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Innere Erfahrung als Transgression

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Mit der „expérience intérieure“ würde Bataille eine mystische Erfahrung bezeichnen, wenn diese Art der Erfahrung nicht konfessionelle Bindungen in sich trüge. Die innere Erfahrung ist nach Georges Bataille ekstatisch und unsicheren Ausgangs. Sie untergräbt das Wissen wie das Sein an sich1, vor allem aber verlangt sie von ihrem Ausdruck, dass er sie nicht abbilde (was sie verfehlen würde), sondern sie vollziehe: „L’expression de l’expérience intérieure doit de quelque façon répondre à son mouvement, ne peut être une sèche traduction verbale, exécutable en ordre.“2 Daraus kann man schließen, dass die innere Erfahrung dem Denken und der Sprache abverlangt, sich ihr gewissermaßen hinzugeben, d.h. feste Standpunkte aufzugeben und in ein Gleiten zu kommen, das eine innere Entgrenzung ermöglicht. Analog zur mystischen Erfahrung, jedoch abzüglich all ihrer Glaubensprämissen, bedeutet die innere Erfahrung, wie Blanchot in seinem Artikel zu Batailles 1943 publiziertem Werk L’expérience intérieure formuliert, einen „état de violence, d’arrachement, de rapt, de ravissement […] ‚perte de connaissance‘ extatique“.3 Nur wenn Sprache und Denken auch vor sich selbst keinen Halt mehr machen und in ein unkontrollierbares Gleiten jenseits der Innerlichkeit kommen, kann es über die Transgression zu einer Kontinuitätserfahrung, sprich zum Selbstverlust kommen. Im Gegensatz zur überschreitenden Transzendenzerfahrung im religiösen Kontext, die zumeist mit einer gen Gott gerichteten Elevation korrespondiert, beschreibt Bataille jedoch ein „model of immanent transgression“4, das folglich den Selbstverlust in der Immanenz und nicht in der Transzendenz sucht.

Der Begriff der Transgression referiert auf eine Grenzüberschreitung, die erst durch das die Grenze festlegende Verbot der Überschreitung geschehen kann. Eine der wirkmächtigsten Interpretationen dieser von Bataille wesentlich etablierten Denkfigur liefert Michel Foucault in seinem 1963 erschienenen Artikel „Préface à la transgression“.5 Grenze und Überschreitung sind in seiner Lektüre Batailles unaufhaltbar miteinander verbunden und aufeinander angewiesen. Mich interessiert für den Gebrauch des Begriffs der Transgression die sprachphilosophische Dimension dessen, was hinter der Dialektik von Grenze und Überschreitung steckt und worauf Foucault in seiner Bataille-Lektüre beständig hinweist. Gesucht wird ein Denken der nicht-positiven Bejahung, welches Foucault mit Blanchot und dessen Begriff der „Bestreitung“ (contestation) verbindet. Es geht Foucault um eine nicht-dialektische oder entdialektisierte Sprache, ein „Denken des Außen“, ein Denken an der äußersten Grenze, wie er dann 1966 in seinem Aufsatz „La pensée du dehors“ über Blanchot formulieren wird.

Was ist darunter zu verstehen? Zunächst eine Sprache, die sich der Eindeutigkeit entzieht. Dieser Entzug kann und sollte auf verschiedenen Ebenen passieren. Foucault findet dafür in Bezug auf Batailles Sprache den Term „Entkopplung“ (décrochage). Entkoppelt werden muss alles, was irgendwie hierarchisch-ordnungsbildend wirken könnte: die Einhaltung von bestimmten Textsorten- oder Gattungen, Ebenen des Sprechens, des Tempus oder der Referenz. In all diese Einteilungen und Bezüge werden Wechsel und Abbrüche eingelassen, die klare Zuordnungen und Interpretationen erschweren und damit stetig den Glauben an das philosophische Subjekt in dessen Aporie treiben. Die Paradoxie der Sprache ist und bleibt, dass sie der „einzige Kommunikationsmodus der Grenzerfahrungen“ ist und zugleich auch die Unerreichbarkeit und Uneinholbarkeit des sich Entziehenden offenbaren muss.6

Die von Thomas ausgeführte Bewegung des Gleitens kann in der Forderung einer sich, wie soeben beschrieben, performativ vollziehenden Sprache unter anderem bedeuten, dass der Text den Leser indirekt anspricht und ihm als Lesehinweis für die Lektüre des Textes Thomas l’Obscur auferlegt, wie Thomas den sicheren Boden der Betrachtung zu verlassen, um sich in die Bilderflut des Textes mit all seinen Wirbeln und Abgründen zu begeben und sich folglich auf die eigene innere Erfahrung einzulassen. Der Übergang vom Ufer ins Meer, d.h. von der Erde ins Wasser, korrespondiert einer Transition von der Betrachtung und Bewegungslosigkeit in die Mobilität des Schwimmens und der Selbstexposition in der Berührung. Wie meine Lektüre zeigen wird, ist damit zudem ein Anfang für eine bestimmte Art von Grenzerfahrung in jeglicher Hinsicht gemacht, die der Roman paradigmatisch durchdekliniert.

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