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Betteln

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Botte überrascht mich immer wieder. Als ich ihn das nächste Mal treffe, trägt er ein kariertes Sakko, dazu einen Wollschal und eine Schiebermütze. Ich frage, ob es eine von seinem Vater ist, kriege aber keine Antwort. Bei Botte sieht sie anders aus, macht etwas Besonderes aus ihm. Vielleicht liegt es an den langen Haaren, die ihm schon beinahe bis zur Schulter reichen. Plötzlich weiß ich, an wen er mich erinnert.

„Ist ja echt witzig. Weißt du noch, was uns neulich diese Frau gesagt hat?“

Botte runzelt die Stirn.

„Na, dass wir aussehen wie Simon & Garfunkel, hat sie doch gesagt. Ich musste sofort an die Platte denken, wo sie hintereinander stehen, der kleinere Paul Simon vorne. Da hat er auch so’ne Mütze auf und n Sakko an.“

„So wie ich, meinst du.“ Botte scheint der Vergleich nicht zu schmeicheln. „Immerhin sagst du nicht, dass ich aussehe wie Opa Brambell in Help. Sowas trägt auch John Lennon, wenn du mal richtig hingucken würdest.“

Und damit lässt er mich stehen. Ich folge ihm; wir wollen das Adventstreiben ausnutzen, um noch einmal zu spielen. Diesmal mit Hut. Dummerweise ist unser Stammplatz vor dem Café von einem holländischen Lakritz-Stand belegt. Wir stellen uns ein paar Meter weiter unter die Arkaden der Edel-Metzgerei, weit genug von deren Eingang und dem Schaufenster entfernt. Dort sind wir zwar etwas versteckt, aber immerhin windgeschützt, und etwas Hall haben wir auch.

„Frierst du gar nicht in deinem Sakko?“, frage ich Botte. Mir ist sogar in der Winterjacke zu kalt.

„Das geht schon. Ist ja aus dicker Wolle und der Schal wärmt mich auch.“

Botte nimmt die Mütze von seinem Kopf und drapiert sie mit der Öffnung nach oben auf die beiden übereinanderliegenden Gitarrentaschen zu unseren Füßen. Dass Leute darüber stolpern könnten, befürchtet Botte nicht. Und tatsächlich strömen die meisten Passanten außerhalb der Arkaden vorbei. Die Fußgängerzone ist voll, es gilt, Geschenke zu kaufen, Reibeplätzchen und Glühwein zu genießen. Ob ich diesmal zu Weihnachten Geld bekomme statt irgendwelche Kleidung? Für Platten, einen Kapodaster ...

Als ich auf der hohen E-Saite das Intro von Dizzy Miss Lizzy anstimme, bin ich überrascht von der Lautstärke. Botte haut in die Saiten, schreit einmal kurz „Au“ und singt fast so rau und gequetscht wie John Lennon. Mit seinen Koteletten und den nach hinten gestrichenen Haaren ist er ihm nicht unähnlich. Vor allem seine schmale, gerade Nase mit der leicht gebogenen Spitze lässt ihn wie John Lennon aussehen. Ich selbst gleiche, wenn überhaupt einem Beatle, am ehesten George Harrison, aber ich mache mir keinen Kopf darum. Die Musik muss stimmen, sie ist es, die uns zusammenhält.

Als wir wie immer schrammelnd zum Schluss kommen, sind wir enttäuscht. Niemand scheint uns zu beachten. Nur die Metzgersfrau hat kurz herausgeguckt und den Kopf geschüttelt.

„Was Langsames“, zische ich Botte zu. „Es ist Adventszeit!“

Er nickt und wie im Blindflug stimmen wir If I fell an. Das Liebeslied hat es uns angetan, auch wenn die hohe Stimme Bottes ans Limit bringt. Auf der Platte kann Paul sie an einer Stelle auch nicht halten; sein Gesang bricht bei „was in vain“ etwas atemlos ab. Wir werden tatsächlich belohnt: Schon nach wenigen Versen bleiben die Leute stehen, scharen sich zwischen den Säulen um uns. Von oben blinken elektrische Kerzen in hängenden Adventskränzen, werfen ein stimmungsvolles Licht auf uns. Andächtig singen wir weiter, sind jetzt hochkonzentriert, sehen uns an und helfen uns so gegenseitig beim Memorieren des Textes. In die Melodie dieser wunderschönen Ballade mischen sich metallische Klänge von Münzen. Immer mehr klimpern in Bottes Mütze. Ich bekomme eine Gänsehaut, wieder stellt sich mir das Kopfhaar auf, wie im Sommer, als wir zum ersten Mal die Beatles gemeinsam hörten, wir uns auf ganz neue Weise zusammentaten, unsere Freundschaft vertieften. Botte ist mein bester, mein einziger Freund. Ich brauche ihn und die Musik.

