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2.8 Saudi-Arabien, Katar und die Türkei

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Saudi-Arabien, Katar und die Türkei sind tendenziell die Verlierer des ersten Umbruchjahrzehnts, was aber nicht ausschließt, dass sie im kommenden Jahrzehnt Boden gut machen werden. Saudi-Arabien hat die größte Volkswirtschaft unter den arabischen Staaten, nach Algerien die zweitgrößte Fläche (2,15 Mio. Quadratkilometer), allerdings nur 34 Mio. Einwohner. Die Berufsarmee zählt rund 230 000 Mann und verfügt über modernste Waffen aus US-amerikanischer, britischer, französischer und spanischer Produktion. Pro Jahr werden an die 8 % des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgegeben. Doch ist die Kampfkraft begrenzt. Im Jemen-Krieg setzte Saudi-Arabien nur die Luftwaffe ein. Zwischen 2000 und 2010 erzielte die saudische Wirtschaft durchschnittliche Wachstumsraten von 14 % und häufte hunderte Mrd. USD an Devisen an. Die opulenten Mittel erlaubten dem Land nicht nur eine massive Aufrüstung, sondern auch die Förderung außenpolitischer Ziele durch finanzielle Unterstützung von Staaten, Parteien, Stämmen und religiösen Gruppierungen.40

Die saudische Machtstellung gründet auch auf seiner politischen und wirtschaftlichen Dominanz des 1981 gegründeten Golfkooperationsrats (GKR) mit Sitz in Riad. Das Königreich repräsentiert 99 % der Fläche, 68 % der Bevölkerung und über 50 % des Bruttoinlandsproduktes des GKR. Ein weiteres saudisches Instrument ist die 1969 unter maßgeblicher Mitwirkung Saudi-Arabiens gegründete und saudisch geführte Organisation Islamischer Zusammenarbeit (OIZ) mit Sitz in Dschidda.

Saudi-Arabiens Zukunft ist freilich von der erfolgreichen Diversifizierung seiner bisher auf Ölexporte ausgerichteten Volkswirtschaft im Rahmen der 2016 beschlossenen »Vision 2030« abhängig. Ob die ehrgeizigen Ziele der »Vision 2030« erreicht werden, ist noch offen. Die Nachfrage nach Öl wird langsam, aber stetig zurückgehen, und die begrenzten Erdgasressourcen kann das Land nur für den Eigenbedarf nutzen. Saudi-Arabien benötigt derzeit einen Ölpreis von über 80 USD pro Fass Brent, um seine Staatsausgaben zu finanzieren, doch seit 2015 ist er deutlich unter diese Marke gesunken. Anfang März 2020 brach der Ölpreis infolge eines beginnenden Preiskriegs mit Russland auf knapp 33 USD ein, die COVID-19-Krise trieb ihn bis zum 1. April sogar kurzfristig auf unter 24 USD. Zu erwähnen ist auch, dass Riad eine mit 2 % pro Jahr rasch wachsende Bevölkerung versorgen muss.

Das Land pflegte in der Vergangenheit eine zurückhaltende Außenpolitik und griff meist zur Scheckbuchdiplomatie. Seit der Inthronisierung von König Salman bin Abd al-Asis (2015) verfolgt das Königreich einen riskanten Kurs. Der Antreiber ist sein Sohn, der heute 35-jährige Kronprinz Muhammad bin Salman. »MbS« gehört einer aktivistischen jungen Generation an, sein bevorzugter Zeitvertreib sind Computerkampfspiele. Sein Mentor und Vertrauter ist Kronprinz Muhammad bin Zayid Al Nahjan (»MbZ«), der die Außenpolitik der VAE bestimmt. Als Verteidigungsminister und stellvertretender Premierminister steht »MbS« allen wichtigen saudischen Entscheidungsgremien in den Bereichen Politik, Geheimdienste und Wirtschaft vor.

