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IV. Die Geburt der neuen Weltphilosophie des Deutschen Idealismus 1794
ОглавлениеSchelling zufolge wird Fichte „die Philosophie auf eine Höhe heben, vor der selbst die meisten der bisherigen Kantianer schwindeln werden“, Fichte sei der neue Held „im Lande der Wahrheit“. Hölderlin spricht „mit Begeisterung von Fichte als einem Titanen, der für die Menschheit kämpfe und dessen Wirkungskreis gewiß nicht innerhalb der Wände des Auditoriums bleiben werde“.(Hegel schließt an diese außerordentlichen Wertschätzungen an: „Man wird schwindeln bei dieser höchsten Höhe aller Philosophie“, die Anerkennung der Würde des Menschen und seines Vermögens der Freiheit sei der Beweis, dass „der Nimbus um die Häupter der Unterdrücker und Götter der Erde verschwindet – die Philosophen beweisen diese Würde und die Völker werden ihre in den Staub erniedrigten Rechte sich aneignen“. (Br I, 15, 18, 24)53
Fichtes Wissenschaftslehre von 1794 avanciert zum Gründungsdokument des Deutschen Idealismus. Die neue Weltphilosophie hat ihre Geburtsstunde 1794 in Jena. Die Fichte’sche Schrift liefert die Initialzündung für eines der kreativsten Jahrzehnte in der Geschichte des philosophischen Denkens überhaupt. Die 5000 Einwohner zählende thüringische Universitätsstadt Jena steigt jetzt zur Weltmetropole, zum „Mekka der Philosophie“ auf: „Während die Franzosen eine politische Revolution hervorbrachten, brachten die Deutschen eine im Reiche der Wahrheit zustande und Jena ist in dieser Hinsicht das, was Paris in jener gewesen ist.“54 Besonders der Sieg der Franzosen über die europäischen Feudalmächte bei Valmy, der Sturz des Königs sowie die Proklamation der Französischen Republik am 20./21. September 1792 hatten bei den Tübinger Revolutionsanhängern einen tiefen Eindruck hinterlassen. So kam es zu einer Verbindung der Gedanken eines Rousseau und Kant mit den Prinzipien der Revolution – es entstand eine explosive Liaison zwischen den revolutionären Gedanken und Ereignissen in Paris und der Freiheitslehre aus Königsberg. Die enthusiastischen Äußerungen der Denker zum Thema Selbstbestimmung und Freiheit seien hier nur aneinandergereiht: Schiller sieht das „Reich der Vernunft als ein Reich der Freiheit“, Schelling beschreibt Freiheit „als A und O der Philosophie“, Hölderlin verkündet der „Freiheit heilig Ziel“, Fichte hält sein System für das „erste System der Freiheit“, Hegel versteht seine Wissenschaft der Vernunft als Wissenschaft der Freiheit. Jedenfalls schreibt das Tübinger Dreigestirn Hölderlin, Hegel und Schelling der Geburt der Philosophie des Deutschen Idealismus mit der Fichte’schen Wissenschaftslehre von 1794 sofort herausragende Bedeutung zu, kündigt aber sofort die kritische Prüfung und notwendige Fortführung der Transzendentalphilosophie an. Hier tritt die divergente philosophische Sozialisation der drei Schwaben im Vergleich zu den direkt aus kantischer Tradition kommenden Reinhold und Fichte zutage. Die schwäbische, aus dem Tübinger Stift entsprungene Fraktion wird nur wenige Jahre später sukzessiv die intellektuelle Bühne von Jena mitprägen und dominieren.
