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III. Die Kritik der reinen Vernunft und die zeitgenössische Philosophie
ОглавлениеDiese antidogmatische Position, die Kant in seinem Aufklärungsaufsatz 1784 in rhetorisch brillanten Formulierungen knapp und öffentlichkeitswirksam in die Diskussion einbringt, hat er – allerdings in sprachlich etwas sperrigerer Form – bereits in der 1781 erschienenen Kritik der reinen Vernunft ausführlich erarbeitet und im Rahmen einer umfassenden Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit gültiger Urteile über den Gegenstandsbereich sinnlich wahrnehmbarer Dinge zu begründen versucht. Dass diese Kritik keineswegs nur Gedanken formuliert, die bereits „in der Luft“ lagen oder den Zeitgeist „der“ Aufklärung zum Ausdruck brachten,20 zeigt sich nicht zuletzt daran, wie irritiert seine Zeitgenossen auf dieses Werk reagierten und welche erbitterte Gegnerschaft die darin entwickelten Überlegungen hervorriefen. Das lag einerseits an der Sache, in der sich Kant auch gegen gut etablierte philosophische Lehren seiner Zeit wandte: Viele seiner Ausführungen in der Kritik muss man als Angriffe verstehen, die sich sowohl gegen den Rationalismus – also gegen Wolff und seine Anhänger, die sogenannte Schulphilosophie, die sich im Anschluss an Leibniz herausgebildet hatte – richten, als auch gegen den Empirismus, der in der Tradition und Fortführung von Locke und Hume in ganz Europa ebenfalls immer mehr erstarkt war. Andererseits war wohl auch die Radikalität des Anspruchs provozierend, mit der Kant seine kritische Wende verbindet. Mit ihr sollte sich die Philosophie seiner Zeit so grundsätzlich verändern, wie vor ihm die umwälzenden Gedanken des Kopernikus zu einem gänzlich neuen Weltbild und zur Überwindung der geozentrischen Sichtweise geführt hatten.21 Kant beansprucht mit seiner Kritik nichts weniger, als die gesamte, sogenannte rationalistische Metaphysik, wie sie prominent von der Schulphilosophie vertreten wurde und zu seiner Zeit die Philosophie noch dominierte, auf ein neues, seiner Ansicht nach überhaupt erst wissenschaftliches, Fundament zu stellen. Zugleich sollte dieses wissenschaftliche Fundament abgesichert werden gegen die empiristische Skepsis, die nur die Erfahrung als ein Mittel gelten lässt, um zu Erkenntnissen zu gelangen.
Die Kritik der reinen Vernunft nahm sich daher vor, die im philosophischen Streit liegenden Strömungen der rationalistischen, also vorrangig auf begrifflichem Denken allein gegründeten Metaphysik einerseits und den von der Erfahrung ausgehenden Empirismus andererseits, auf die Tragfähigkeit ihrer Erkenntnisansprüche hin zu prüfen. Dabei wollte sie aber auch die jeweiligen Grundüberzeugungen, die von den Vertretern für sicher und vielleicht sogar unumstößlich richtig gehalten wurden – ganz im Sinne des aufklärerischen Programms –, kritisch in den Blick nehmen, sie mit der sokratischen Forderung nach Rechtfertigung (logon didonai)22 konfrontieren und gegebenenfalls diesen Ansprüchen Grenzen setzen.
