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II. Kritisches Denken als Denken der Aufklärung

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Immanuel Kants eindringliche Mahnung zum selbstständigen, prüfenden Denken, sein berühmt gewordenes „sapere aude! habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“2 ist zur bündigen Formel aufgeklärten, kritischen Denkens und einer dementsprechenden „kritischen Philosophie“ geworden. Die von Kant zum „Wahlspruch der Aufklärung“ (ebd.) erkorene Aufforderung formuliert er in dem Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, der im Dezember 1784 in der Berlinischen Monatsschrift erschien.3 Es handelt sich dabei um einen Beitrag zu einer Debatte, an der sich nun auch Kant mit seinem Text beteiligt und den Begriff der Aufklärung mit seinen Bestimmungen maßgeblich für die weitere Philosophiegeschichte geprägt hat.

Die Diskussion entzündete sich zunächst an einer konkreten Fragestellung und wurde 1783 von Johann Erich Biester und Johann Friedrich Zöllner angestoßen. Biester, Mitherausgeber der Zeitschrift und Privatsekretär des preußischen Kulturministers, hatte sich mit der provozierenden These zu Wort gemeldet, dass man „die Geistlichen nicht mehr bei Vollziehung der Ehen“ bemühen müsse.4 Die Eheschließung, so argumentiert er, sei vorrangig ein „Kontrakt“, ein bloßer Vertrag also, zu dessen Beschluss und Stabilität es in einer aufgeklärten Gesellschaft nur des Staates, allenfalls eines Zivilgerichtes, nicht aber eines Geistlichen und „all der Ceremonien“5 bedürfe. Der Berliner Prediger Zöllner wendet dagegen ein, dass mit der Abschaffung solcher Traditionen nicht nur die Heiligkeit der Ehe, sondern auch die „Grundsätze der Moral“ und überhaupt die Sitten der Menschen untergraben würden. In einer Fußnote seiner Entgegnung fordert Zöllner dann, dass man, bevor man auf solche Weise aufkläre, zunächst einmal die Frage „Was ist Aufklärung?“ beantworten müsse.6

Diese Kontroverse, die sich mit der scheinbar speziellen Frage der Eheschließung beschäftigt, ist paradigmatisch für eine fundamentale Auseinandersetzung, die schon lange vorher, nämlich mit den ersten aufklärerischen Bestrebungen, begonnen hatte. In dieser geht es um das grundsätzliche Verhältnis, in dem die Vernunft als die zentrale Instanz, die von allen aufklärerischen Begründungen als einzige Autorität akzeptiert und angenommen wird, zur Religion steht. Deren Vertreter und Institutionen haben zumindest bis zur Epoche der Aufklärung diese Autorität für sich beansprucht. Nun aber steht die Frage zur Diskussion: Sind beide Autoritäten – Vernunft und Religion – miteinander vereinbar? Schließen sich ihre Ansprüche wechselseitig aus? Müssen sich religiöse Autoritäten vielleicht sogar eine Prüfung nach vernünftigen Kriterien gefallen lassen und dann gegebenenfalls gegenüber der Vernunft zurückstehen? Solche Fragen nach dem Verhältnis von Vernunft und religiösem Autoritätsanspruch stellten sich – zumindest in Deutschland – vermehrt ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, nachdem das Zeitalter der Aufklärung in England und Frankreich längst begonnen hatten und religionskritische Debatten dort schon in vollem Gang waren.7 Eng verbunden mit diesen Debatten und der einhergehenden Erschütterung der religiös bestimmten Weltordnung waren auch die Fragen, welche konkreten Veränderungen im Denken und Handeln aus den Bemühungen um Aufklärung erwachsen müssten und welche vernünftigen Alternativen man an die Stelle überkommener, dogmatischer, kurz: unaufgeklärter Institutionen, Überzeugungen, Handlungen setzen solle. All dies aber, so versuchte Zöllner mit seiner Anmerkung klarzumachen, lässt sich nicht ohne eine begriffliche Bestimmung und Aufklärung über das, was Aufklärung selbst nun tatsächlich bedeuten soll, bearbeiten.

