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Elektroschock
ОглавлениеWenn ich es mir recht überlege, habe ich den Gitarrenwunsch schon viel länger in mir. Mit Botte, meinem kleinen Bruder und Bottes Mitschüler Ente, der eigentlich Anton hieß und am liebsten englisch Antony genannt werden wollte, hatten wir im Sommer 1974 sogar schon eine „Band“ gehabt. Das erste und einzige Mal traten wir auf unserer Terrasse auf, die eine ideale Bühne war. Auf dem Rasen, drei Stufen unterhalb, hatten wir Stühle aufgestellt, die gar nicht für alle Nachbarskinder reichten. Unsere Instrumente hatten wir in vielen Kellerstunden aus Spanplatten und Sperrholz gebastelt, die wir mit Plakafarben grell-bunt angestrichen hatten. Botte wollte Trommler sein und er war der Einzige, dessen Instrument, tatsächlich Töne erzeugte. Er hatte sich bei einer nahen Fabrik Kanister besorgt, die er einfach zusammenstellte und mit zurechtgeschnittenen Stöcken aus dem Wald bearbeitete. Als Becken dienten Topfdeckel, für die er abenteuerliche Ständerkonstruktionen ersonnen hatte, die leider regelmäßig umkippten. Ente hatte sich eine Bassgitarre aus Sperrholz geschnitten. Sie wirkte recht kümmerlich und hatte die Saiten nur aufgemalt. Anders als meine „Gitarre“, für die ich mir aus zwei Sperrholzplatten mit der Laubsäge zwei gleiche Formen geschnitten hatte – eine davon mit Schallloch –, die ich mit Abstandsklötzchen verbunden und seitlich mit Klebeband verschlossen hatte. Der Hals war eine Latte, über die ich Rosendrähte spannte und oben sowie auf der Platte mit Nägeln befestigte, an denen ich mir regelmäßige den Handballen aufkratzte. Das absolute Highlight aber war meine „Orgel“, ein knallgrünes Ungetüm aus Spanplatten, das ich auf einem Campingtischchen platzierte. Die Tasten habe ich mit weißer und schwarzer Farbe aufgemalt und dabei anhand eines Fotos sogar auf die richtige Anordnung geachtet.
Mal griff ich zur „Gitarre“, mal spielte ich „Orgel“, je nachdem, welches Lied gerade lief. Denn wir spielten Playback: Die Musik kam von meinem Sanyo-Rekorder, den ich hinter einer Obstkiste als Lautsprecher-Attrappe verbarg. Natürlich reichte die Lautstärke nicht im Ansatz aus, um den „Zuschauerraum“ ausreichend zu beschallen, geschweige denn das Trommeln von Botte zu übertönen, der sich komplett verausgabte und immerhin recht ordentlich im Takt blieb. Und so spielten wir Mal Sondocks Hitparade rauf und runter, rockten zu Golden Earring, Led Zeppelin, Sweet und T.Rex, machten die wildesten Verrenkungen zu Ballroom Blitz und Solid Gold easy Action – und leider auch zu einem Song von den Sparks. Ich hatte sie bei TopPop im holländischen Sender AVRO oder in Ilja Richters Disco gesehen und mich besonders über den Klavierspieler gewundert, der mit seinem schmalen Oberlippenbärtchen wie eine dürre Parodie von Adolf Hitler aussah und komische Grimassen zog. Um unser Publikum, das sich schon während unseres ersten Stückes zu langweilen begann, aufzumuntern, spielten wir den Sparks-Hit. Und ich Idiot versuchte, diese Witzfigur zu imitieren. Immer krasser gerieten mir die Grimassen, immer schiefer zog ich meinen Mund, stierte aus großen Augen auf die Kinder, die nur müde grinsten.
Das sei doch für den Anfang ganz nett gewesen, meinte der völlig verschwitzte Botte, da hätten wir uns doch ein Eis verdient. Wir marschierten zum kleinen Tante-Emma-Laden am Bahnübergang, zahlten jeder zwanzig Pfennig für das kleinste Schöller-Eis und rissen die blauglänzende Verpackung herunter. Doch was war das? Kaum dass mein Eis die Lippen berührte, fühlten sich diese schon taub an. Ich konnte es gar nicht richtig lutschen, mein Mund schien plötzlich schief zu sein. Ich zog die Mundwinkel nach oben, nein nicht die, denn meine rechte Seite wollte nicht. Die ganze Gesichtshälfte wollte nicht, fühlte sich taub an. Panik erfasste mich. Ich warf das kaum gegessene Eis einfach weg und begann zu rennen.