Anderen Feldern der Wissenschaft – wie eben der Astronomie durch Kopernikus, der Physik durch Kepler und Newton und sogar der Logik – bescheinigt Kant schon solche wissenschaftlichen und kritisch geprüften Grundlagen. Vor allem die Metaphysik in ihrer schulphilosophischen Ausprägung hatte nach Kants Ansicht das kritische Denken noch nicht angemessen umgesetzt.23 Das lag seiner Ansicht nach daran, dass die schulphilosophischen Theorien sich die Fragestellungen von der Theologie24 vorgeben ließen. Sie alle versuchten die Frage nach der Existenz und dem Wesen Gottes, nach der Weltschöpfung, den Gesetzen und Bestimmungen, die den Lauf der wahrnehmbaren Welt regeln, und der Unsterblichkeit der Seele zwar auf der Grundlage logischer Analysen und Schlüsse, also philosophisch, zu beantworten, doch dabei reflektierten sie, wie Kant einwendete, nicht auch kritisch die Erklärungs- und Erkenntnisgrenzen der jeweils verwendeten Begriffe und Prinzipen. Trotz deutlicher Wertschätzung gegenüber Wolff und „der Schule“ hält er ihre Philosophie daher für weitgehend unaufgeklärt. Er bezeichnet sie, in einem durchaus abwertenden Sinne, insgesamt als „dogmatisch“25 und unkritisch. Seine Distanzierung von dieser Tradition vollzieht sich aber in einem längeren Entwicklungsprozess. Während er in seiner frühen Schrift Nova Dilucidatio von 1755 noch in Kontinuität mit der rationalistischen Schulphilosophie argumentiert, wird diese in späteren Untersuchungen und am prominentesten in der Kritik der reinen Vernunft (1781) von ihm explizit angegriffen und regelrecht demontiert. Die kantischen Angriffe zielen dabei keineswegs nur auf Nachbesserung bestimmter Theoreme der schulphilosophischen Theorien, sondern richten sich gegen deren grundlegendste Prinzipien.
Welche neuen Perspektiven Kants kritische Philosophie zu vermitteln versucht und welche Überlegungen und Thesen dadurch in die Diskussionszusammenhänge seiner Zeit eintreten, darüber gibt die Kritik der reinen Vernunft detailreich, genau und – wie schon die zeitgenössischen Leser beklagten – in einer nicht gerade leicht zu rezipierenden Weise Auskunft. Die wesentlichen Neuerungen werden in komprimierter Form auch in der, wohl bereits während der Abfassung der Kritik geplanten und von Kant unmittelbar nach deren Erscheinen in Angriff genommenen, kleinen Schrift Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783) zusammengefasst. Sie sind auch in der später erschienenen Vorrede zur überarbeiteten zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1784) eingegangen. Beide Texte sollten das Anliegen und die Kerngedanken der Kritik gleichsam in „Vorübungen“26 und zusammen mit der Korrektur der bereits eingetretenen Missverständnisse besser vermitteln. Schon die frühe Rezeption der Kritik zeigte, dass deren Gedanken in der Gelehrtenwelt keineswegs so interessiert, gründlich und wohlwollend aufgenommen wurden, wie Kant sich das erhofft hatte. Auch wenn in manchen Anzeigen und Rezensionen durchaus wertschätzende Urteile über seine Schrift gefällt wurden,27 zeichnete sich in diesen nicht auch schon ein tiefes Verständnis der kantischen Gedanken ab. Vielmehr war die erste Rezeption der Kritik der reinen Vernunft geprägt von einer wenig wohlwollenden Rezension, die in den Göttingischen Anzeigen zu gelehrten Sachen erschienen war und die fundamentale Einwände gegen Kants Projekt der Vernunftkritik formulierte.28 Nach Kants Auffassung drückte diese Rezension ein Unverständnis aus, das er zwar auch auf die Arroganz und das intellektuelle Unvermögen des Rezensenten zurückzuführte, aber – zumindest zu einem gewissen Teil – auch auf seine fehlende Gabe, die schwierigen Gedanken der Kritik in einer verständlichen Weise mitzuteilen. Der Geringschätzung und dem mangelnden Verständnis, die seinem Werk entgegengebracht wurden, dessen Gedanken er „[…] mehr als 12 Jahre hinter einander sorgfältig durchgedacht hatte […]“,29 wollte er daher nach Kräften entgegentreten und die zentralen Anliegen der Kritik der reinen Vernunft dazu noch einmal in knapper und übersichtlicher Form herausarbeiten.30 Auf die Prolegomena und die zweite Einleitung in die Kritik der reinen Vernunft werde ich daher auch im Folgenden Bezug nehmen, um zu verdeutlichen, worin die revolutionären Gedanken lagen, die der kritischen Philosophie nicht nur Bewunderung und Hochachtung, sondern auch tiefes Unverständnis und erbitterte Gegnerschaft einbrachten.