Mit großen Augen zählen wir das Geld. Unfassbare vierzig Mark haben wir eingenommen, für jeden zwanzig. Wenn das kein Lohn und kein Fest ist. Ein wahres Weihnachtsgeschenk.

Aber kaum, dass ich zu Hause ankomme, herrscht Alarmstimmung. Mein Lieblingsonkel ist mit der ganzen Familie da. Eigentlich hätte es ein gemütlicher Adventskaffee werden sollen, doch jetzt starren mich alle entsetzt an.

„Da isser ja, unser Bettelkönig“, sagt mein Vater und mein Onkel lacht kurz auf, was die Kerze auf dem Tisch zum Flackern bringt. Ich kenne diesen Ausdruck im Gesicht meines Vaters: ein kaum gezügelter Zorn, der sich an einem dünnen Lächeln, begleitet von räuspernden Geräuschen erkennen lässt und sich früher oder später in wütenden Tiraden entlädt. Nicht in Form von Schlägen, sondern in einem Fluchkonzert, wie er es selber nennt, und spontan verhängten Strafmaßnahmen, die auch im Lichte späterer Reue und Vernunft nicht mehr revidiert werden.

Ich bin erstaunt, wie schnell unsere Mützenaktion die Runde gemacht hat. In dieser Beziehung funktioniert eine Kleinstadt wie ein Kraftwerk.

„Hast du nicht gesehen, wie Sybille dir zwei Mark in den Hut geworfen hat?“, fragt mein Onkel, der eigentlich viel mit Musik anfangen kann, sogar ein privates Tonstudio hat und Konzerte von Kirchenchören aufnimmt. Sybille ist seine älteste Tochter, acht Jahre jünger ist als ich und seit dem Herbst Schulkind.

Ich bin immer noch stumm, erwarte jeden Moment das Donnerwetter meiner Eltern. Aber ich werde überrascht. Mein Vater sieht mich nur traurig an und spricht sehr leise einen Satz, den ich nicht erwartet hätte: „Uns macht das nichts aus, wenn die Leute lästern, von wegen, dass wir unsere Kinder betteln gehen lassen müssen, doch Oma geht’s gar nicht gut damit. Bring das mal ganz schnell in Ordnung!“

Mein Onkel nickt ernst. Er war zuvor bei meiner Oma gewesen und nicht er, sondern seine Tochter hat ihr brühwarm erzählt, was passiert ist. Meine Oma sei im Gesicht ganz käsig geworden, berichtet er. Sie habe sich setzen müssen und gar nichts mehr gesagt. Ich sehe sie vor mir, auf ihrem Stuhl, von dem sie nach draußen blickt, auf ihren großen Garten, auf das Haus dahinter. Die Nachbarin ist etwa so alt wie sie, aber ungleich geschwätziger. Von ihr ist zu erwarten, dass sie von unserer Geschichte Wind bekommt und sie brühwarm überall herumerzählen wird.

Musst du nicht tun, hat meine Oma oft zu uns Kindern gesagt, diese warmherzige wie gottesfürchtige Frau, auf die wir immer gehört haben wie auf unsere Eltern. Ich mag meine Oma und jetzt tut sie mir leid. Das geht nicht, schreit es in mir, das muss ich wirklich in Ordnung bringen. Die Kaffeerunde spürt, was in mir vorgeht, alle sind still, selbst die zwei Kleinen meines Onkels, und alle schauen mich erwartungsvoll an.

