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Der »Arabische Frühling« wurde durch die Selbstverbrennung des jungen Gemüsehändlers Mohamed Bouasisi am 17. Dezember 2010 in der südlichen Provinzstadt Sidi Bousid ausgelöst. Er hatte die Oberschule besucht, konnte es sich aber nach dem frühen Tod des Vaters ohne wasta (Beziehungen) nicht leisten, das Abitur abzulegen oder gar zu studieren. Als informeller Gemüsehändler musste er seine Familie durchbringen. Von der Polizei wurde er schikaniert, zu wiederholten Bestechungsgeldern gedrängt, seiner elektronischen Waage beraubt und wahrscheinlich sogar von einer Beamtin geschlagen. Bei nachfolgenden Beschwerden auf der Polizeiwache und am Gouverneurssitz gedemütigt und weggejagt, übergoss sich der verzweifelte junge Mann spontan auf dem Hauptplatz mit Benzin und zündete sich an.1

Der traurige Vorfall wurde zum Fanal einer Arabien-weiten Protestbewegung, die soziale, religiöse, ethnische und tribale Grenzen überwand. Denn er schien symptomatisch für die Misere Tunesiens und vieler arabischer Länder, zeigte er doch wie in einem Brennglas die verbreiteten Missstände auf: die Chancenlosigkeit einer zahlenmäßig rasch wachsenden Jugend, desaströse ökonomische Verhältnisse für viele Einwohner, Ausbeutung, Korruption und Ineffizienz der Verwaltung, Polizei- und Staatswillkür, Rechtlosigkeit und Entwürdigung des Bürgers sowie Vernachlässigung der Provinz durch die wohlhabenden Eliten in der Hauptstadt.

Zur Empörung hatte auch beigetragen, dass die investigative Internetplattform Wikileaks kurz vor Bouasisis Selbstverbrennung im Dezember 2010 geheime US-Botschaftsdepeschen veröffentlicht hatte, in denen die maßlose Korruption des Ben Ali/Trabelsi-Clans dokumentiert wurde. So hatte im Jahr 2009 der US-Botschafter nach Washington berichtet, dass Ben Alis Schwiegersohn Mohamed Sakhr El-Materi in seiner Luxusvilla im Badeort Hammamet regelmäßig von seinen Dienern Hühner an seinen gehätschelten Haustiger »Pascha« verfüttern ließ und sich in einem Luxusferienort in der Nähe von Tunis einen noch prächtigeren Palast baute. Mit (Zwangs-)Beteiligungen waren die Schwiegersöhne des Präsidenten und die Brüder seiner Ehefrau Leila aus der Familie Trabelsi Teilhaber unzähliger Firmen – wer nicht kooperierte, musste mit der Steuerfahndung und anderen Schikanen rechnen, bei fortgesetzter Intransigenz auch mit schlimmeren Konsequenzen. Der US-Botschafter räumte ein, dass die Mitglieder des Ben Ali/Trabelsi-Clans höchst unbeliebt seien, ja sogar gehasst würden.2 Versuche der Regierung, Wikileaks zu blockieren, hatten nicht funktioniert.

Zwanzig Jahre früher hätte der Fall Bouasisi zwar vor Ort Aufsehen erregt, aber nie überregionale Bedeutung erlangt. Doch über die sozialen Medien und private Satellitensender wurde das Ereignis im Nu bis in die Hauptstadt Tunis und von dort in die gesamte arabische Welt weitergetragen. Bilder erster Demonstrationen von Verwandten am Tag nach dem Vorfall wurden geteilt und weitergeleitet. Bald kam es auch in der Hauptstadt zu größeren Solidaritätskundgebungen, die sich in den Medien rasch verbreiteten.

Akzentuiert wurde das Ereignis durch die Tatsache, dass Bouasisi noch bis zum 4. Januar im Krankenhaus lag, bevor er dann seinen schweren Brandverletzungen erlag. Das Bild des weiß einbandagierten Körpers wurde zur Ikone des Opfers staatlicher Repression. Auch der Besuch von Staatspräsident Zine El Abidine Ben Ali am Bett des sterbenden Bouasisi konnte daran nichts ändern – im Gegenteil: Allzu spät hatte der autoritär regierende Präsident auf den Vorfall reagiert. Der in den Medien herausgestellte Krankenhausbesuch ähnelte den allgegenwärtigen steifen Politinszenierungen, und das der Mutter angebotene Handgeld in Höhe von 10 000 Euro hinterließ einen schalen Beigeschmack.

