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V. Das Antinomienproblem als Problem der Vernunft

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Das Antinomienproblem bezeichnet bestimmte Widersprüche, die sich im Zusammenhang mit der Iteration zahlenmäßig unendlicher Prozesse bei der Erkenntnisfindung notwendig einstellen. Die Einsicht in die Unabschließbarkeit solcher Prozesse scheint nämlich mit gleichermaßen zutreffenden Aussagen über dieselbe Sache, in denen nicht deren Prozesshaftigkeit, sondern deren Ganzheit und Einheit als gegeben behauptet werden, nicht vereinbar zu sein. Der Widerspruch tritt damit jeweils zwischen zwei Thesen oder Gesetzen ein, die beide Totalitätsaussagen über einen Gegenstand formulieren, dabei aber gleichermaßen für vernünftig und wahr gehalten werden. In solche Widersprüche verwickelt sich die Vernunft, wie es Kant an den vier paradigmatischen Begriffen von Welt, Seele, Freiheit und Gott zeigt. Sie kann nämlich in diesem Zusammenhang nicht entscheiden, „ob die Welt von Ewigkeit her sei, oder einen Anfang habe; ob der Weltraum ins Unendliche mit Wesen erfüllet, oder innerhalb gewisser Grenzen eingeschlossen sei; ob irgend in der Welt etwas einfach sei, oder ob alles ins Unendliche geteilt werden müsse; ob es eine Erzeugung und Hervorbringung aus Freiheit gebe, oder ob alles an der Kette der Naturordnung hänge; endlich ob es irgend ein gänzlich unbedingt und an sich notwendiges Wesen gebe, oder ob alles seinem Dasein nach bedingt und mithin äußerlich abhängend und an sich zufällig sei“.42 Die Unentscheidbarkeit zwischen den einander widersprechenden Antworten auf diese Fragen wirft nicht nur in Bezug auf die jeweils verhandelte Sache ein Problem auf. Ihr Auftreten ist in gewisser Weise auch ein „Skandal“ für die Vernunft selbst, denn schließlich bringen sie diese in ihrer Rolle als kritische Instanz in Misskredit, weil sich die Vernunft ja offensichtlich von alleine in diese Widersprüche verstrickt, ja sie sogar selbst hervorbringt. Das Antinomienproblem zwang Kant aber in eine Auseinandersetzung mit den Grundlagen der traditionellen Metaphysik. Denn deren Vertreter waren der Überzeugung, bereits alle fundamentalen Prinzipien etabliert zu haben, und auf dieser Grundlage mit ihren Systemen gerade nicht in Antinomien zu geraten.

Der Satz der Identität43, der Satz vom (ausgeschlossenen) Widerspruch44 und der Satz vom (zureichenden) Grund45 waren diese drei fundamentalen Prinzipien, mit denen vor allem Leibniz, Wolff und Baumgarten, aber auch insgesamt die Anhänger der schulphilosophischen Tradition meinten, die maßgeblichen Prinzipien in der Hand zu halten.

Der Satz vom zureichenden Grund wird dabei als universales Prinzip der Physik, das heißt des Daseins in Raum und Zeit, verstanden, während der Satz vom Widerspruch als das universale Prinzip der Mathematik gilt.46 Nach dem Satz vom Grund muss es für alles, was ist oder geschieht, einen hinreichenden Grund geben (es geschieht also nichts und es ist nichts ohne hinreichenden Grund). Dieses Prinzip wurde in der Schulphilosophie gleichermaßen für ontologische (also das Sein betreffende Tatsachenwahrheiten) wie auch für logische Grund-Folge-Beziehungen als gültig angesehen. Aus Sicht der traditionellen Metaphysik schien es auf dieser Grundlage möglich, in der Erkenntnis der Gründe immer weiter fortzuschreiten bis hin zu einem letzten, selbst nicht mehr iterierbaren Grund.

Kant zog aber gerade diese universale Geltung des Satzes vom Grund im Laufe seiner Auseinandersetzung mit der Schulphilosophie zunehmend in Zweifel. Der Anspruch auf universale Geltung dieses Satzes, so lautete seine Diagnose, führe die traditionelle Metaphysik – von ihren Vertretern unbemerkt – geradewegs in das Antinomienproblem. Schon in seiner Dissertation (1770) fordert Kant, dass die ontologische Reichweite des Satzes vom Grund eingeschränkt werden müsse, dass er auf das kontingente (zufällige) Sein zu begrenzen und damit auch deutlich zwischen dem Grund des Seins und dem Grund der Erkenntnis zu unterscheiden sei.

An dieser Kritik des schulphilosophischen Verständnisses des Satzes vom Grund treten die wesentlichen Transformationen deutlich hervor, die dieses Prinzip und der damit verbundene Begriff der Kausalität im Rahmen von Kants kritischer Wende erfahren. Diese Transformation lässt darüber hinaus auch die Tragweite von Kants Angriff auf die gesamte philosophische Tradition deutlich werden. Denn mit dem Satz vom hinreichenden Grund haben sich sowohl die Vertreter der rationalistischen Schulmetaphysik zu Wort gemeldet, als auch die Vertreter der von Locke und dem Empirismus inspirierten, pietistisch-antirationalistischen Lehre, wie etwa Christian Thomasius oder Christian August Crusius.

Kant und der deutsche Idealismus

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