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1.7 Zwischenbilanz nach einem Jahrzehnt

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In den meisten Staaten ebbte die Protestbewegung schon bald ab. Als Schwäche stellte sich heraus, dass sie wusste, wogegen sie war: die Regierung, den Polizeiterror, die Korruption, die Ungleichheit, die würdelosen Lebensbedingungen. Doch gab es keine hinreichende programmatische Klarheit und Übereinstimmung. Auch zögerten die Aktivisten, Strukturen und Führer herauszubilden, da sie der staatlichen Repression keine Angriffsfläche bieten wollten. Dieses zunächst erfolgreiche Verhalten wurde später zu einem Nachteil. Auch war gegenseitiges Misstrauen verbreitet – ein Erbe jahrzehntelanger autoritärer Herrschaft. Negativ wirkten sich die geringen finanziellen Mittel und die unzureichende Organisationserfahrung aus. Schließlich gelang es nicht, die breite gesellschaftliche Protestkoalition der ersten Monate über einen längeren Zeitraum aufrechtzuhalten.

Parlamentarisch agierende Islamisten sind infolge des Verbots und der Zerschlagung der Muslimbruderschaft in Ägypten und vielen Golfmonarchien erheblich geschwächt worden. Wo islamistische Parteien und Bewegungen noch agieren können, haben ihr politischer Spielraum und ihre Attraktivität bei den Bevölkerungen abgenommen. Istanbul ist heute neben London und Doha der wichtigste Exilort der Muslimbruderschaft. Ein Grund für die Ermordung des saudischen Dissidenten Dschamal Kaschoggi durch ein Mordkommando des Königreichs am 2. Oktober 2018 war sicherlich, dass er zu dieser Zeit in Istanbul den Aufbau eines Netzwerks islamistischer und nichtislamistischer Exilpolitiker zur Wiederbelebung des »Arabischen Frühlings« betrieb. Es forderte freie Wahlen anstelle autoritärer Herrschaft, wollte sich aber auch nicht zum Erfüllungsgehilfen von US-Interessen machen. Der Muslimbruderschaft hatte Kaschoggi in seiner Jugend angehört, und diese Verbindung hatte er wieder aufgenommen.35

Finanzstarke und gut organisierte »neu-alte Regime«36 haben vielerorts Protestbewegung und Islamisten gegeneinander ausgespielt, um wieder die Macht zurückzugewinnen. Militärs und Wirtschaftseliten verfügen über eingespielte Verbindungen entweder zu westlichen Staaten oder zu Russland und China. Ägypten zeigt exemplarisch auf, wie ein Bündnis zwischen »neu-alten« Eliten und der Armeeführung den Reformprozess 2013 stoppen konnte. Warnungen vor Instabilität, Bürgerkrieg, Terrorismus und Dschihadismus erwiesen sich in diversen Ländern als probate Instrumente, um die Risikobereitschaft in der Bevölkerung zu reduzieren und politische Resignation zu fördern.

In manchen Staaten wie Algerien, Jordanien oder Marokko wurden unter dem Druck der Proteste Reformen von oben angestoßen. Doch gehen diese Reformen vielen Einwohnern nicht weit genug. Die Golfmonarchien setzen auf eine Liberalisierung der Wirtschaft und mehr soziale und kulturelle Freiheiten, doch bleibt es bei einer autoritären Führung, die in den letzten Jahren sogar noch verstärkt wurde. Libyen, der Jemen und Syrien sind in lang andauernden bewaffneten Konflikten versunken, die von externen Einflussmächten befeuert werden.

Die Bereitschaft zur gewaltsamen Austragung ethnischer, konfessioneller oder tribaler Gruppenkonflikte erodiert staatliche Macht – umgekehrt fördert staatliche Schwäche den Rückzug auf die Gruppenzugehörigkeit und die Austragung von Verteilungskämpfen mit anderen Gruppen. Ressentiments zwischen Gruppen werden zudem aus machtpolitischen Erwägungen von Konfliktakteuren gezielt geschürt. Hält diese Tendenz weiter an, könnte am Ende der Zerfall einzelner Staaten wie Jemen, Libyen oder Syrien oder sogar des gesamten arabischen Staatensystems stehen.

Nur im geostrategisch relativ unbedeutenden Tunesien ist ein Transformationsprozess angelaufen, der mehrere freie Wahlen und eine neue Verfassung hervorgebracht hat, aber immer wieder von Rückschlägen begleitet wird.

Nach acht Jahren wurden einige Staaten wie Algerien, Irak, der Libanon und Sudan, die 2011 nicht in der vordersten Reihe standen, von Massendemonstrationen erschüttert. Ob sich daraus eine die Großregion erfassende neue Protestwelle entwickelt, ist noch nicht absehbar.

Nach den Einschnitten von 1918, 1945, 1979 und 1990 vollzieht sich seit 2011 eine epochale Neuordnung der arabischen Staatenwelt, die mit Sicherheit noch ein weiteres Jahrzehnt andauern wird. Voraussetzungen für eine stabile neue Ordnung wären gesellschaftlicher Konsens, bürgerschaftlicher Patriotismus sowie Kompromissbereitschaft aufseiten der externen Einflussmächte.

Arabischer Frühling ohne Sommer?

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