Zwar konnte Saudi-Arabien 2011 die Protestbewegung in Bahrain unterdrücken und 2013 Ägypten an sich binden. Doch seine wenig professionelle Unterstützung von regierungsfeindlichen Stämmen und Rebellengruppen in Syrien zahlte sich nicht aus, ebenso wenig wie seine Bemühungen im Irak. Im Jemen hat sich das Königreich seit 2015 in einen kostspieligen und nicht zu gewinnenden Krieg verstrickt, es konnte Katar mit der 2017 verhängten Wirtschafts- und Verkehrsblockade nicht zur Unterwerfung zwingen, und mit den VAE hat es einen selbstbewussten und unberechenbaren Partner, der 2019 im Jemen seine Truppen zurückzog und dort im Süden sezessionistische Kräfte fördert. Auch ist der Jemen-Krieg mit geschätzten saudischen Kriegskosten von 200 Mio. Euro pro Tag immens teuer, gerade vor dem Hintergrund eines niedrigen Ölpreises.

Mit seiner aggressiven Politik gegenüber dem Iran riskiert Saudi-Arabien einen zwischenstaatlichen Krieg, bei dem es ohne massive US-amerikanische und israelische Hilfe den Kürzeren ziehen würde, wie die wohl direkt oder indirekt vom Iran ausgehenden Militärschläge gegen saudische Ölanlagen im September 2019 verdeutlichten. Bei diesem Ereignis offenbarte sich nicht nur die Schwäche der saudischen Luftabwehr, sondern auch der Unwillen der USA zu militärischen Gegenschlägen.

Saudi-Arabien hat es den USA massiv verübelt, den langjährigen Alliierten Hosni Mubarak 2011 fallen gelassen zu haben. Auch warf es Washington und seinen europäischen Verbündeten Untätigkeit in Syrien vor und nahm aus Protest dagegen im Oktober 2013 den ihm zustehenden Sicherheitsratssitz nicht an. Trotz aller Solidaritätsbekundungen Washingtons fürchtet man einen weiteren Rückzug der USA aus der Golfregion. Als Ersatz ist Saudi-Arabien bestrebt, eine von Marokko


Abb. 7: Das Konzept »Vision 2030« für die Zeit nach dem Öl und der saudische Staatsgründer Abdalasis al-Saud (1875-1953; oben), der derzeitige König Salman bin Abdalasis al-Saud (mittig) und Kronprinz Muhammad bin Salman (unten).

bis Indonesien reichende sunnitische Allianz gegen den Iran aufzubauen. Im Jahr 2015 initiierte Kronprinz Muhammed bin Salman eine aus 41 Staaten bestehende »Islamische Militärkoalition gegen den Terrorismus«. Das Hauptquartier befindet sich in Riad, der Kommandierende General kommt aus Pakistan. Schiitisch dominierte Staaten wie der Iran, der Irak und der Libanon wurden nicht eingeladen.

Das nur 11 437 Quadratkilometer große und 2,8 Mio. Einwohner zählende Emirat Katar hat sich dank der drittgrößten Erdgasreserven weltweit seit Mitte der 1990er-Jahre zu einem immer selbstbewussteren Akteur entwickelt. Mit seiner Softpower (wirtschaftliche Beteiligungen im Westen, Entwicklungsunterstützung durch die Qatar Foundation, Medienmacht mittels al-Dschasira, internationale Sportveranstaltungen, kulturelle Aktivitäten, personelle Netzwerke) steigerte es seine politische Sichtbarkeit und erwarb sich das Image eines weltläufigen, moderaten muslimischen Staates.41

Mit dem Reichtum kam das Selbstbewusstsein – nach Ansicht seiner Nachbarn der Größenwahn. Katar strebt danach, in Konkurrenz zu Saudi-Arabien zu einer arabischen Vormacht zu werden. Das Emirat ist auch militärstrategisch relevant, beherbergt es doch die Al Udeid U.S. Air Force Base und das Camp As Sajlijah, die zu den größten US-Basen weltweit zählen. In Al Udeid befindet sich außerdem eine vorgeschobene Kommandobasis des US-Regionalkommandos CENTCOM in Tampa (Florida). Rund 10 000 US-Soldaten sind permanent in Doha stationiert.42

