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Das Blaue
ОглавлениеWir sind allein und können nicht mehr. Zwei winzige Kuchenstücke sind übriggeblieben. Jetzt habe ich Bauchschmerzen. Neben der Menge wohl auch eine Folge des zu schnellen Essens. Die ganze Zeit habe ich befürchtet, dass die zwei Wellensittiche, die frei im Wohnzimmer der Bothes umherfliegen dürfen, auf den Tisch kacken. Überall sonst finden sich jedenfalls ihre vertrockneten Kotkrümel.
Mit einem Knall stellt Botte die leere Colaflasche auf den Tisch. Obwohl wir satt und träge sind, hält es ihn nicht auf dem Sofa. Erst denke ich, er will den Fernseher einschalten, was ich keine schlechte Idee finde, zumal ich bei ihm, anders als zu Hause, in Farbe gucken kann. Doch Botte öffnet den Deckel des Plattenspielerschranks. Das ist neu. Hat er überhaupt vernünftige Platten? Meine Neuerwerbung ist Sheer Heart Attack von einer Gruppe namens Queen. Wahrscheinlich kennt er die gar nicht, geschweige denn Songs wie Brighton Rock oder Killer Queen. Überhaupt hat er bisher keine besondere Musikleidenschaft erkennen lassen.
Feierlich klappt er die Stütze aus, hängt sie in den Deckel ein, drückt routiniert einen Knopf neben dem Tonarmhebel und einen weiteren am Röhrenradio, das sich seitlich im offenen Teil des Schrankes befindet. Ich beneide ihn etwas für dieses altmodische Möbelstück, in dem alles einen behüteten, staubfreien Platz hat und aufgeräumt wirkt, anders als bei uns, wo die Geräte einfach nebeneinander im selbst gebauten, weißlackierten Bücher- und Nippesregal stehen, Kabelsalat inklusive. Die eingebauten Lautsprecher verbergen sich bei den Bothes an den zwei Seiten des Schrankes, hinter den senkrechten, wie geschnitzt wirkenden Aussparungen, die mich an gleichlange Orgelpfeifen erinnern.
Botte scheint die Prozedur zu genießen. Beinahe ehrfürchtig öffnet er die linke Schranktür, hinter der sich die Schallplatten befinden, fein säuberlich einsortiert in einen spiralförmigen Ständer. Es sind etwa dreißig LPs und wohl ebensoviele Singles. Davor steht eine Plattenhülle mit grünem Rahmen und dem rot-weißen Schriftzug der Bild-Zeitung: Ernst Mosch und seine Original Egerländer Musikanten – Vergiß die Heimat nicht! steht über einer im Halbrund angeordneten Gruppe von Blasmusikern, alle in bräunlichen Trachten mit weißen Kniestrümpfen, im Vordergrund wohl der besagte Ernst Mosch, der sich einer gedrungenen Frau mit weißen Bauschärmeln und Schürze zuwendet, als wolle er gleich mit ihr tanzen. Die Egerländer kommen mir bekannt vor; ich vermute aus dem Fernsehen, wo volkstümliche Gruppen und Bigbands von James Last oder Max Greger, ohne die keine Show auszukommen scheint, zur für mich schwer zu ertragenden samstäglichen Abendunterhaltung im Kreise der Familie gehört haben. Mittlerweile gebe ich mir das nicht mehr; dafür bin ich jetzt auch zu alt oder besser: zu jugendlich. Zum Glück gibt es für uns Vierzehnjährige bessere Angebote, allen voran die Disco13 im katholischen Jugendheim, die immer donnerstags ab 16 Uhr stattfindet und ab 19 Uhr nahtlos in die Disco16 übergeht, dann mit progressiver Musik, Bier- und Raucherlaubnis. Obwohl wir älter aussehen, zumal Botte, der schon Ansätze von Koteletten hat, dürfen wir nicht bleiben; die Betreuer kennen uns leider und haben Schiss vor einer stets möglichen Polizeikontrolle. Unfair ist nur, dass sie bei den Mädchen oft ein Auge zudrücken. Wir wissen natürlich, warum.
Botte starrt über den Rand seiner Brille hinweg, fingert an den Platten herum, zieht immer wieder welche heraus, doch anscheinend findet keine seine Gnade. Er stutzt. Im nächsten Moment hält er eine blaue Platte in Händen. Sie lässt sich aufklappen und zeigt ein über beide Seiten reichendes Schwarzweiß-Foto. Ich habe das Bild noch nie gesehen, erkenne auf den ersten Blick nur Menschen, darunter Kinder und vorne einen blonden Jungen mit Bürstenschnitt, der mich an ein Nachbarskind erinnert. Dann entdecke ich die langhaarigen Musiker; sie haben sich unter die Leute gemischt, die allesamt an einem schmiedeeisernen Gitterzaun stehen. Es sind die Beatles, aber sie sehen anders aus, als ich sie kenne. Wie Hippies, der eine mit seinen zurückgebundenen Haaren und der runden Brille wirkt auf mich wie ein Muttchen, die Großmutter von Kasperle und René.