Unmittelbar vor Kant hatte sich zur Frage „Was ist Aufklärung?“ bereits der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn, eine wichtige intellektuelle und zugleich auch moralische Instanz, als „Sokrates“ seines Zeitalters bekannt, in derselben Berlinischen Monatsschrift zu Wort gemeldet. Sein Beitrag „Ueber die Frage: Was heißt aufklären?“8 bestand in einer abgewogenen, aber durchaus von mahnender Skepsis geprägten Stellungnahme zur zeitgenössischen gesellschaftlichen Situation. Moses Mendelssohn steht in der Tradition der Wolff ’schen Vollkommenheitslehre, erhebt aber die Vervollkommnung des Menschen in seiner zweifachen Bestimmung – sowohl als Mensch als auch als Bürger – zum Maß aller aufklärerischen Bestrebungen. Vor diesem Hintergrund beurteilt er den erreichten Grad und die gegebene Möglichkeit des Fortschreitens zu tatsächlich aufgeklärten gesellschaftlichen Verhältnissen mit verhaltener Zuversicht. Im Besonderen erscheint ihm dies noch nicht in Bezug auf die rechtliche und bürgerliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung erreicht. Der Gleichstellung stehe in der deutschen „Nation“ (die historisch gesehen als solche noch nicht existierte) und Gesellschaft nicht zuletzt das „Uebermaaß ihrer Nationalglükseligkeit“ entgegen. Darin aber erkannte Mendelssohn eine Gefahr für jede gebildete Nation, weil dies „schon an und für sich eine Krankheit, oder de(n) Uebergang zur Krankheit“,9 darstelle und weil es die Nation gerade bei voller Entfaltung in Gefahr bringe, „zu stürzen“.10 Moses Mendelssohns Skepsis sollte durch die Entwicklungen, die schon wenige Jahrzehnte später ein-, und sich dann im 20. Jahrhundert in barbarischen Ausprägungen fortsetzten, in erschütternder Weise bestätigt werden.

Aus einer deutlich optimistischeren Perspektive heraus nähert sich Kant dem Thema: Sein Aufruf zur Mündigkeit nimmt gleich größere (und damit auch allgemeinere) Entwicklungslinien in den Blick. Der Text vermittelt trotz kritischer Diagnose der noch herrschenden Unmündigkeit am Ende doch recht zuversichtliche Aussichten; sie dürften Mendelssohn vor dem Hintergrund seiner persönlichen, oft leidvollen Erfahrungen mit den Ressentiments seiner Zeitgenossen gewiss eher fremd gewesen sein. Kant nämlich meint: Wenn einer Gesellschaft auch nur eine einzige Bedingung von Seiten der Machthaber gewährt werde, nämlich: die Freiheit, „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“,11 dann werde sich ein Prozess der Aufklärung – gesamtgesellschaftlich und in der Folge auch global – letztlich unaufhaltsam in Gang setzen und voranschreiten.

Die aufklärerische Ausrichtung dieser Entwicklung ist nach Kants Ansicht nicht etwa dadurch sichergestellt, dass alle Beteiligten sich schon vorab darüber einig wären, was Aufklärung ist und worauf sie zielt. Vielmehr müsse sich auch die konkrete Bestimmung dessen, was unter Aufklärung überhaupt zu verstehen sei und wohin sie führen solle, ihrerseits in einem sogenannten „öffentlichen Vernunftgebrauch“12 und in den darin geführten Kontroversen schrittweise herausschälen.13 Der öffentliche Vernunftgebrauch bezeichnet zunächst den Austausch unter Gelehrten, die sich zu Themen von öffentlichem Interesse schriftlich äußern. Dieser Diskurs erlangt nach Kants Ansicht aber gerade aufgrund seiner Publizität, d.h. der für alle Beteiligten sichtbaren Pluralität der Meinungen, auch eine kritische und prüfende Kraft. Denn die in diesem Austausch gewonnenen Einsichten müssen in der öffentlich geführten Auseinandersetzung argumentativ begründet werden und, so könnte man diese Überlegung aus einer pragmatistischen Perspektive heraus deuten, sich dabei zugleich auch in der gesellschaftlichen Praxis bewähren.14 Auf diese Weise zeigt sich, ob sie tatsächlich auch vernünftige Einsichten sind. Vernünftigkeit, so würde ich Kants Überlegungen in dem Aufklärungstext interpretieren, stammt damit nicht etwa aus einer besonderen individuellen Fähigkeit oder aus einem Vermögen, das zur Prüfung beliebiger Fragen und Themen als Maßstab gleichsam von außen an die verschiedenen Meinungen über eine Sache angelegt werden könnte. Ebenso wenig geht sie aus einem besonderen Standpunkt hervor, den eine einzelne Untersuchung oder Debatte dann als Standpunkt der Vernunft einfach für sich beanspruchen könnte. So wie Kant Vernünftigkeit im Zusammenhang der Publizität bestimmt, kann sie vielmehr nur in einem nach allgemeinen, intersubjektiven Gesichtspunkten und dabei in formal eingerichteten Verfahren gemeinsam erarbeitet und als Resultat gewonnen werden.