Mit dem »Arabischen Umbruch« sah der ehrgeizige Emir Hamad bin Chalifa al-Thani 2011 seine Chance gekommen. Vom Vermittler wandelte sich das Emirat zum außenpolitischen Akteur. Zusammen mit der Türkei setzte es auf die Muslimbruderschaft. Doha wurde zu deren Schaltzentrum, und der zuvor für seine Objektivität gerühmte Sender al-Dschasira verwandelte sich in ein Sprachrohr der Muslimbrüder. In den Jahren 2011/12 hatte Katar gerade die rotierende Präsidentschaft der LAS inne und konnte sie für seine Zwecke instrumentalisieren.

Die politischen, militärischen und ökonomischen Beziehungen zwischen Katar und der Türkei haben sich seit 2011 intensiviert. Beide Staaten schlossen 2015 ein Verteidigungsabkommen. 2016 eröffnete die Türkei in Doha einen Militärstützpunkt mit 3 000 Soldaten, der drei Jahre später vergrößert wurde.43

Mit seinen gewaltigen finanziellen Mitteln finanzierte Katar Organisationen aus der Familie der Muslimbruderschaft, aber auch islamistische Rebellengruppen von nicht selten problematischer Ausrichtung, und dies bis hinein in den Maghreb und die Sahelzone. Gleichzeitig unterhält Katar passable Beziehungen zur schiitischen Großmacht Iran, mit der es bei der Ausbeutung des weltweit größten Erdgasfeldes im Persischen Golf zusammenarbeitet. Ideologisch konsequent war die katarische Außenpolitik nie, man wollte vielmehr »am liebsten auf jeder Hochzeit tanzen«.44

Saudi-Arabien und seine Partner warfen Katar eine riskante Außenpolitik vor und übten ab 2013 wachsenden Druck auf das Emirat aus. Wahrscheinlich auf saudischen Druck hin löste im Juni 2013 der junge Emir Tamim bin Hamad al-Thani seinen Vater ab. Doch lenkte der neue Herrscher nicht wie erwartet ein. Daraufhin verhängten Ägypten, Bahrain, Saudi-Arabien, die VAE und weitere Staaten im Juni 2017 ein umfassendes Handels- und Verkehrsembargo gegen das Land. Aufgrund seiner beachtlichten Devisenreserven, der Unterstützung mit Lebensmitteln und Überflugrechten durch den Iran und die Türkei wie auch aufgrund des unerwartet starken Patriotismus seiner Bevölkerung konnte Katar dem Embargo standhalten. Hierzu trug auch bei, dass die USA den langjährigen Alliierten stützten und eine – grundsätzlich leicht zu bewerkstelligende – Seeblockade durch Saudi-Arabien und die VAE verhinderten. Im Gegenzug musste Katar seine ehrgeizigen außenpolitischen Ambitionen massiv herunterfahren. Sein »Projekt Muslimbruderschaft« ist gescheitert.

Die Türkei hat unter dem seit 2003 regierenden Premierminister bzw. Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan von der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) wichtige innenpolitische Reformen durchgeführt und ein Wirtschaftswunder erlebt. Mit einem Bruttoinlandsprodukt von 1,167 Mrd. USD stand die türkische Volkswirtschaft 2013 weltweit an 17. Stelle und in Nahmittelost an erster Stelle. Mit einer Fläche von 784 000 Quadratkilometern, einer Bevölkerung von 83 Mio. Einwohnern, einer 355 000 Mann starken modernen Armee, einer erfolgreichen Rüstungsindustrie und einer jahrhundertealten imperialen Tradition gehört das NATO-Mitglied unbestritten zu den Regionalmächten.45

Erdogan und sein langjähriger außenpolitischer Vordenker Außenminister Ahmet Davutoglu betrieben eine strategisch ausgerichtete Außenpolitik. Die Türkei arbeitete darauf hin, politischen und ökonomischen


Abb. 8: Traditionelle Dhaus vor der Skyline von Doha (Katar).

