Читать книгу Arabischer Frühling ohne Sommer? - Martin Pabst - Страница 22
2.5 Gewinner unter den externen Mächten
ОглавлениеZieht man nach einem Jahrzehnt eine Zwischenbilanz, so sind Russland, der Iran und Israel die Gewinner unter den externen Einflussmächten.
Im Jahr 2015 machte Moskau mit einem Paukenschlag in Syrien deutlich, dass es die Entwicklungen in der arabischen Welt mitbestimmen wird. Im September des gleichen Jahres folgte das Land einer Einladung der al-Assad-Regierung und intervenierte militärisch aufseiten der Regierungskräfte. Dies geschah mit begrenztem Kräfteeinsatz: ca. 60 Kampfflugzeuge, ca. 25 Kampfhubschrauber, maximal 4 000 Soldaten, ergänzt durch private »Militärdienstleister«. Einerseits will Russland seinen langjährigen Partner (und Schuldner) an der Macht halten, andererseits ist es bestrebt, Radikalislamisten und Dschihadisten schon weit vor dem eigenen Staatsgebiet zu bekämpfen. So kämpften in Syrien zahlreiche Extremisten aus Russland, z. B. Tschetschenen, Dagestaner und andere. Die aus der Zeit des Kalten Kriegs noch bestehende Marinebasis Tartus ergänzte Russland um einen neuen Luftwaffenstützpunkt in Hmeimin bei Latakia an der syrischen Mittelmeerküste. In Syrien konnte es über 200 Waffensysteme zur Anwendung bringen, wodurch die russische Rüstungsindustrie einen großen Aufschwung erfuhr. Darüber hinaus knüpft Moskau vom Sprungbrett Syrien aus an alte Verbindungen an und strebt eine vom Irak über Syrien und Ägypten bis nach Libyen und möglicherweise Algerien reichende russische Einflusszone an. So besuchte Wladimir Putin 2015 und 2017 Ägypten, das zum Ärger Washingtons hochmoderne Su-35-Kampfjets in Russland bestellte. Von Nordafrika aus hat Russland auch seine Beziehungen zu vielen afrikanischen Staaten südlich der Sahara intensiviert.21
Am 10. Februar 2007 hatte Putin auf der Münchener Sicherheitskonferenz die kapitalistische Ausbeutung des Nahen und Mittleren Ostens durch den Westen kritisiert, die Radikalismus und Extremismus fördere. Auch sprach er sich gegen eine monopolare Dominanz der USA aus.22 In einem Interview mit al-Dschasira am selben Tag kritisierte er die Widersprüche der USA bei der angeblichen Demokratisierung des arabischen Raums und schlug eine internationale sicherheitspolitische Konferenz im Verbund mit der LAS vor. Als die einflussreichen internationalen Akteure bezeichnete er damals »die USA, Europa und Rußland«.23 Die Konferenz kam nie zustande, doch Russland engagierte sich nun immer stärker im arabischen Raum. Mit der Vermittlung eines internationalen Abkommens zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffen gelang Moskau im September 2013 ein erster diplomatischer Coup.
Russland stimmt seine Nahmittelostpolitik mit der israelischen Regierung ab und hat dort mit den über 1 Mio. seit 1990 zugewanderten russischen Juden einen Fuß in diesem Land. In Syrien koordinieren beide Staaten die Luftraumüberwachung. Russland ist Partner Israels bei der Erschließung der Erdgasvorkommen im Mittelmeer und profitiert vom Technologietransfer. Gemeinsame Interessen sind die Bekämpfung islamistischer und dschihadistischer Bewegungen. Einer Demokratisierung der arabischen Staaten stehen beide Staaten skeptisch gegenüber.
Bemerkenswert ist die russische Annäherung an die Golfmonarchien. So kam es im Oktober 2019 zu einem Gipfeltreffen zwischen Präsident Putin und dem saudischen Kronprinzen Muhammad bin Salman in Riad. In den Bereichen Energie, Kernkraft und Agrarwesen wird eine enge Kooperation angestrebt. Auch bot Putin dem langjährigen Alliierten der USA die Lieferung des modernen Luftwaffenabwehrsystems S-400 an.24 Russland und Saudi-Arabien teilen die Ansicht, dass Stabilität im arabischen Raum Vorrang vor Demokratisierungsbestrebungen hat, und sie arbeiten bei der Bekämpfung der (in Russland bereits seit 2003 verbotenen) Muslimbruderschaft sowie dschihadistischer Bewegungen zusammen.