Es ist genau dieser formale Gedanke eines kritischen Verfahrens, der die kantische Philosophie kennzeichnet und den Kants kritische Philosophie auch auf anderen Gebieten des Philosophierens verfolgt. Sowohl für die Erkenntnistheorie, die Grundlagen der Naturwissenschaften und die Ästhetik als auch für die Moralphilosophie, politische Philosophie und Geschichtsphilosophie werden in den entsprechenden Schriften diejenigen Bedingungen expliziert, unter denen man in diesen Gebieten überhaupt zu Einsichten, die sich allgemein rechtfertigen lassen, gelangen kann. Die jeweiligen Bedingungen sind insofern formale Bedingungen (im Unterschied zu inhaltlichen und besonderen), als sie aus der Analyse der bloßen Form eines Urteils über den je spezifischen Gegenstandsbereich gewonnen werden, eines idealen Urteils also, das als unter allen Umständen und ganz allgemein für diesen Gegenstandsbereich als gültig angenommen werden kann.

Ein solches Verständnis von Aufklärung muss sich aber zunächst die Aufdeckung verborgener Vorurteile vornehmen und unbemerkte Irrtümer, vorsätzliche Unwahrheiten oder Scheinschlüsse, die in bereits etablierten Meinungen über die jeweiligen Gebiete wirksam geworden sind, explizit machen. Nur so können bestimmte Meinungen und Positionen von einseitigen oder interessegeleiteten Verzerrungen befreit, aber auch die Grenzen ihrer jeweiligen Ansprüche beurteilt und festgelegt werden. Diese Prüfung von Ansprüchen und die damit einhergehende Begrenzung ihrer Geltung, die etwa mit Erkenntnisurteilen, moralischen Urteilen, ästhetischen Urteilen, etc. jeweils verbunden ist, stellt eine zentrale philosophische Aufgabe des kantischen Kritizismus15 dar, wie er dann in den drei Kritiken, der Kritik der reinen Vernunft, der Kritik der praktischen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft, vollzogen wird.

In dem Text „Was ist Aufklärung?“ wird darüber hinaus nach den interpersonalen, rechtlichen und politischen Bedingungen des gesellschaftlichen Aufklärungsprozesses gefragt und nach dem Anteil, den eine sich entfaltende wissenschaftliche Diskussion innerhalb des ungehinderten öffentlichen Vernunftgebrauchs daran haben kann. Es geht dabei aber nicht nur um die philosophische oder einzelwissenschaftliche Aufklärungsleistung selbst, sondern auch um die damit verbundene Möglichkeit einer öffentlichen Urteilsbildung über die verhandelten Gegenstände. Auf diese Weise soll, so stellt es sich Kant vor, eine gemeinsame produktive Weiterentwicklung der jeweils diskutierten Meinungen und Gedanken angeregt werden, die dann schrittweise auch in immer größeren Kreisen der Gesellschaft verfügbar werden. Darin können die Überlegungen dann ebenfalls geprüft werden, sodass auf lange Sicht das gesamte „Publicum“16 aus der von Kant diagnostizierten „Unmündigkeit“17 herausfinden wird.