Einfluss in früheren osmanischen Reichsgebieten wiederzugewinnen. Sowohl politisch als auch wirtschaftlich strebt sie eine Führungsrolle an. So vereinbarten der Libanon, Jordanien, Syrien und die Türkei im Sommer 2010 die Bildung einer Freihandelszone mit der Perspektive der Erweiterung zu einer »Nahost-Union«.46

Im »Arabischen Frühling« sah die Türkei die Möglichkeit einer Beschleunigung dieses Projektes unter türkischer Führung. Zusammen mit Katar setzte die Türkei auf die Muslimbrüder in Ägypten, Libyen, Syrien, Tunesien und anderen Staaten. Außenminister Davutoglu beendete seine bisherige Entspannungspolitik (»Null Probleme mit allen Nachbarn«) und unterstützte in Syrien islamistische Rebellen. Bald scheute man auch nicht vor der Zusammenarbeit mit extremistischen Bewegungen wie der al-Nusra-Front zurück, die sich zu al-Kaida bekannte. Damit nahm man freilich erhebliche Risiken für das eigene Land in Kauf. So reagierte der zuvor im Grenzgebiet zu Syrien von Ankara geduldete IS auf den türkischen Beitritt zur »Internationalen Allianz gegen den Islamischen Staat« mit einer Welle von Terroranschlägen in der Türkei in den Jahren 2015/16.

Heute verfolgt das Land eine »neorealistische«, opportunistische Außenpolitik. Unterstützt durch ein starkes Militär sollen sich bietende Gelegenheiten für eine türkische Machtausweitung genutzt werden. In den Jahren 2016/17, 2017, 2018, 2019 und 2019/20 unternahm die Türkei fünf Militäroffensiven in Nordsyrien und griff 2020 auch im libyschen Bürgerkrieg ein. Auch rüstungspolitische Interessen werden dabei verfolgt. So werden an die libysche Einheitsregierung verkaufte Kampfdrohnen von der Firma Baykar produziert, die einem Schwiegersohn Erdogans und dessen Familie gehört.47

Mit dem Schlagwort »Die Welt ist größer als diese fünf [Vetomächte]«48 fordert Erdogan eine Erweiterung des UN-Sicherheitsrats, er strebt einen ständigen Sitz für sein muslimisches Land an. Die Türkei will zur Führerin der islamischen Welt aufsteigen. Auf der Feier anlässlich der zweijährigen Niederschlagung des Putschversuchs der Gülen-Bewegung verkündete Erdogan am 15. Juli 2018 an der Istanbuler Bosporus-Brücke, dass er die Zusammenarbeit mit aufsteigenden Mächten wie China und Russland sowie neuen Mächten in Afrika und Asien weitest möglich ausbauen wolle. Daran müssten sich die Beziehungen zur NATO und zur EU orientieren.49 Erdogan deutete potenzielle Gebietsansprüche im Irak und in Syrien an und äußerte am 10. November 2016 bei der Feier des 38. Todestages vom Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk: »Wir werden nicht Gefangene auf 780 000 Quadratkilometern sein.«50 Zunehmend stellt er denVertrag von Lausanne (1923) infrage, was in eklatantem Widerspruch zur defensiven Außenpolitik Atatürks steht. Dessen Linie war es, auf Gebietsansprüche zu verzichten.

Die Türkei ist nicht an einer Ausweitung des iranischen Einflusses in Nahmittelost interessiert, da dies ihre eigene Dominanz in der Region schmälern würde. Aufgrund seines politischen Systems, seiner Ideologie und seines Nuklearprogramms wird die Islamische Republik Iran kritisch gesehen, doch ist Ankara um passable Beziehungen zu Teheran bemüht, zumal die Türkei vom Iran einen Großteil ihrer Erdgasimporte bezieht. In Syrien riskiert Ankara aber einen Konflikt mit Teheran.

