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1.3 Sozialraumorientierung

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In der Fachliteratur der Sozialen Arbeit war in den letzten Jahrzehnten (von Brülle/Marschall 1981 über Kessel u. a. 2005 bis Noack 2015) verstärkt von »Sozialraum« oder »Sozialräumen« die Rede. In der fünften Auflage des »Wörterbuch Soziale Arbeit« von Kreft/Mielenz (2005) findet sich »Sozialraumorientierung« erstmals als Stichwort im Sachregister, ebenso in Galuskes Methodenbuch ab der siebten Auflage 2007. Kessel u. a. (2005) hatten sich mit ihrem »Handbuch Sozialraum« vorgenommen, die sozialpolitischen, stadtplanerischen, stadtsoziologischen, sozialgeografischen und sozialpädagogischen Debatten zu durchqueren, und erstellten daraus eine umfangreiche Sammlung von Beiträgen unterschiedlicher AutorInnen zu ihrer Ausgangsthese, »Sozialräume stellen immer komplexe Zusammenhänge kultureller, historischer und territorialer Dimensionen dar« (ebd.: 5). Andere AutorInnen haben Methoden für den Sozialraum (Deinet 2009) zusammengestellt, »Wege zu einer veränderten Praxis« (Budde u. a. 2006) aufgezeigt oder »Schlüsselwerke der Sozialraumforschung« (Kessl/Reutlinger 2008) gesammelt und publiziert.

In der Formulierung aus dem Handbuch GWA »GWA integriert die Bearbeitung individueller und struktureller Aspekte in sozialräumlicher Perspektive« [Hervorhebung Fettdruck durch den Autor MB] (Stövesand u. a. 2013: 21, zweiter Satz obigen Zitats) wird auf eine grundlegende Orientierung (sozialräumliche Perspektive) hingewiesen, die als programmatischer Aspekt eines Konzepts (hier Sozialraumorientierung) verstanden werden kann. Auch Oelschlägels Definition von GWA als »… sozialräumliche Strategie, [Hervorhebung Fettdruck durch den Autor MB] die sich ganzheitlich auf den Stadtteil« (2005: 259) richtet, lässt sich als Hinweis auf Sozialraumorientierung als Konzept lesen. Folgerichtig konstatieren Stövesand u. a. »… bleibt es richtig, dass die Konzepte von GWA [Hervorhebung Fettdruck durch den Autor MB] als sozialräumliche Soziale Arbeit bezeichnet werden können« (2013: 28), sie vermeiden aber die Verwendung des Begriffs »Sozialraumorientierung« als Konzepttitel und vermuten »,dass die Ablösung eines GWA-Konzeptes durch ein Fachkonzept Sozialraumorientierung (Hinte 2007) vor dem Hintergrund der oben dargestellten Situation kein Gewinn zu sein scheint« (Stövesand u. a. 2013: 28). Mit dem Begriff »Sozialraumorientierung« tun sich die HerausgeberInnen des Handbuch GWA offensichtlich schwer: »Nicht zuletzt aufgrund der vorherrschenden Verkürzung des Sozialraumbegriffs auf einen von der Verwaltung bestimmten geografischen Raum und die sich immer deutlicher abzeichnende Funktionalisierung der Sozialraumorientierung zur Einsparung öffentlicher Ausgaben, vor allem der Kinder- und Jugendhilfe« (Stövesand u. a. 2013: 28) .

Ein Handlungskonzept, das die o. g. Kritikpunkte aufnimmt und konstruktiv erweitert, stellt allerdings einen Gewinn für die Soziale Arbeit dar, weil damit auch begrifflich zwischen Sozialraumorientierung als Handlungskonzept und GWA als Handlungsfeld Sozialer Arbeit differenziert werden könnte. Auf dem Weg dahin bot das Handbuch Gemeinwesenarbeit, mit seiner umfänglichen Aufarbeitung der Geschichte und Entwicklung sowie ihren Meilensteinen und Positionierungen eine wichtige und wertvolle Grundlage. Mittlerweile gibt es ein ausgearbeitetes »Handlungskonzept Sozialraumorientierung« (Becker 2020b), das als Grundlage für die Diskussion in der Fachwelt sowie als Orientierung und Handreichung für die Praxis Sozialer Arbeit in und für ihre unterschiedlichen Handlungsfelder entwickelt wurde.