Es gelang Russland sogar, die im Nahen und Mittleren Osten glücklos agierende Türkei dem Westen zu entfremden und sich anzunähern. Krönung dieses Vorhabens ist die Lieferung des Luftabwehrsystems S-400 an das NATO-Mitglied Türkei trotz massiver Bedenken der USA und der anderen NATO-Partner. In seiner Syrien-Politik ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan inzwischen von russischer Zustimmung abhängig, so bei seinen Militäroffensiven 2019 im Nordosten und 2019/20 im Nordwesten Syriens. Der geopolitische Vordenker und Putin-Berater Alexander Dugin formulierte als Ziel einen »Mittleren Osten ohne westliche Präsenz«, für dieses Projekt »brauchen wir die Türkei und den Iran als Alliierte«.25
Mit dem Iran koordiniert Russland die Anstrengungen zur Stützung der al-Assad-Regierung. Nach Abschluss des vom Sicherheitsrat unterstützten Nuklearabkommens mit dem Iran (2015) sagte Moskau Teheran trotz US-amerikanischer Einsprüche die Lieferung des älteren Luftabwehrsystems S-300 sowie von Kampflugzeugen, Hubschraubern und Artillerie zu. Gasprom modernisiert die iranische Energieindustrie, und auch im Agrarwesen, der Industrie und dem Telekommunikationswesen wurden Kooperationen vereinbart. Russland unterstützt eine Vollmitgliedschaft des Irans in der wirtschafts- und sicherheitspolitischen Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). Im Sommer 2019 fand erstmals ein gemeinsames Marinemanöver im Golf von Oman von China, Russland und dem Iran statt.
Freilich darf man nicht übersehen, dass aus historischer Perspektive Russland und Persien Erbfeinde sind. Das säkulare Russland wünscht keine allzu große Machtausweitung oder gar atomare Bewaffnung des Irans, und es könnte den gegenwärtigen Partner zum gegebenen Zeitpunkt zugunsten eines lohnenden Arrangements mit anderen Mächten opfern.
Russland hat das Kunststück vollbracht, gute Beziehungen mit allen relevanten Regionalmächten herzustellen. Es ist heute der Schiedsrichter, ohne den in Syrien und darüber hinaus nicht gehandelt werden kann. Doch dürfte es immer schwieriger werden, die antagonistischen Interessen seiner Partner auszubalancieren.
Der Iran ist mit einer Bevölkerung von 81 Mio. Menschen, einer Fläche von 1,6 Mio. Quadratkilometern, einer Truppenstärke von 610 000 Mann und einer Jahrtausende alten imperialen Tradition ein bedeutender regionaler Akteur. Zwar sind die Streitkräfte teilweise veraltet, doch verfügt der Iran über hochmoderne Drohnen und Raketen, die er selbst produziert.26
Seinen Einfluss in Nahmittelost konnte er seit den 1990er-Jahren stark erweitern. Strategisches Ziel ist eine Landbrücke über den Irak, Syrien und den Libanon bis zum Mittelmeer, möglicherweise strebt Teheran einen Militärstützpunkt an der syrischen Küste an. Seit 2005 beeinflusst der Iran die Politik im überwiegend schiitischen Nachbarland Irak, er hat die syrische Regierung politisch, militärisch und ökonomisch von sich abhängig gemacht und instrumentalisiert geschickt asymmetrische militärische Akteure in weiteren Staaten. Gegner des Irans, nämlich Israel, Saudi-Arabien und die USA, unterstellen dem Iran expansionistische Pläne. Hingegen sieht sich die iranische Politik in der Defensive. Man konstatiert, dass das Land in den vergangenen 200 Jahren immer wieder von außen angegriffen oder destabilisiert wurde, vom Irak in den 1980er-Jahren sogar mit Massenvernichtungswaffen. Teheran reklamiert eine Einkreisung durch die USA: In Afghanistan, Bahrain, Georgien, Irak, Israel, Katar, Kuwait, dem Oman, Pakistan, der Türkei und den VAE befinden sich US-Militärstützpunkte. Auch ist das Land von drei Nuklearmächten umgeben (Israel, Pakistan und Russland).
Der Abschluss des Nuklearabkommens (Juli 2015), entscheidende militärische Erfolge gegen die Rebellen in Syrien (2016–2018) und die mit iranischer Unterstützung erfolgte Niederkämpfung des IS im Irak (2017/18) ließen Teheran als einen Hauptgewinner des »Arabischen Umbruchs« erscheinen. Auch im Jemen, am Roten Meer und am Golf von Aden konnte der Iran an Einfluss gewinnen.
Die Islamische Republik scheiterte allerdings in ihrem Bemühen, Partner in sunnitischen Ländern zu gewinnen. Auch setzte der Iran für seine Machtausweitung erhebliche finanzielle Mittel ein, die die Wirtschaft im eigenen Land bremsen und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung verstärken. Die einseitige Aufkündigung des Nuklearabkommens durch die Signatarmacht USA im Mai 2018 inklusive US-amerikanischer Sekundärsanktionen gegen Drittstaaten im Fall von Iran-Geschäften beraubte Teheran der erwarteten zusätzlichen Einkünf-
Abb. 6: Via Syrien unterstützt der Iran die arabisch-schiitische Hisbollah-Bewegung im Libanon, hier ein Bild des iranischen Obersten Rechtsgelehrten Ali Chamenei im Südlibanon, 2017.
te. Damit wird der außenpolitische Handlungsspielraum des Irans weiter begrenzt.