Saudi-Arabien steht als sunnitisches Land der Türkei nahe, doch ist es in regionalpolitischer Hinsicht sein Rivale. Beide beanspruchen die Führerschaft in der muslimischen Welt. Die Beziehung ist historisch belastet – in Riad hat man nicht vergessen, dass der saudische Herrscher Abdullah bin Saud im Jahr 1818 nach Konstantinopel verschleppt und auf dem Platz vor der Aya Sophia enthauptet wurde. Wegen der türkischen Unterstützung der Muslimbruderschaft ab 2011 hat sich das Verhältnis zu Saudi-Arabien erheblich verschlechtert. Die Ermordung von Dschamal Kaschoggi im saudischen Generalkonsulat in Istanbul (2. Oktober 2018) durch ein saudisches Kommando hat das bilaterale Verhältnis weiter belastet. Saudi-Arabien hat Verbindungen zur kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) in Syrien geknüpft, einem Mitglied der PKK-Familie, sicherlich in der Absicht, die Türken dort unter Druck zu setzen. Auch im Iran soll Saudi-Arabien eine PKK-Widerstandsgruppe unterstützen.51

Erdogan verurteilte die Zurückhaltung des Westens bei der Unterstützung der syrischen Rebellen und sah sich beim Putschversuch in der Türkei alleingelassen. Im Gegenzug kritisierte die US-Regierung ein unklares Verhältnis der Türkei gegenüber radikalislamistischen Organisationen sowie eine zunehmende Annäherung der Türkei an den Iran und Russland. Auch belastet ein Rüstungsstreit das Verhältnis zwischen der Türkei und den USA. Die Türkei verkündete 2018, das moderne russische Flugabwehrsystem S-400 kaufen zu wollen, obwohl die USA nach anfänglichem Zögern inzwischen das Patriot-System angeboten hatten. Die Entscheidung eines NATO-Landes, ein russisches Waffensystem zu kaufen, ist aus Sicht Washingtons sowohl eine Provokation als auch ein schweres Sicherheitsrisiko. Wenn der neue US-Kampfjet F-35 an die Türkei geliefert würde, könnten Details über Stärken und Schwächen des F-35 in russische Hände gelangen. Denn russische Experten werden die Installierung des S-400-Systems in der Türkei begleiten. Die USA stoppten daraufhin die Auslieferung von F-35-Kampfjets an die Türkei. Dem Land, das am Konsortium beteiligt ist, werden durch diesen Auslieferungsstopp auch Fertigungsaufträge entgehen. Zudem drohten die USA mit Sanktionen.

Die von Washington mit Militärberatern und Waffen unterstützten, zur PKK-Familie zählenden syrischen Kurdenmilizen »Volksverteidigungseinheiten« (YPG) und »Frauenverteidigungseinheiten« (YPJ) gelten in Ankara als »Terrorbanden«. Last, but not least fordert die türkische Regierung die Auslieferung des mutmaßlichen Putschverantwortlichen Fethullah Gülen aus den USA. Dass dieser seit 1999 im US-Exil lebt, führte sogar zu Mutmaßungen, dass die USA hinter dem Putschversuch in der Türkei gesteckt haben könnten.

Als die US-Regierung im Oktober 2019 die türkische Militäroffensive in Nordostsyrien kritisierte, (begrenzte) Wirtschaftssanktionen verhängte und der US-Kongress im darauffolgenden Dezember die Massaker an Armeniern im Ersten Weltkrieg als Genozid einstufte, drohte Erdogan mit der Schließung der US-Luftwaffenbasis in Incirlik und der US-Radarstation in Kürecik. Damit befand sich das Verhältnis zwischen der Türkei und den USA auf einem Tiefpunkt. Doch bemüht sich Washington, die Türkei weiter in der NATO zu halten. Aufgrund ihrer geopolitischen Pufferfunktion ist sie unentbehrlich.