Kant verweist mit dieser Vorstellung von Aufklärung meines Erachtens aber auch auf eine Entwicklungsmöglichkeit, die nicht etwa von dem Entschluss einzelner Personen oder der hohen Bildung besonderer Experten abhängt. Vielmehr stellt er in Aussicht, dass ein Fortschritt zu immer größerer Aufklärung in Gang kommt, wenn eine bestimmte strukturelle, und damit auch überindividuelle Bedingung gegeben bzw. staatlich zugesichert wird: die zensurfreie öffentliche Diskussion. Dann nämlich, wenn der Austausch zwischen den Gesprächspartnern ohne autoritäre Einschränkung vollzogen wird, entwickelt sich ein kritisches, d.h. sich gegenseitig prüfendes und dabei korrigierendes Denken gleichsam zwangsläufig. Aufklärerische Vernunft, so wie sie Kant hier entwirft, tritt jeglicher Bevormundung und so z. B. auch einem vielleicht gutgemeinten paternalistischen Vorhaben, das darauf abzielt, andere aufzuklären, entgegen, ganz zu schweigen von aller diktatorischen Indoktrination. Aufklärung und kritisches Denken sind so gesehen nur als Selbstaufklärung und im aktiven Vollzug möglich. Dass es dazu eines gemeinschaftlichen Austausches, einer Debattenkultur, wie man heute sagen würde, bedarf, schien Kant wohl unmittelbar einleuchtend: Niemand kann sich alleine aufklären – ein Fortschritt im kritischen Denken ist nur im Rahmen eines sozialen Prozesses möglich, in dem Verfahren eingerichtet werden, durch die gegebene hierarchische Ungleichheiten ausgeblendet und damit überwunden werden. Idealiter ermöglichen sie dann einen Austausch von gleichgestellten und gleichberechtigten Personen, deren Stimme durch Geld, Macht und Ehre nicht auf- oder abgewertet wird, deren Meinung zunächst zumindest gehört werden muss und deren Anspruch auf vorurteilsfreie Gewichtung ihrer Argumentation anerkannt wird. Manche Interpreten haben es als „paradox“ bezeichnet, dass ein solcher Prozess gleichsam ohne den willentlichen Entschluss der Beteiligten entstehen könne. Sie wenden ein, dass es dazu doch zumindest einzelner Mündiger bedürfe, damit sich aufklärerische Perspektiven einstellen und sich die Mündigkeit schließlich auf die Gemeinschaft übertragen kann.18 Kant aber war wohl nicht der Meinung, dass es zur Aufklärung sogenannter großer Individuen bedürfe.19 Er verweist immer wieder auf die Dynamiken, von denen auch die „Unmündigen“ allein in und aus der wechselseitigen Bezugnahme im kommunikativen – mündlichen und schriftlichen, aber eben dabei öffentlichen – Gedankenaustausch erfasst werden. Allein der offene Dissens zwischen artikulierten Meinungen im öffentlichen Diskurs muss Vertreter dogmatischer Überzeugungen irritieren und destabilisiert schon dadurch die Autorität aller als alternativlos propagierten Positionen. Allein, dass alternative Meinungen und Positionen sichtbar werden, fordert seiner Ansicht nach zu einer kritischen Auseinandersetzung heraus und verlangt danach, dass Gründe und Rechtfertigung für die jeweils geäußerten Positionen gegeben werden müssen. Das ist einmal mehr der Fall, wie es die pragmatistische Perspektive deutlich macht, wenn die jeweiligen Positionen auch unterschiedliche Folgen im Handeln zeitigen und diese dann in der gesellschaftlichen Praxis miteinander vereinbar gemacht werden müssen.

Es sind diese Dynamiken, meint Kant, die unter der Bedingung freier, öffentlicher Rede einsetzen, durch die sich allmählich „passive Untertanen“ – nolens volens – zu aktiven Teilnehmern einer interpersonellen Diskursgemeinschaft, zu einem „Publicum“, oder wie es heute heißt: zu einer „kritischen Öffentlichkeit“ wandeln und sich dann gegenseitig aufklären können. Wer dagegen meint, diesen Prozess gleichsam von außen steuern und andere belehren zu können, um sie dann auf den Stand der eigenen Einsicht zu bringen, der klärt im kantischen Sinne gar nicht auf. Denn ohne den korrigierenden, lebendigen Austausch mit anderen kommt es nur zu individualistisch verkürzten Ansichten. Diese aber leben letztlich nur einen nicht-öffentlichen Dogmatismus aus, blockieren nach Kants Ansicht den selbstkritischen Austausch der interpersonalen Auseinandersetzung und verhindern damit auch den „öffentlichen Vernunftgebrauch“. Der öffentliche Vernunftgebrauch ist damit auch von anderen Formen der Verständigung und der Mitteilung zu unterscheiden, in denen es den Beteiligten allein um die Verlautbarung und Durchsetzung der eigenen Sichtweise, nicht aber um allgemeine Belange sowie die kritische Diskussion und Erweiterung der eigenen Sichtweisen geht. Die bloße Selbstdemonstration und die vernichtende Diskreditierung anderer Meinungen in sozialen Medien unserer gegenwärtigen Gesellschaften kann daher nicht als öffentlicher Vernunftgebrauch im kantischen Sinne bezeichnet werden.

Tatsächliche Aufklärung wird, so könnte man nun zusammenfassen, von Kant im Kern als ein interpersonaler und gesellschaftlicher Entwicklungsprozess verstanden. Dessen Dynamik können Autoritäten wie die Kirche oder der Staat vielleicht für eine gewisse Zeit unterdrücken und behindern, auf lange Sicht aber nicht aufhalten.

Kant und der deutsche Idealismus

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