Obwohl ich einige Lieder von den Beatles aus dem Radio kenne, habe ich mir nie etwas aus ihnen gemacht. Die Stücke kamen mir so brav vor wie die Schlager, die meine Eltern hören, nur eben auf Englisch. Das Yeah, Yeah, Yeah fand ich affig und jetzt erinnere ich mich auch an einen Fernsehauftritt: vier Jungs in altmodischen, dunklen Anzügen, mit schwarzen Krawatten und hässlichen Topffrisuren, der Schlagzeuger mit der dicken Nase, das steife Gehopse, gekrönt von einem bekloppt aussehenden Kopfschütteln, das ihre Frisuren nicht im mindesten durcheinanderbrachte, dafür aber hunderte Mädchen, die heulten und so laut kreischten, dass von der Musik kaum etwas zu hören war, schließlich die tiefe Verbeugung beim Schlussakkord, ein exaktes, gleichzeitiges Abknicken in der Hüfte, das den Blick auf die gestriegelten Pilzköpfe freigibt.
Die Haare auf diesem Albumfoto sind deutlich länger. Ich habe nie verstanden, warum meine Eltern einen Mann mit langen Haaren abfällig einen Beatle nannten, wahlweise auch einen Gammler oder Hippie. Und ich begreife erst jetzt und hier, im Wohnzimmer meines Freundes Botte, dass tatsächlich nicht die Pilzkopffrisuren gemeint waren, die ansatzweise sogar mein Vater hatte, sondern die langen Mähnen der späteren Beatles.
Ein Beatle wohnte direkt an der Hauptstraße, nicht weit von unserer Siedlung, ein Typ mit langen, glatten, schon leicht grauen Haaren und einer roten Lederjacke, einer wie der tätowierte Begleiter der Raupe, eines kreisrunden Fahrgeschäfts auf der Kirmes, der immer die Plastikchips einsammelte und noch mit wehendem Haar auf dem Trittbrett stand, wenn uns die Fliehkraft in unserem Dreiersitz schon längst nach außen drückte und sich bald schon die grüne Stoffhaube der Länge nach über uns spannte, was immer das Ende der Fahrt einläutete und dem Karussell von außen betrachtet das Aussehen einer Raupe gab, die sich in den Schwanz beißt.
Als Kind hatte ich Respekt vor dem langhaarigen Nachbarn, den alle nur Puffi nannten, weil er Zuhälter war und wohl schon im Knast gesessen hatte. Passt bloß auf, dass ihr nie auf die schiefe Bahn geratet, warnten uns unsere Eltern. So wie der Puffi. Wir sollten einen großen Bogen um ihn machen, denn er habe bestimmt ein Messer dabei, ein Springmesser wie die italienischen Gauner von der Mafia. Lange Haare, so die Botschaft, waren schon der Anfang einer schiefen Bahn. Die schiefe Bahn stellte ich mir immer rutschig vor, wie den abschüssigen Weg bei der alten Kapelle, die wir im Winter als Schlittenbahn benutzten und die mein sportlicher Vater einmal auf Ledersohlen hinabgeglitten war, ohne zu fallen.
Botte nimmt die Platte aus der ersten Hälfte des Doppelalbums, zieht die schwarze Vinylscheibe aus der Schutzhülle und dreht sie in den Händen, wobei er darauf achtet, nur die Ränder und die Mitte zu berühren. Ich muss lachen, denn das Label auf der einen Seite zeigt einen grüngelb gesprenkelten Apfel, das auf der anderen eine Apfelhälfte. Botte entscheidet sich für den ganzen Apfel, die Seite 1. Er hebt den Tonarm an, der Plattenteller beginnt sich zu drehen. Ganz behutsam setzt er die Nadel auf den Anfang der Rille, schafft es, anders als ich zu Hause, dass es keinerlei Kratzgeräusch gibt. Ein leichtes Knistern, dann ertönt ein Instrument, das ich noch nie gehört habe. Es klingt wie eine Querflöte oder sogar zwei, aber ich ahne, dass es etwas anderes ist. Die Töne pulsieren, münden in einen Akkord und schon erklingt Gesang.
Let me take you down ´cause I’m going to Strawberry Fields ...
Die Welt wird plötzlich ganz klein. Gebannt starre ich auf den sich drehenden Apfel, höre Musik, die mir Gänsehaut macht – eine sehr angenehme. Meine Haarwurzeln stellen sich auf, lassen die Kopfhaut kribbeln wie unter Ameisengewimmel. Ich kann kaum atmen, fühle mich wie in einem Tunnel, an dessen Ende ein grüner Apfel rotiert. Die verbotene Frucht ... Was für ein Paradies öffnet sich mir mit dieser Musik? Ich tauche in eine fremde, ganz und gar wundersame Welt ein. Und in diesem Moment weiß ich, dass ich Musik machen will. Musik wie diese.