Israel ist nur 22 380 Quadratkilometer groß und zählt lediglich 9,1 Mio. Einwohner. Doch kann es sich auf eine diversifizierte, hoch entwickelte Industrie- und Wissensökonomie mit einem Bruttoinlandsprodukt von fast 42 000 USD pro Kopf (2018), auf eine schlagkräftige, hochtechnisierte und 176 500 Mann starke Armee und auf eine weitreichende Sicherheitsgarantie durch die USA stützen.27
Es nutzte die Ablenkungseffekte des »Arabischen Umbruchs« und des IS-Terrors, um durch fortdauernde Besiedlung der besetzten palästinensischen Gebiete vollendete Tatsachen im Nahostkonflikt zu schaffen und einen selbstständigen Palästinenserstaat zu verhindern. Erstens nahm ab 2011 das Interesse für die Palästinenser international stark ab. Zweitens argumentierte Premierminister Benjamin Netanjahu erfolgreich nach innen wie nach außen, dass man in einem instabilen Umfeld keine Experimente wagen solle. Drittens manifestierte sich auch unter den Palästinensern, und zwar sowohl im Fatah-kontrollierten Westjordanland als auch im Hamas-kontrollierten Gasastreifen, Frustration über die Defizite der eigenen Regierungen, was von der Auseinandersetzung mit Israel ablenkte. Viertens verabschiedete sich der neue US-Präsident Donald J. Trump 2017 von der US-amerikanischen Vermittlerrolle und schlug sich einseitig auf die israelische Seite.
So bezeichnete Trump im Dezember 2017 im Widerspruch zu den einschlägigen UN-Sicherheitsratsresolutionen Jerusalem als israelische Hauptstadt und ließ die US-Botschaft von Tel Aviv dorthin verlegen. Im März 2019 erkannte er die 1981 erfolgte einseitige Annexion der syrischen Golanhöhen durch Israel an, im November 2019 erklärte sein Außenminister Mike Pompeo, dass man die israelischen Siedlungen im besetzten Westjordanland nicht mehr als Verstoß gegen internationales Recht betrachte.
Schließlich präsentierte Trump ohne vorherige Konsultation der Palästinenser im Januar 2020 einen extrem einseitigen »Nahost-Friedensplan«. Er sieht einen völlig von Israel umschlossenen, zerklüfteten palästinensischen Rumpfstaat unter Verlust bedeutender Teile des Westjordanlandes inklusive Ostjerusalems vor. Durch Entzug von Mitteln für das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge übt die US-Regierung Druck auf die Palästinenser aus, den Friedensplan zu akzeptieren, gleichzeitig stellt sie ihnen für diesen Fall Investitionen in Höhe von 50 Mrd. USD in den kommenden zehn Jahren in Aussicht. Trumps »Nahost-Friedensplan« spricht immerhin von einem Palästinenserstaat als Ziel, doch gibt es hierfür noch keine Zustimmung der israelischen Regierung. Große Teile der politischen Rechten in Israel lehnen dieses Ziel entschieden ab. Die palästinensische Regierung hat Trumps Vorschlag entrüstet abgelehnt.28
Die Machtübernahme des Militärs in Ägypten sichert Israels südliche Flanke ab und schwächt die aus der Muslimbruderschaft hervorgegangene Hamas im Gasastreifen. Gemäß dem linken syrischen Oppositionellen Michel Kilo war Israel bestrebt, den Krieg in Syrien anzufachen, nicht aber al-Assad zu stürzen: »Syrien ist ein unmittelbares Nachbarland Israels, und es spielte eine zentrale Rolle im Nahostkonflikt. Wenn Syrien zerstört ist, liegt das im strategischen US-amerikanischen und israelischen Interesse.«29 Israel kann mit einer geschwächten al-Assad-Regierung in Syrien gut leben, solange sich der iranische Einfluss nicht verstärkt. Dies wird durch von Moskau tolerierte israelische Militärschläge gegen iranische Revolutionsgarden und Hisbollah-Kämpfer in Syrien (und neuerdings auch im Irak) verhindert.
Die Feindschaft gegenüber dem Iran und der Muslimbruderschaft ermöglichte es, Israels Isolation in der arabischen Welt zu durchbrechen. Die politischen und militärischen Beziehungen Israels zu Saudi-Arabien, den VAE und anderen Golfmonarchien haben sich spürbar verbessert. Im August 2020 nahmen die VAE in enger Abstimmung mit den USA sogar als erster Golfstaat diplomatische Beziehungen zu Israel auf. Im Gegenzug verschob die israelische Regierung die geplante Annexiuon von Teilen des Westjordanlandes. Autoritäre arabische Regierungen sind für Israel berechenbarer als vom Volk getragene. Angesichts der Härten des Besatzungsregimes in den besetzten Gebieten und der 5 Mio. palästinensischen Flüchtlinge wird der Nahostkonflikt aber virulent bleiben. Sollten in einer neuen Welle des »Arabischen Frühlings« vom Volk getragene Regierungen an die Macht kommen, könnte sich der Druck auf Israel wieder verstärken.