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Mohnkuchen

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Botte kommt jetzt erst an die Reihe. Ich darf dabei sein, als mein Freund endlich auch die Hostie bekommt. Und Wein. Wie ich ihn beneide. Da machen die evangelischen Christen keine halben Sachen. Auch wenn die kleine Kirche, der Pastor (Betonung auf der ersten Silbe) und überhaupt die ganze Zeremonie seltsam fremd und nüchtern auf mich wirken. Ich dürfe mich nicht wundern, hat mir meine Mutter zuvor noch eingeschärft, die seien halt anders und die Kirche sei, nun ja, eigentlich keine richtige Kirche, jedenfalls längst nicht so glanzvoll und heilig wie unsere katholische.

Botte sieht ungewohnt brav aus in seinem Anzug. Er hat einen ordentlichen Schuss gemacht, wie unsere Eltern einen Wachstumsschub bei Kindern gerne nennen, ist mit seinen vierzehn Jahren nicht nur genauso alt wie ich, sondern auch fast so groß. Wie er bin ich kurz zuvor noch ziemlich moppelig gewesen. Die vielen Süßigkeiten, die drei Teller Mittagessen. Wenn’s dem Jungen doch schmeckt. Der wächst eben. Ein Rückfall ins Babyalter, als man mich regelrecht mästete – das erste Kind wird wohl am meisten verwöhnt.

Bottes Backen glänzen immer noch, auch wenn er jetzt nicht mehr dick ist. Ich muss daran denken, wie er sich als Kind selber Schwein genannt hat. Ich war der Hund, wegen meiner braunen, etwas treudoof blickenden Augen, mein zweiter Bruder ein Pferd, weil er diese Tiere so gerne malte, und mein jüngster Bruder eine Maus, so nannte ich ihn schon, als er gerade laufen konnte. Die Ansichtskarte aus dem Urlaub folgerichtig: Hallo Hund, hier ist es schön. Ich erhole mich gut. Viele Grüße auch an das Pferd und die Maus – Dein Schwein.

Botte ist kräftig, aber nicht untersetzt, eigentlich genau richtig proportioniert, fast schon männlich, auch in seiner Mimik, während ich eine Bohnenstange bin, fast eins-neunzig groß, aber im Gesicht noch der Milchbubi aus der Zeit vor dem „Schuss“.

Mit wichtigem Gesichtsausdruck, die Brille mit dem Zeigefinger die schmale, gerade Nase hochschiebend und ohne seine Angehörigen auch nur eines Blickes zu würdigen, verlässt Botte mit sieben anderen Konfirmanden die Kirche, angeführt von dem erstaunlich kleinen Pastor, der blutleer und ausgemergelt wirkt wie Graf Dracula und über den mein Freund nicht allzu viel Gutes zu erzählen weiß. Ein Sadist sei er, die Hand sitze ihm recht locker und einem Jungen, der im Konfirmandenunterricht über das Klavierspiel seiner ältesten Tochter gelacht habe, habe er das Ohr so langgezogen, dass der Arme laut schreiend rausgerannt sei, um beim nächsten Mal aber wieder zu erscheinen, als sei nichts gewesen.

Botte heißt eigentlich Robert. Nichts hasst er mehr, als Robbi genannt zu werden. Da kennt Botte keine Gnade. Legendär ist die Geschichte aus seiner Grundschule: Als ihn jemand auf dem Pausenhof Berti taufen wollte, warf sich Botte einfach auf ihn und nahm ihn in den Schwitzkasten. So lange, bis seine Klassenlehrerin einschritt, weil der Unterricht längst wieder begonnen hatte. Seitdem genoss er Respekt und alle nannten ihn Botte, wie er es wollte. Sich mit ihm anzulegen, kam auch mir nicht in den Sinn, seitdem ich zu Beginn unserer Freundschaft mit ihm aneinandergeraten war und, obwohl er einen Kopf kleiner war, den Kürzeren gezogen hatte.

Keine Ahnung, wann und wie ich Botte überhaupt kennengelernt habe, aber Robert habe ich ihn nie genannt. Robert Bothe ist einfach Botte. Er ist mit der westfälischen Lautung aufgewachsen, die nach Pott oder Kotten klingt und damit härter, als die Bothes ihren Familiennamen selber aussprechen, irgendwie fein und „buttrig“, mit kurzem, hinten am Gaumen gebildeten Vokal, der auch auf das T abfärbt, es tatsächlich butterweich, fast stimmhaft klingen lässt, wie im Dialekt des gemütlichen, schnurrbärtigen Oswald Huber aus der österreichischen Serie Hallo – Hotel Sacher ... Portier. Bottes Mutter und seine ältere Schwester rufen ihn, so gesehen, bei ihrem Familiennamen. Nur sein Vater nennt ihn Robert, wenn er überhaupt mal was sagt; meistens werkelt der stille Mann mit dem seltsam löchrigen, wie von Dutzenden kleinen Schrotkugeln vernarbten Nacken in einem kleinen Anbau, einen Zigarrenstummel zwischen seinen verhornten Lippen und immer mit karierter Schiebermütze auf dem Kopf. Ein wenig erinnert mich Bottes Vater an den Schauspieler Fritz Muliar, bekannt aus Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk.

