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IV. Die kritische Wende als radikaler Mittelweg
ОглавлениеWorauf zielt nun Kant mit seiner Kritik und worin sieht er ihre Besonderheit, sodass er, wie er schon in seiner Preisschrift (1764) behauptet, meinen konnte, die philosophischen Erkenntnisse seiner Vorgänger teilten „mehrentheils das Schicksal der Meinungen“, die kometengleich nach kurzer Zeit wieder verschwänden. Denn schon zum damaligen Zeitpunkt war er sich sicher, dass eine Metaphysik, die als Wissenschaft dauerhafte Erkenntnisse vermittelt, vor ihm „noch niemals […] geschrieben worden“ sei.36
In Analogie zu einem Gerichtsverfahren lässt Kant, wie er bereits in der Vorrede zu seiner Kritik ankündigt, für fundamental gehaltene Theoreme und Überzeugungen der metaphysischen Schulphilosophie erst einmal vor den „Gerichtshof der Vernunft“37 treten, um ihre Erklärungskraft zu testen; ebenso werden aber auch die Annahmen, Verfahren und Prinzipien des Empirismus diskutiert und in ihrer Tauglichkeit, eine philosophische Alternative zu sein, geprüft. Die Provokation der kantischen Fragestellung reicht aber insofern noch weiter, als seine Kritik der reinen Vernunft sich nicht auf die negative Überprüfung, Grenzziehung und gegebenenfalls Nachbesserung der gängigen Systeme und Theorien beschränkt. Auf der Grundlage einer – nun kritisch geprüften und daher erst soliden – Basis bestimmt er vielmehr die bestehenden Einsichten der Schulmetaphysik und des Empirismus gleichsam als für sich genommen defizitäre Vorstufen. Sie erscheinen vor diesem Hintergrund damit als bloße Stationen auf dem Weg zu der, eben erst von Kant selbst als Wissenschaft entwickelten, Metaphysik. Die Kritik sollte so gesehen aber auch nur eine aufklärende Vorbereitung sein, die den von da an aber sicheren Fortschritt ermöglichenden Weg zu einer „kritischen Metaphysik“ eröffnet. Im Anschluss sollte dann auch eine positive Lehre, eine Doktrin, möglich sein. Kants Wissenschaftsvorstellung bestand darin, eine Methode zu etablieren, die es erlaubt, die Einsichten der beiden konkurrierenden Paradigmen, der Schulphilosophie und des Empirismus, daraufhin zu prüfen, welche von ihnen haltbar sind und aufgenommen zu werden verdienen. Auf diese Weise konnte seiner Ansicht nach eine Art „Mittelweg“ gefunden werden, indem die verschiedenen Parteien statt wie auf einem „Kampfplatz“38 sich gegenseitig zu blockieren oder gar zu vernichten, „einhellig“ gemacht werden, sodass auch in der Metaphysik ein Fortschritt denkbar wird.
Dieser von Kant in Aussicht gestellte Mittelweg ist keineswegs ein Kompromiss zwischen den Hauptgegnern auf dem „Kampfplatz“, dem Rationalismus und dem Empirismus sowie ihren jeweiligen Theorieansprüchen. Der Weg zeigt sich vielmehr erst mit einem Perspektivenwechsel, der seinerseits aus Sicht dieser beiden Strömungen als radikal erscheinen musste. Zum einen betont der eingeschlagene kritische Weg in Absetzung gegen den Rationalismus der traditionellen Schulmetaphysik, dass die Metaphysik ihre Gegenstände nicht nur in einem logischen Sinne nach Regeln des Denkens bestimmen könne. Und zum anderen stellt er gegen den Empirismus heraus, dass sich nicht einmal die Ansprüche unserer Erfahrungserkenntnisse allein im Rekurs auf die Erfahrung rechtfertigen lassen.
Folge man den Lehren der Schulmetaphysik, so wendet Kant ein, würde sich die Philosophie allein mit sich selbst beschäftigen und zu keinen haltbaren Erweiterungen unserer Erkenntnis gelangen. Doch wenn es um die Erkenntnis der Dinge der wahrnehmbaren Welt gehe, müsse sich die Theorie auch mit realen Objekten und den Bedingungen ihrer Erkenntnis (und nicht nur mit Begriffen) beschäftigen. Damit ist freilich nicht gemeint, dass bereits vorliegende Kenntnisse über die Dinge bloß gesammelt werden müssten; gemeint ist – dies durchaus in Fortführung des Anspruchs der Metaphysik – eine Fundierung der Möglichkeit, wie man überhaupt zu Erkenntnissen und Erfahrungen gelangen könne, also eine „Tieferlegung der Fundamente“, wie Ernst Cassirer es einmal genannt hat.39 Dazu müssen zunächst die notwendigen konstituierenden Bedingungen von Erfahrung und Erfahrungserkenntnissen selbst bestimmt werden. Und durchaus im Einklang mit der traditionellen Metaphysik macht Kant klar, dass konstituierende Bedingungen der Erfahrung als Bedingungen im Denken nicht ihrerseits das Resultat von Erfahrungen sein können. Sie gehen vielmehr jeder konkreten Erfahrung als erfahrungsermöglichende Bedingungen gerade voraus. Es ist diese Konzentration auf die von Kant dann als transzendental bezeichneten Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung bzw. von Erkenntnis, die seine Wende der Perspektive kennzeichnet.