Vorläufer waren neben dem von Hinte und Treeß entwickelten »Fachkonzept Sozialraumorientierung« (2007), das erklärtermaßen auf Offenheit für weitere Entwicklungen und lokale Situationen angelegt ist, der von Früchtel, Cyprian und Budde (2007) mit ihrem »SONI-Schema« vorgelegte integrierende Ansatz, der verschiedene Ebenen (Management, politische Steuerung etc.) Arbeitsfelder, Maximen (z. B. Effizienz, soziale Gerechtigkeit, lernende Organisation) und Konzepte Sozialer Arbeit (wie Lebenswelt-, Ressourcen-, Managementorientierung) verknüpft und durch eine schematische Darstellung veranschaulicht. Seit der Vorlage des »Fachkonzept Sozialraumorientierung« (Hinte/Trees 2007) gab es immer wieder Ansätze zur Weiterentwicklung dieses, schwerpunktmäßig auf die Kinder- und Jugendhilfe bezogenen Konzepts, wie beispielsweise von Noack (2015), der sich auch intensiv mit der Kritik am »Fachkonzept Sozialraumorientierung« auseinandersetzte. Noack schlug einen »Mittelweg« zwischen subjektorientiertem Verständnis sozialer Lebenswelten einerseits und der eher territorialen Planungsperspektive von »Systemakteuren« aus Politik und Verwaltung vor. Den Vorteil dieses Mittelwegs sah er, aus handlungsorientierter Perspektive, in der Differenzierung nach »Planungsräumen« (territorial-)raumbezogener Steuerung sowie individuellen »Lebensräumen«, zu verstehen als Gesamtheit der räumlichen Dimensionen einer individuellen Lebenswelt. »Sozialräume« wollte Noack als Schnittfläche sich überlappender individueller »Lebensräume« verstanden wissen. Die Verbindung beider Perspektiven herzustellen, erklärte er zur vermittelnden oder intermediären Aufgabe Sozialer Arbeit. Auf dem Weg zu einem handlungsfeldübergreifenden Konzept Sozialer Arbeit verfolgte Schönig »… das Ziel, durch eine einheitliche Terminologie und Auffassung von ›Sozialraumorientierung‹ einen Überblick zu den zentralen Fragen, Theorien und Methoden zu geben« (2008: 10) und bezog sich dabei auf das Verständnis von »Sozialraumorientierung als Handlungskonzept Sozialer Arbeit« von Becker (2006). Kessl und Reutlinger haben mit »Sozialraumarbeit« der bereits vorhandenen Begriffsvielfalt eine weitere Variante hinzugefügt. Sie wollten darunter eine professionelle Perspektive verstanden wissen, die auf der Basis einer reflexiven Haltung »kontinuierlich mit der Bearbeitung der Aufgabe konfrontiert ist, sich einer entsprechenden herrschaftskritischen Reflexion stellen und sich auf dieser Basis fachlich positionieren zu müssen« (2013: 137). Wohlfahrt u. a. (2003; 2005) konstatierten eine allgemeine Euphorie bezüglich der Sozialraumorientierung und kritisierten diese als »Verschleierungsrhetorik« des Sozialstaatsabbaus. Gegen den Vorwurf der Missachtung und Abschaffung individueller Rechtsansprüche durch Sozialraumbudgets argumentierten hingegen Budde, Früchtel und Hinte (2006) und belegten dies durch bundesweite praktische Beispiele als Wege zu einer veränderten Praxis.

Einer grundsätzlichen Revision sozialraumbezogener Sozialer Arbeit unterzog Gabriele Bingel (2011) die Entwicklung sozialraumorientierter Sozialer Arbeit, von der Settlementbewegung über sämtliche Varianten der GWA bis zum Quartiermanagement, in historischer Perspektive bis zum Ende des 20. Jhs. Dabei kommt sie zum Ergebnis, der Sozialraumdiskurs sei der Versuch, die Diskrepanz zwischen hehren sozialen Visionen Sozialer Arbeit und ihrem begrenzten Handlungsrepertoire zu deren Verwirklichung zu verringern. Die Attraktivität des »Sozialraums« gründe auf der scheinbar idealen Möglichkeit der Verbindung von Lebensweltlichem und Gesellschaftlichem. Das Dilemma, sozial benachteiligte Menschen grundsätzlich als bewältigungsfähige und zu autonomer Lebensbewältigung fähige Menschen und AdressatInnen Sozialer Arbeit zu betrachten und damit aber gleichzeitig den Einfluss sozialstruktureller (Lebens-)Bedingungen zu relativieren, würde im sozialräumlichen Diskurs versucht dadurch aufzulösen, dass Gesellschaft grundsätzlich als gestaltbar und veränderbar betrachtet und dargestellt würde, während gleichzeitig subjektbezogene Strategien wie Bildung, Begleitung oder auch Disziplinierung zur Anwendung kämen.