Völlig außer Atem komme ich am Haus meiner Oma an. Ich stelle mein Fahrrad unter ihrem Wohnküchenfenster ab, sehe sie sie bei einer Kerze am Tisch sitzen. Sie wirkt in sich gekehrt, den Blick nach unten, und wippt mit ihrem Oberkörper leicht vor- und zurück. Das macht sie immer, wenn sie etwas beschäftigt oder besorgt.

Ich gehe durch die hintere Tür, durch den schmalen Schuppen, an dem Schweinestall vorbei zur Wohnküche. Der Geruch nach Bauernhof steigt mir in die Nase, ein mir wohlbekannter, durchaus angenehmer Geruch aus der Zeit, als ich ganze Sommerferienwochen bei ihr zubrachte und ihr, die schon so lange allein in diesem großen, alten Haus wohnt, Gesellschaft leistete, mich eigentlich aber ganz eigennützig von ihr verwöhnen ließ. Ferien auf dem Bauernhof nannte ich das immer und sie waren mir lieber als das, was ich aus Bottes Ansichtskarten über seinen Urlaub herauslesen konnte.

„Thomas“, sagt sie nur tonlos, als ich eintrete.

„Oma, es tut mir so leid“, sage ich sofort.

„Ach, Thomas“, seufzt meine Oma. Sie wippt wieder vor und zurück wie unter Bauchschmerzen, ihr Stuhl knarzte im Takt. „Ich weiß ja, dat du dat nich böse gemeint has. Du büs doch n guten Kerl.“

„Oma, es ging mir echt nicht ums Geld. Wir wollten doch nur mal testen, ob sowas klappt. Und wir haben ja nicht einfach nur gebettelt. Wir haben Musik gemacht. Andere Musiker kriegen auch Geld fürs Spielen.“

„Nä!“, ruft sie energisch. „Dat kaas nich doon! Sowat darfs du nicht tun! Wi bünt doch keen Bedelvolk.“

„Nee, klar, mit Betteln hat das doch gar nix zu tun, das ist nicht der Punkt. Unsere Musik hat den Leuten gefallen und dafür haben sie uns eben was gegeben.“

„Aver doch nich in’n Hood, as för so arme Löö! Un dann ock noch vör Bille, de is doch noch’n Kind! Nä, Thomas, dat dröffs nich doon. Verspreek mi, dat dat nich noch mal vörkümb.“

„Ja, dat versprech ich dir!“ Ich atme erleichtert aus. Es ist das Mindeste, was ich tun kann, denn ich kann es ja nicht mehr ändern. Botte wird sich was anhören müssen! Aber vielleicht ist bei ihm ja auch schon Land unter ... „Soll ich denn mal mit deinen Nachbarn reden?“

„Ach wat!“ Meine Oma strafft sich. Es ist, als schüttele sie die ganze Sache jetzt ab. „Dor wör ick al söwer met feddig. De soll’n gar nich küren, de bünt söwer keene Engel. Stina und Änne bünt mangs ock al n betken dösig.“

So gefällt sie mir wieder. Natürlich werden ihre Nachbarn tratschen. Aber sie wird das parieren, wird sagen, dass es ein Dummer-Jungen-Streich war, für den ich mich entschuldigt habe, wird vielleicht aus der Bibel zitieren, die Stelle mit dem Stein, den der werfe, der ohne Schuld sei, oder auch nicht. Meine Oma ist einfach gestrickt, aber wehrhaft. Wenn ihr was gegen den Strich geht, sagt sie es geradeheraus, mit lauter Stimme; eigentlich spricht sie immer laut. Ich sehe sie vor mir, mitten im Kartoffelfeld ihres Gartens, mit ihren weißen vom Wind zerzausten und zu allen Seiten hin abstehenden Haaren, die Mistgabel wie eine Waffe in der Hand und derart schimpfend, dass sie noch drei Häuser weiter zu hören ist. Botte war einmal dabei, als wir sie so antrafen, und schwer von ihr beeindruckt.

Ich bleibe zum Abendbrot. Sie wärmt Grünkohl vom Mittag auf, sogar Rippchen und Mettenden sind noch übrig. Das habe ich nicht verdient, finde ich. Doch meine Oma lächelt mich an und beißt kräftig auf ein Stück Schwarte. Sie freut sich, dass es mir schmeckt – und dass ich bei ihr bin.

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