Der HNO meinte anderntags, das könne von den Ohren kommen, er tippe auf eine versteckte Otitis media, und weil der Druckausgleich nicht funktionierte, durchstach er mir das Trommelfell. Noch nie hatte ich einen solchen Schmerz verspürt, er war wie eine Explosion und mir wurde schwarz vor Augen. Zur Sicherheit überwies mich der Arzt an die Uniklinik Münster, an der wir bereits für den nächsten Tag einen Termin bekamen. In der Nacht konnte ich vor Aufregung nicht schlafen. Weil mein rechtes Auge offenblieb, drückte ich es ins Kissen, was mich zu einer einseitigen Schlafposition verdammte und dadurch erst recht wachhielt. Düstere Gedanken über Flüche und Strafen kamen mir in den Sinn. Hatte meine Oma uns Kinder nicht immer gewarnt: „Zieh keine Grimassen, sonst bleibt dein Gesicht so stehen“?
In aller Frühe fuhren mich meine Eltern in unserem Käfer zur Klinik in der sechzig Kilometer entfernten Stadt, in der ich zuvor nur einmal gewesen war. Wie immer saß ich auf der Rückbank, schmeckte bei jeder Erschütterung den Roststaub auf meiner Zunge, der aus den knackenden Sitzfedern aufstieg. Der Weg führte über Landstraßen, an Feldern und Wiesen vorbei, auf denen Kühe halb im Nebel standen. Als wir Münster erreichten, ging gerade erst die Sonne auf.
In der Klinik wurde ich an ein elektrisches Gerät angeschlossen. Der Arzt legte eine Manschette um meinen rechten Arm und nahm einen dicken Stift in die Hand, der an einem roten Kabel mit dem Gerät verbunden war. Ich ahnte nichts Gutes, als der Arzt mir den Stift an die rechte Backe hielt, doch ich spürte nur ein Kribbeln. Meine Gesichtsmuskeln begannen zu zucken, ohne dass ich es kontrollieren konnte. Das diene der Stimulation, meinte der Arzt und mein Vater nickte wissend – er ließ sich gerade zum Krankenpfleger umschulen. Im nächsten Moment musste er lachen, denn als die Elektrode meine Schläfe berührte, spielte mein rechtes Auge verrückt. Es zwinkerte in einem fort, was mir unangenehm war. Mein Vater merkte es und zwang sich, nicht mehr zu lachen. Zudem hatte ihn meine Mutter angestoßen, die mich nur sorgenvoll ansah.
Ob ich die Klinik in den nächsten Wochen aufsuchen könne, fragte der Arzt, während er die Elektroden entfernte. Eine ambulante Therapie sei bei meiner halbseitigen Fazialislähmung unbedingt angezeigt, sonst bleibe das so, und er bezweifele, dass das Krankenhaus in unserem Ort ein solches Gerät überhaupt besitze. Meine Eltern blickten erst mich, dann einander und schließlich den Arzt mit wachsender Verzweiflung an. Mein Vater könne mich auf keinen Fall jeden Tag chauffieren, meine Mutter habe ja keinen Führerschein und dass wir Zwei täglich mit dem Bus fahren, könne man sich jetzt, wo mein Vater wegen der Umschulung weniger Geld bekomme, nicht leisten. An ein Hotel war erst recht nicht zu denken. Der Arzt sah mich nur bedauernd an und verabschiedete uns.
Wider Erwarten fand sich eine Möglichkeit in Doesbeck. Ausgerechnet der Herr der Schmerzen, mein HNO, fand in den Katakomben des alten Krankenhauses ein Gerät, das noch aus dem Krieg zu stammen schien und von dem ich fürchtete, dass es eher Folterzwecken gedient hatte. Es wirkte altersschwach und brummte wie eine ganze Trafostation. Die Elektrode zwickte auch viel mehr als die moderne in Münster, mein Arm schmerzte von dem Stromdurchfluss. Aber der Doktor machte mir Mut.
Sechs Wochen lang musste ich nun jeden Tag für eine halbe Stunde anrücken, das Zwicken und Knistern ertragen und immer wieder, jetzt mit ärztlicher Erlaubnis, Grimassen ziehen. Ich glaube, jeder hätte gelacht, wenn er mich so gesehen hätte – und erst recht meinen Arzt. Heute noch sehe ich sein Gesicht vor mir, dessen Muskelbewegungen ich nachmachen sollte, seinen verschmitzten Ausdruck, wenn sich seine Muskeln anspannten, die schmalen Schlitze seiner Augen und die hohe Stirn, dessen Haut wie die eines erkalteten Puddings wackelte, mal glatt war und mal Falten warf. Bald stand ich ihm in nichts mehr nach. Dafür, dass er mir wieder zu einem ganzen Gesicht verholfen hatte, bin ich ihm bis heute dankbar. Und als ich vor einem Jahr in der Kirche von seinem plötzlichen Tod erfuhr, zog ich automatisch – und natürlich völlig unpassend – meine Mundwinkel hoch.