Bei genauerer Betrachtung wird auch deutlich, inwiefern diese neue Perspektive die Ansprüche von Rationalismus und Empirismus jeweils einlöst, indem sie einige ihrer Einsichten in einer umfassenderen Theoriekonzeption bewahrt, sozusagen „aufhebt“ (im Hegel’schen Sinne des Wortes „aufheben“40):
Die Bedingungen, die unsere Erfahrung ermöglichen, lassen sich, so betont die kantische Kritik, in zwei Typen von Bedingungen unterscheiden: Zum einen in die sogenannten Formen der Anschauung, d.h. Raum und Zeit, und zum anderen in die Formen des Denkens, die Begriffe des Verstandes. Beide Typen schließen auch reine, d.h. nicht erfahrungsabhängige, sondern erfahrungskonstituierende Formen ein. Alle unsere Erfahrung ist aber, so führt Kant ins Feld, auf diese zwei, ihrerseits aber voneinander unabhängigen, „Stämme[n] der Erkenntnis“ festgelegt. Sie kann auch nur aus einer Verbindung von einerseits Anschauung und andererseits Verstandesdenken hervorgehen. Eine (gültige) Erkenntnis im Bereich der Erfahrung ist daher für uns nur möglich, wenn wir auch die räumlichen und die zeitlichen Spezialbedingungen berücksichtigen, unter denen uns die Dinge erscheinen. Im Rationalismus konnte die Sinnlichkeit keine Unabhängigkeit für sich beanspruchen. Man war im Rahmen der Schulphilosophischen Tradition vielmehr davon überzeugt, dass die Sinnlichkeit nur eine Vorform der Verstandeserkenntnis sei und räumte ihr entsprechend auch nur eine untergeordnete Rolle in der Erkenntnis ein. Erfahrungserkenntnis war damit in erster Linie logische Erkenntnis und daher schon unter Beachtung der fundamentalen logischen Prinzipien erreichbar. Kant hat schon in frühen Schriften kritische Einwände gegen dieses ausschließlich logische und seiner Ansicht nach unzureichende Verständnis von Erkenntnis formuliert. Dazu zeigt er, dass der logische Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs, eine der zentralen Grundlagen der rationalistischen Erkenntnistheorie, nur begriffliche Gegensätze fassen und sie als unvereinbar zurückweisen kann. Die Opposition von realen Kräften aber, die in Raum und Zeit bei einer Erscheinung gegeneinander wirksam sind, ist auf der Grundlage des Satzes vom Widerspruch nicht zu erkennen. Um solche Verhältnisse der Realopposition, wie sie Kant nennt, angemessen zu begreifen, müssen die Formen der Sinnlichkeit einbezogen werden. Dass Erfahrungserkenntnis nicht allein auf der Grundlage von Begriffen möglich ist, war Kant also bereits 1764, im Aufsatz über die „Negativen Größen“,41 klargeworden.
Die Etablierung der reinen Anschauungsformen kann als ein gewisses Zugeständnis an den Empirismus verstanden werden, da sie damit die Ansprüche der empirischsinnlichen Erfahrungskomponenten zur Geltung kommen lässt. Dieses Zugeständnis hat seine Grenze aber darin, dass Kant die Anschauungsformen nur in ihrer „Reinheit“, d.h. Erfahrungsunabhängigkeit, also als „a priorische“ und damit notwendige und allgemeine Formen der Anschauung anerkennt. Dies wiederum hat zur Folge, dass er sie als Komponente eines gültigen Erfahrungsurteils nur durch die Analyse eben eines solchen Urteils identifizieren konnte. Vor allem mit dem zweiten Typus der die Erfahrung konstituierenden Bedingungen weist Kant aber den Anspruch des Empirismus dann in seine Schranken. Die „a priorischen“, notwendigen und allgemeinen, „reinen“ Formen des Verstandes, die „reinen Verstandesbegriffe“ oder „Kategorien“, die sich ebenfalls aus der Analyse des gültigen Erfahrungsurteils als notwendige Komponenten desselben ausmachen lassen, bedeuten die „Aufhebung“ der empiristischen Erkenntnistheorie. Diese hatte sämtliche, zur Erkenntnis notwendigen Begriffe aus der Erfahrung entnehmen oder entwickeln wollen, ohne einzusehen, dass, wie Kant betont, jede einzelne Erfahrung schon unter vorgängigen Bedingungen steht, die erfüllt sein müssen. Unter diesen Bedingungen befinden sich neben den Formen der Anschauung auch Formen des Denkens, die man auf Begriffe bringen kann und muss. Diese „reinen Verstandesbegriffe“, die sogenannten Kategorien des Verstandes, unterscheiden sich hinsichtlich der verschiedenen Funktionen, die sie in einem Urteil für die Verknüpfung oder „Synthesis“ leisten, mit der im Urteil ein Begriff zur Erkenntnis eines in der Anschauung gegebenen, erscheinenden, sinnlich Mannigfaltigen angewandt wird.
Inwiefern Kant mit diesem Perspektivenwechsel an den Fundamenten der traditionellen Metaphysik rührt, lässt sich an einem Problem zeigen, das Kant nachhaltig beschäftigte: an dem sogenannten Antinomienproblem.