Bottes Familie stammt aus dem Sudetenland, von da, wo in meinem Schulatlas Tschechoslowakei steht, aber aus einer Gegend, die nicht sehr weit von Österreich entfernt liegt, sodass sich die Bothes eigentlich als Österreicher verstehen. Bottes Eltern sind „Vertriebene“, die aber nicht Zuflucht im nahen Österreich beziehungsweise in Süddeutschland suchten oder fanden (oder dort bleiben wollten), sondern viel weiter weg bei uns im Münsterland. Das war aber erst in den späten Sechzigern. Da bezogen die Bothes eine Doppelhaushälfte am Ende unserer Straße, weswegen ich Botte auch erst mit ungefähr zehn Jahren kennenlernte. In der überwiegend plattdeutsch sprechenden Nachbarschaft unserer Münsterländer Kleinstadt namens Doesbeck (ausgesprochen wie „Doosbeck“ und eben nicht „Dösbeck“ wie in Dösbaddel) wirkten sie eine Weile wie Exoten. Etwa, wenn Frau Bothe in der örtlichen Metzgerei nach „Blunzen“ verlangte, in der Bäckerei auf ein „Bugl“ zeigte oder ein Brot vom Vortag (zu Recht) als zu „letschert“ ablehnte. Botte spricht reines Hochdeutsch, wohl weil er früh die sprachlichen Besonderheiten als hinderlich wahrnahm, und vermeidet selbst die plattdeutsch geprägten Lautungen und Redensarten. Für einen kleinen Jungen sprach er geradezu überdeutlich und wirkte dadurch in den Augen seiner Nachbarn, auch meiner Eltern, als „naseweis“ und „neunmalklug“. Die Bothes wurden anfangs aber keineswegs wie Aussätzige behandelt, im Gegenteil: Weil sie sich anstrengten dazuzugehören, sich überdies als sehr gastfreundlich und gesellig erwiesen, waren sie bald sehr beliebt. Zugleich wachten sie darüber, dass sie im Gegenzug nicht zu kurz kamen, vor allem ihre Kinder. Einmal, als ich mit meinen Brüdern auf dem Weg zu einem Spiel- und Bastelnachmittag in der Stadthalle war, passte uns Bottes Mutter ab. Sie hatte uns wohl schon lange kommen sehen, denn aus dem Wohnzimmer der Bothes kann man einen Gutteil der Straße überblicken, wenn auch nicht bis zu uns, weil unser Haus weiter oben hinter einer Kurve liegt. Die Tür wurde aufgerissen und heraus trat Bottes Mutter, die gleichermaßen kräftig und resolut ist. Wie immer trug sie eine ärmellose, hellblaue Kittelschürze, die ihre starken Hausfrauenarme besonders betonte.

„Wollts net den Boothe mitnemman?“, fragte sie in ihrem singenden Dialekt und schüttelte dabei den Kopf mit dem rötlich-blonden Kurzhaarschnitt. „Uundh?“ Sie schürzte die Lippen, die dadurch einen strengen Ausdruck bekamen, und trat noch einen Schritt auf uns zu, aber nur, um ihrem Sohn Platz zu machen, der bereits in der Jacke im Türrahmen stand und missmutig zu Boden sah.

„Nuunh, alsso!“, sagte sie zu Botte.

Mit zusammengekniffenen Augen und Lippen drückte er sich an ihr vorbei und marschierte wortlos in die Richtung, in die wir wollten. Wir verabschiedeten uns von Bottes Mutter und folgten ihm.

„Musst di aber b‘nähm, höast?“, rief sie ihrem Sohn hinterher. Doch der war schon in die Hauptstraße abgebogen. Wir ließen uns Zeit, ich sowieso, denn ich hatte mich tags zuvor mit Botte gestritten und eigentlich herrschte Sendepause zwischen uns.

Ich dürfe mich nicht wundern, hatte meine Mutter damals mal gesagt. Die seien ja aus dem Osten, aus der Tschechei, und hätten da eine etwas andere Kultur gehabt, die uns durchaus fremd vorkommen könne. Die würden auch andere Sachen essen. Stimmt, bemerkte ich wenig später, als ich von der Mohnmasse probierte, die Botte für seine Mutter von der Bäckerei holte und die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Wir probierten davon gleich vor dem Laden, pulten uns mit den Fingern etwas aus dem schwarzen, nicht gerade appetitlich wirkenden Häufchen im Pergamentpapier, was auf meiner Zunge eine Geschmacksexplosion auslöste. Seit diesem Moment liebe ich Mohnkuchen über alles.

Jetzt sitze ich bei Botte im Wohnzimmer. Wir essen diesen köstlichen Kuchen, trinken Cola aus der großen Glasflasche. Und dann passiert etwas, das alles verändert.

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