlussstein. Mit der Frage nach einer Fundamental- oder Grundsatzphilosophie wird ein Kernproblem diagnostiziert – der Anfang der Philosophie, mit dessen Lösung die „Hälfte der Philosophie“ bewältigt wäre (Aristoteles). Fichte sah in Reinholds Überlegungen eine „unentbehrliche Vorstufe“ für seine Philosophie, Schelling „eine Stufe, über welche die Wissenschaft gehen musste“. Er stimmt aber Hegel zu, dass bei „Reinhold’s Versuchen, die Philosophie auf ihre letzten Prinzipien zurückzuführen, die Revolution nicht weiter führt“.14 Hegel betont später, dass bei Reinhold „ein wahrhaftes Interesse zugrunde lag, welches die spekulative Natur des Anfangs betrifft“.15 Aufgrund des dem Paradigma des Bewusstseins bzw. des Selbstbewusstseins inhärenten Dualismus – es wird etwas zunächst als unvereinbar erklärt und dann soll es wieder vereint werden – erwachse ein „unaufgelöster Widerspruch“ für alle Bewusstseinsphilosophien. Die Kritik zielt auf die cartesianische Zweiheit von res extensa und res cogitans sowie auf Kants Lehre von den zwei getrennten Stämmen des menschlichen Erkennens. Als entscheidend für die Überwindung des Dualismus gelten Spinozas Gedanke der Einheit der Substantialität und der frühe Schiller. Letzterer erhob gravierende Einwände gegen den kantischen Dualismus; mit seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen, die vom Berner Hegel bereits als „Meisterstück“ bewertet wurden, hätte er den Anstoß zum Hinausgehen über die Reflexionsphilosophien gegeben (Hegel).