Schon die Frage, deren Beantwortung Kant sich explizit zur Aufgabe setzt, muss Unmut bei seinen Zeitgenossen erregt haben. Sie lautet: Wie ist Metaphysik überhaupt als Wissenschaft möglich? (Kant, AA IV, S. 327; vgl. Kant, KrV, B 22). Kant drückt in der Umformulierung dieser Frage in eine konkrete Aufgabe zugleich auch sein Verständnis von Wissenschaftlichkeit aus. Er meint, dazu müsse geklärt werden, wie das, was wir allein aus unserer Vernunft heraus erkennen (und nicht etwa unseren sinnlichen Wahrnehmungen entnehmen), einen „sicheren Gang“ (Kant, KrV, B vii) nehmen könne – denn andernfalls werde dies unweigerlich immer nur ein „Herumtappen“ (Kant, KrV, B xiv) ohne nennenswerten Fortschritt bleiben müssen. Bereits in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft hatte sich Kant kritisch gegen die metaphysischen Theorien der Zeit gewendet, doch die Stoßrichtung, die er mit den Prolegomena und in der zweiten Auflage der Kritik dann einschlug, musste als ein fundamentaler Angriff wahrgenommen werden. Allein die Behauptung, dass die Wissenschaftlichkeit der Metaphysik überhaupt noch ein offenes und keineswegs befriedigend gelöstes Problem darstelle, konnte angesichts der zu Kants Zeit vorliegenden metaphysischen Systeme nicht anders denn als eine Provokation aufgenommen werden. Die umfassenden und berühmten Theorien von Leibniz und Wolff traten explizit mit dem Anspruch wissenschaftlicher Erkenntnis auf und waren als solche auch durchaus anerkannt. Leibniz bemühte sich gerade darum, das Verhältnis von Metaphysik und Wissenschaften aufzuklären und bestimmte die Philosophie als scientia, als Wissenschaft, im Unterschied zur empirischen Wissensgewinnung, der historia. In Absetzung von den scholastischen Lehren zielten seine Überlegungen auf den Entwurf einer modernen, „realen Metaphysik“.31 Diese sollte das Fundament für die anderen Wissenschaften bereitstellen, indem sie die allgemeinsten Bestimmungen der Gegenstände herausarbeitete, die in ihrer Erkenntnis zwar in Anspruch genommen, aber nicht selbst thematisiert wurden. Entsprechend ging es in dieser Metaphysik darum, den Begriff der Dinge bzw. der Gegenstände, ihren Status, ihre verschiedenen Seinsweisen und ihre Beziehungen sicher und notwendig gültig zu bestimmen. Leibniz entwarf die dazu erforderliche methodische Basis im Rahmen einer mathematischen Grundkonzeption, die dazu dienen sollte, einem differenzierten und sich weiter ausdifferenzierenden Wissenschaftssystem die erforderliche Einheit zu verschaffen.
Christian Wolff, der wesentliche Gedanken von Leibniz aufnahm, schloss an die Vorstellung der philosophischen Metaphysik als einer Wissenschaft an und bestimmte sie als die „Wissenschaft alles Möglichen“, mit der Folge, „daß alle Dinge, welche sie auch sein mögen, zum Gegenstand der Philosophie gehören müßen, sofern sie möglich sind, ob sie nun existieren oder nicht“.32 Auch in diesem Vorhaben ging es nicht darum, etwa beliebige Meinungen zu äußern oder eine Fülle von Erkenntnissen einfach zu versammeln. Ziel auch der Wolff ’schen Bemühungen war es, eine erklärende Fundierung dieser vielfältigen Erkenntnisse vorzulegen, um „alles, was man behauptet, aus unwidersprechlichen Gründen unumstößlich darzuthun“.33
Kants Fragen aber, mit denen er seine Kritik der reinen Vernunft eröffnet, vermitteln nicht nur den Anschein, dass es vor ihm noch keine wissenschaftlich gegründete Metaphysik gegeben habe, sondern sie legen darüber hinaus auch nahe, dass an den vorliegenden metaphysischen Systemen bislang auch noch keine gründliche Kritik geübt worden sei, und dass es zu ihnen keine tragfähigen Alternativen gebe. Beides musste auf seine Zeitgenossen irritierend wirken, zumal der Empirismus dezidiert jegliche Form von Metaphysik schon ausgeschlossen und auch unter den deutschsprachigen Gelehrten viele Anhänger gefunden hatte. Nicht nur Empiristen im Anschluss an Locke wandten sich kritisch gegen „Schoolmen and Metaphysicians“,34 sondern auch David Hume, welcher sogar von Kant selbst als „Wohltäter der Vernunft“35 gelobt wurde, weil er seiner Ansicht nach wichtige Einwände gegen die Metaphysik formuliert hatte.