Fichte hatte mit seiner Wissenschaftslehre die kühne Konzeption eines Monismus von Vernunft und Freiheit, und damit das erste ausgeführte System des Deutschen Idealismus, vorgelegt. Schelling erkannte umgehend das Bahnbrechende dieses Begründungsaktes des Deutschen Idealismus und deutete in seiner Ich-Schrift Fichtes Grundprinzip im Sinne eines „absoluten Seyns“ als ein „höheres Gesezz des Seyns“.55 Fichte-Kritiker von Schulze bis Niethammer erhoben jedoch umgehend gewichtige Einsprüche. Hegel zufolge habe Fichte in reiner und strenger Form das Fundament für den „echten Idealismus“ gelegt, Fichtes Einheit des Subjekts und Objekts gelte als das echte spekulative Prinzip eines idealistischen Monismus. Hinter diese Errungenschaft könne nicht zurückgegangen werden. Jedoch bleibe die Durchführung dieses Gedankens unzulänglich, der idealistisch-monistische Kerngedanke bedürfe einer gründlichen Neuformierung, müsse vom Grund her neu gedacht werden. Der Dualismus von Subjektivität und Objektivität, zwischen subjektivem Idealismus (Konstruktivismus) einerseits und dem Objektivismus (Realismus) andererseits, war aus Hölderlins, Schellings und Hegels Sicht noch nicht hinreichend überwunden worden. Schelling versucht blitzartig, eine monistische Konzeption vorzulegen, die aus einem höchsten Prinzip die anderen Bestimmungen der Philosophie entfaltet. In seiner Ich-Schrift moniert Schelling, das bei Kant das monistische Prinzip des Wissens fehle, theoretische und praktische Vernunft müssen erst noch durch ein „gemeinschaftliches Prinzip“ verbunden werden.56 Mit dem spinozistisch motivierten Ich-Monismus soll diese Vereinigung gelingen, mit dem Ur-Prinzip als letztem, absoluten Grund: Das absolute Ich ist dieses Fundament, das Eine, Unbedingte, Absolute.
Hegel würdigt später die Systemform der Fichte’schen Wissenschaftslehre, worin sich der „echte Idealismus in reiner und strenger Form“57 ausdrücke, er hebt die Form der Deduktion hervor, die logische Ableitung der Kategorien. Dies richtet sich unmissverständlich gegen ein fragmentarisches oder rhapsodisches Philosophieren, gegen eine Poetisierung oder Ästhetisierung der Philosophie, etwa in Gestalt der romantischen Transzendentalpoesie als eines Hybrids von Literatur und Philosophie. Im Votum für eine solche strenge Wissenschaftlichkeit liegt die Verabschiedung der Ausdrucksform Hölderlins, die Distanzierung von den frühromantischen Positionen, wie auch von einer Proklamierung der Kunst zum höchsten Organon.58 Hierin erweist sich Hegel als strenger Anhänger von Kant, der unmissverständlich forderte, die Sachverhalte nach logischer Lehrart auf deutliche Begriffe zu bringen. Dies sei das „allein philosophische“ Vorgehen, beim „Mangel scharfer Beweise“ hingegen werden unzulässig bloß Analogien und Wahrscheinlichkeiten als Argumente aufgeboten. In solch ästhetische Vorstellungsarten mit ihren analogischen, bildlichen Darstellungen sah der Königsberger eine Gefahr für die Philosophie. Der Vorschlag, wieder poetisch zu philosophieren, ähnelt – so Kants ironische Einlassung – dem Vorschlag für einen Kaufmann, seine Handelsbücher nicht in Prosa, sondern in Versen zu schreiben.59 Dabei beruft sich Kant auf Aristoteles’ „prosaisches“ Denken und dessen Verständnis der Philosophie als „Arbeit des Begreifens“ – dies hat für den „Ton“ der Hegel’schen Philosophie essentielles Gewicht. Philosophie kann Kant zufolge ihre Aufgabe nur „durch gerechtfertigte Begriffe“ und „scharfe Beweise“ erfüllen und vermag Hegel zufolge ganz im Sinne Fichtes nur als ein logisch kohärentes System von Begriffen – als logische Architektonik vom Grund- bis zum Schlussstein – aufzutreten. Die Kontroverse über die Philosophie als System und die Darstellungsform des Philosophischen wird die vielschichtige Rezeption Kants und des Deutschen Idealismus begleiten.
Die würdigen Nachfolger Kants versuchen in sehr unterschiedlichen Phasen ihrer Denkwege die Revolution des Ideensystems voranzutreiben. Es scheinen sehr differente und vielschichtige Ausprägungen des Idealismus von der Distanzierung bis hin zur Verabschiedung von ihm zur Diskussion zu stehen. Dabei bleiben die systematischen Ansprüche wie auch die Kontroversen der Protagonisten von speziellem Interesse, wie etwa die Kant-Kritiken von Fichte und Hegel, die Differenzen zwischen Fichtes und Schellings Transzendentalphilosophie oder die Streitsache Schelling contra Hegel, eine echte Herausforderung für künftige Forschungen. Das brillante Gedankenpotential der kantischen Philosophie und der Entwürfe seiner bedeutenden Nachfolger ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft und wäre vor unsachlichen Diskreditierungen zu bewahren. In Anlehnung an Schelling gesprochen: Die Goldkörner dieser philosophischen Genieperiode sind noch nicht zureichend aus den zu bearbeitenden Gesteinen ausgewaschen.