Nur zehn Tage nach Bouasisis Tod war Ben Alis Herrschaft zu Ende. Zunächst in der Provinz, dann in der Hauptstadt kam es zu anwachsenden Protesten und Streiks, die von der hier trotz aller staatlichen Behinderungen in Ansätzen existierenden Zivilgesellschaft unterstützt wurden: Gewerkschaftsfunktionäre, Journalisten, Menschenrechtsanwälte


Abb. 4: Tunesiens autokratischer Staatspräsident Zine El Abidine Ben Ali herrschte mittels der Einheitspartei RCD, unterstützt durch Polizei und Geheimdienste.

und Stammesälteste stellten sich hinter die Proteste. Die Repression von Polizei, Präsidentengarde und Geheimdiensten fachte die Wut der Bürger nur noch an. Parolen wie »Nein zu Ben Ali« und »Ben Ali tritt zurück« wurden in dem zuvor rigide kontrollierten Land von immer mehr Menschen gerufen. Als der Staatspräsident am 13. Januar den Armeechef Raschid Amar bat, ihm zu Hilfe zu kommen, lehnte dieser ab. Auf einer Kundgebung erklärte er: »Die Armee ist die Garantin der Revolution«.3 Im Unterschied zu Polizei und Geheimdiensten war die kleine Wehrpflichtigenarmee denn auch in der Vergangenheit vom Staatspräsidenten schlecht behandelt und kurz gehalten worden. Die regierungsferne Stellung der Armee war eine Besonderheit Tunesiens und erleichterte hier den Sturz des Regimes. In anderen arabischen Staaten ist die Armeeführung entweder eng mit dem Regime vernetzt oder sogar selbst der primäre Machtfaktor.

Erzürnt entließ Ben Ali seinen Armeechef, doch half ihm auch dieser Schritt nichts mehr. Nach eskalierenden Protesten kündigte Ben Ali am Abend des 13. Januar im Fernsehen an, nicht erneut für das Präsidentenamt kandidieren zu wollen. Einen Tag später folgte der in Panik geratene Autokrat seiner bereits nach Dubai geflohenen Frau Leila in seinem Regierungsflugzeug ins Exil am Golf – der frühere Mentor Frankreich wollte ihn nun nicht mehr aufnehmen. Die »Jasmin-Revolution« hatte gesiegt. Bezeichnenderweise war es das autokratische Saudi-Arabien, das dem Ehepaar schließlich Zuflucht gewährte.

In Dschidda konnte Ben Ali bis zu seinem Tod im September 2019 gut leben: Gemäß einer Untersuchung der Weltbank von 2014 zweigte der gierige Ben Ali/Trabelsi-Clan, der über 200 Unternehmen kontrollierte, 21 % der Gewinne des Privatsektors ab. Im Verlauf der über 20-jährigen Regierung kamen auf diese Weise an die 50 Mrd. USD zusammen, die teilweise ins Ausland transferiert wurden.4 Dem nicht genug: Bei ihrer Flucht soll Leila Ben Ali auch noch Goldbarren in großem Umfang aus der Staatsbank entwendet haben.5

Bis zum Schluss seiner Herrschaft genoss Ben Ali die Unterstützung der französischen Regierung. Zum Jahreswechsel 2010/11 verbrachte die französische Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie ihren Urlaub in einem Hotel des tunesischen Geschäftsmannes Asis Miled aus dem engsten Umfeld von Ben Ali und war von dessen Privatjet abgeholt worden. Ihre Familie machte Immobiliengeschäfte mit dem tunesischen Unternehmer. Auf dem Höhepunkt der Proteste sagte die Ministerin der tunesischen Regierung polizeiliche Hilfe und Ausrüstungsunterstützung zu. Erst kurz vor Ben Alis Flucht blockierte das Außenministerium die bereits auf dem Pariser Flughafen verladenen Tränengasgranaten und anderen Ausrüstungsgegenstände.6

Arabischer Frühling ohne Sommer?

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