Im Westen gilt die Türkei als doppelter Puffer gegenüber Bedrohungen aus Nah- und Mittelost sowie aus Russland. Die USA sehen die sunnitische Türkei als stärkstes Gegengewicht zur schiitischen Islamischen Republik Iran. Zudem ist sie eine aufsteigende Wirtschaftsmacht mit 83 Mio. Konsumenten sowie eine schlagkräftige Militärmacht mit einer 355 000 Mann starken Armee – in der Region zweifellos der attraktivste Partner noch vor den arabischen Golfstaaten. Hier befinden sich US-Stützpunkte wie auch NATO-Basen.

Wie oben beschrieben, hat sich die Türkei seit 2016 Russland angenähert. Im Rüstungsbereich sind die Interessen kompatibel, in Syrien konnte man Differenzen bisher ausgleichen. Doch ist das gegenseitige Verhältnis ambivalent. Ankara rivalisiert mit Moskau um Einfluss in Zentralasien und im Kaukasus, nimmt im Berg-Karabach-Konflikt für Aserbaidschan Partei, pflegt enge Verbindungen zur Ukraine, unterstützt die bedrängten Krim-Tataren und sieht den gewachsenen russischen Einfluss in der Schwarzmeerregion kritisch.

Fast ein Jahrzehnt nach dem »Arabischen Umbruch« ist die türkische Außenpolitik in zentralen Punkten gescheitert. Statt »Null Problemen mit allen Nachbarn« hat man nun fast überall Probleme. Die 2011 begründete Allianz mit Katar und der Muslimbruderschaft hat sich nicht ausgezahlt. Katar steht unter dem Embargo der Golfstaaten, und die Muslimbruderschaft ist in der Defensive. Erdogans einseitige Parteinahme zugunsten des syrischen Aufstands hat der Türkei 3,7 Mio. syrische Flüchtlinge beschert und dem IS und radikalislamistischen Gruppierungen Wege ins eigene Land gewiesen. Auch eröffnete Erdogan mit seiner riskanten Politik ungewollt den PKK-dominierten kurdischen Kräften in Syrien Spielräume, die er nun mit riskanten Militärinterventionen wieder rückgängig machen will.

On die Türkei mit ihrer zum Jahreswechsel 2019/20 begonnen Militärintervention in Libyen langfristig reüssieren wird, ist offen. Dort sucht sie nun politischen, ökonomischen und militärischen Einfluss. Ankara bemüht sich im Mittelmeerraum um eine Allianz mit Algerien, Libyen und Italien, um Ägypten, Saudi-Arabien, die VAE, Frankreich sowie die »Erbfeinde« Griechenland und die Republik Zypern zurückzudrängen. Doch riskiert die Türkei erneut Spannungen mit Russland, das in Libyen auf der anderen Seite steht.52

In Syrien ist der türkische Versuch, die USA, die EU, Russland, Saudi-Arabien, den Iran und Israel gegeneinander auszuspielen, gescheitert. Eher dürfte die – insbesondere ökonomisch verwundbare – Türkei zwischen allen Stühlen sitzen. Der Iran und Russland haben für die Türkei in erster Linie Bedeutung als Energielieferanten. Doch taugen diese beiden Länder ebenso wenig wie China als alternative ökonomische Partner für die eng mit dem Westen vernetzte und derzeit stark unter Druck stehende türkische Wirtschaft. Der Schutz durch das NATO-Bündnis, die militärische Anbindung an die USA sowie die guten Beziehungen zur EU waren bislang ein Garant für die Stabilität der Türkei. Über 50 % des Handels erfolgen mit den USA und der EU, zwei Drittel der ausländischen Direktinvestitionen stammen von dort. »Kostbare Einsamkeit«,53 die 2013 Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin als neue außenpolitische Linie verkündete, kann sich die Türkei nicht dauerhaft leisten. Allein könnte sich das Land schwerlich einem iranischen und russischen Expansionsstreben widersetzen – umso weniger, wenn sich beide Länder zusammentun. Entweder wird die Türkei in Abhängigkeit des neuen Patrons Russland geraten oder geschwächt die vollständige Wiedereinbindung in das westliche Lager suchen.

Arabischer Frühling ohne Sommer?

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