Dem ist entgegen zu halten, dass genau aufgrund beider o. g. Faktoren die Unterstützung für sozial benachteiligte Menschen einzufordern und im gesellschaftlichen Auftrag zu praktizieren ist. Denn benachteiligte Bevölkerung wird gerade durch sozialstrukturelle Bedingungen daran gehindert, ihre vorhandenen Ressourcen und Potentiale zu nutzen und zu erweitern. Soziale Arbeit geht dem soziale Ungleichheit nivellierenden Programm des aktivierenden Bürgerstaats dann nicht auf den Leim, wenn Aktivierung als Aktivitätsermöglichung und -unterstützung (Noack 2015) für sozial benachteiligte Bevölkerung als gesellschaftliche Aufgabe angesehen und praktiziert wird und die Verantwortung dafür nicht den Betroffenen zugewiesen wird. Die Thematisierung sozialer Benachteiligung muss nicht in »paternalistische Bedürfnisinterpretation« und »bevormundende Kontrolle ungünstiger Lebensstile in Sozialräumen« abdriften, wenn sie auf der Basis vertrauensvoller, lebensweltorientierter Arbeit mit den Betroffenen geschieht und deren Themen und Problemsicht aufnimmt. Dennoch sind Stigmatisierungseffekte und Insuffizienzgefühle bei den Betroffenen zwar unerwünschte, aber nie ganz auszuschließende Effekte, deren Auftreten auch mit der Balance der Problemdefinitionen von Betroffenen und Fachkräften Sozialer Arbeit zu tun hat.

Bingel (2011) gründet ihre Argumentationsfigur auf der problematischen Fokussierung des Gegenstands Sozialer Arbeit, der »Lösung« sozialer Probleme. Dies stellt eine unzulässige Engführung der einschlägigen disziplinären Gegenstandsbeschreibung Sozialer Arbeit dar, die von Engelke (2004) als »Bewältigung sozialer Probleme« identifiziert wird. Mit dem Anspruch der »Lösung sozialer Probleme« wird eine utopische Grundlage professioneller Aufgabenbeschreibung angenommen, deren Verwirklichung von vornherein als uneinlösbar erscheinen muss. »Bewältigung sozialer Probleme« beinhaltet dagegen Aufgaben, die sich auf der Basis interdisziplinären Erklärungs- und Handlungswissens professionell wirkungsvoll bearbeiten lassen. Auch Bingels Darstellung des gesellschaftlichen Auftrags Sozialer Arbeit als »Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft« geht von einem zwar in den Sozialwissenschaften gängigen, aber nicht zwingenden Verständnis sozialer Prozesse aus. Mit dem Begriff der »Figuration« bezeichnet Elias (1976) Verflechtungsbeziehungen wechselseitig aufeinander angewiesener, weil voneinander abhängiger Menschen, deren Interdependenzgeflecht insgesamt als Gesellschaft verstanden wird. Gesellschaft besteht also durch und aus Beziehungen zwischen Individuen, womit kein Gegensatz zwischen Gesellschaft und Individuen besteht. Zum dritten geht Bingel (2011) von einem absoluten Integrationsbegriff aus, der eine vollständige Teilhabe aller Gesellschaftsmitglieder an deren sozialen Gütern impliziert. Vollständige Integration ist in Gesellschaften, die sich angesichts wechselnder Machtpotentiale menschlicher Beziehungen ständig wandeln, schlicht unmöglich, sondern wird ständig neu austariert. Wenn der Auftrag Sozialer Arbeit in der Bewältigung sozialer Probleme besteht und Gesellschaft als Interdependenzgeflecht gegenseitig voneinander abhängiger Menschen gesehen wird, kann Soziale Arbeit als vermittelnde oder intermediäre (Fehren 2008) Instanz insofern wirksam werden, als sie die Analyse der Verteilung von Machtpotentialen und gesellschaftlichen Gütern und Chancen, deren Thematisierung und Skandalisierung unter Verweis auf proklamierte, gesetzlich verankerte Ansprüche und Diskrepanzen zur empirischen Wirklichkeit sowie die Entwicklung von Angeboten professioneller, theoretisch und empirisch fundierter Interventionen und deren Einsatz als ihre Aufgabe annimmt. Grundlagen und Verständnis der fachlichen Orientierung Sozialer Arbeit an sozial und räumlich strukturierten Prozessen werden in den folgenden Abschnitten noch weiter ausgeführt und vertieft (vgl. Becker 2020b, 2016a).

Soziale Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit in der Sozialen Arbeit

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