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Immersion und Offenes
ОглавлениеInitiatorisch empfangen wird Thomas vom Wasser mit einer Taufe, indem er sogleich von Strudeln untergetaucht wird. Abermals wird das Erzählte verunklart, indem einerseits Thomas als guter Schwimmer dargestellt und vom Meer behauptet wird, dass es ruhig sei, während andererseits die „remous“ eine stürmische See evozieren. Dieser Gegensatz lässt sich nur erklären, wenn man berücksichtigt, dass Thomas an diesem Tag „einen neuen Weg gewählt hatte“.1 Dieser neu eingeschlagene Weg verweist auf eine Kopplung von innerer Wahrnehmung und äußerem Geschehen, durch die im Laufe des Kapitels eine zunehmende Überlagerung und Vermischung geschieht. Den neuen Weg lese ich als Entscheidung, sich einer ekstatischen Erfahrung des Offenen gänzlich auszusetzen.2
In TO1 ist Thomas’ Entschluss, die bekannten Regionen an diesem Tag zu verlassen und sich in das Unbekannte vorzuwagen, deutlicher ins Aktive verlagert. Dort heißt es nach der Feststellung, dass er ein guter Schwimmer ist: „Il n’avait donc pas à s’inquiéter […] quoique le but qu’il s’était fixé lui parût soudain très éloigné et qu’il éprouvât une sorte de gêne à aller vers une région dont les abords lui étaient inconnus.“3 Auch werden in TO1 Objekte, die in Thomas’ Wahrnehmung geraten, benannt. Dabei handelt es sich z.B. unmittelbar nach dem Eintauchen um einen anderen Schwimmer oder etwas später um ein Boot. Beides lässt Thomas in einer bewussten Entscheidung entgleiten, ebenso wie er nicht versucht, an das sichere Ufer zurückzukehren. In TO2 ist die Gewalt des Wassers, das Thomas zum Objekt macht und ihn sich unterwirft, durch die Kürzungen der eben genannten Passagen sehr viel deutlicher in den Vordergrund gestellt, so dass das Gleiten zur unerklärlichen und fremdbestimmten Sogwirkung wird.
Der Eintritt ins Offene zeigt sich unter anderem an der veränderten Blicksituation: Während Thomas am Ufer seinen Blick trotz des Nebels auf die Schwimmer im Wasser richten kann, verdeckt der Nebel von der anderen Seite aus betrachtet das begrenzende Ufer und Thomas’ Blicke (ses regards), nun im Plural, finden keine Haftung mehr.
La brume cachait le rivage. […] La certitude que l’eau manquait, imposait même à son effort pour nager le caractère d’un exercice frivole dont il ne retirait que du découragement. Peut-être lui eût-il suffi de se maîtriser pour chasser de telles pensées, mais ses regards ne pouvant s’accrocher à rien, il lui semblait qu’il contemplait le vide dans l’intention d’y trouver quelque secours.4
An dieser Stelle wird anhand des fehlenden Wassers, in dem Thomas schwimmt, das inhaltlich fixierbare äußere Geschehen endgültig überführt in ein Wahr-nehmungsgeschehen, das zwar noch in einem subjektgebundenen Bewusstsein verankerbar scheint, in dem sich jedoch bereits erste Risse andeuten. Die Selbstbeherrschung oder die Subjektsouveränität ist durch die fehlende äußere Blickbegrenzung destabilisiert.
Im Folgenden häuft sich die Isotopie der Bewegung und Dissoziation, die durch ein Deiktikum als unmittelbare Erfahrung präsentiert wird. War das Wasser eben noch abwesend, zeigt es sich nun aus dieser Abwesenheit umso bedrohlicher: „C’est alors que la mer, soulevée par le vent, se déchaîna. La tempête la troublait, la dispersait dans des régions inaccessibles, les rafales bouleversaient le ciel et, en même temps, il y avait un silence et un calme qui laissent penser que tout déjà était détruit.“5
Dagegen stehen gleichzeitig das Schweigen und die Ruhe, welche jedoch keinen beruhigenden Gegenpol bilden, sondern eher die gefährliche Ahnung des Ursprungs der tosenden Bewegung ankündigen. Im weiteren Textverlauf wird Thomas’ Kampf mit dem Wasser geschildert, das in ihn eindringt und den Prozess des Selbstverlustes und Selbstentfremdung vorantreibt. Mit zunehmender Kälte scheint er das Gefühl für seine Körperglieder und seine orientierenden Sinneswahrnehmungen zu verlieren, sodass mit der steigenden Gewalt und Fremdheit des Wassers sich die Grenze zwischen innerer oder gedanklicher Bewegung und äußerem Kampf gegen das Ertrinken zu verwischen beginnt. Somatisches und Gedachtes gehen reziprok und unkontrollierbar ineinander über. Die Grenze zwischen Thomas und dem Meer, zwischen Subjekt und Objekt, scheint auf der Basis eines traumähnlichen Zustandes zur Vereinigung mit dem Meer zu führen: „Il poursuivait, en nageant, une sorte de rêverie dans laquelle il se confondait avec la mer. L’ivresse de sortir de soi, de glisser dans le vide, de se disperser dans la pensée de l’eau, lui faisait oublier tout malaise.“6
Dieses Sich-Vermengen mit dem Meer ist sprachlich ebenfalls performativ artikuliert über eine Verunklarung der Bezüge von innen und außen, in denen sich die inhaltlich ausgedrückte Auflösungsmetaphorik wiederholt. Denn „se disperser dans la pensée de l’eau“ lässt das vom Subjektstandpunkt ausgehende Denken an das Wasser zu einem Denken des Wassers werden – einem Denken, das vom Wasser ausgeht und auf das Thomas sich in einer stetigen Transformation einlässt. Es ist nicht mehr eindeutig zu entscheiden, wer aktiv oder wer passiv handelt, von wem überhaupt eine Handlung ihren Ausgang nimmt.7 Darüber hinaus scheint in der „pensée de l’eau“ das Verhältnis von Medium und Ausgesagtem ineinander zu kippen. Der Wunsch nach Ekstase ist in der zitierten Textstelle gekoppelt an ein Gleiten in die Leere und schließt in der Wiederholung des „glisser“ an die Anfangsbewegung des Gleitens vom Ufer ins Wasser an. Die Bewegung der Transgression wird erneut vollzogen: nun als eine intensivierte Selbstaufgabe oder auch Hingabe an das weibliche Wasserelement, in das Thomas sich zerstreuen will. Konsequenz seiner Hingabe ist eine sich immer weiter beschleunigende Oszillation des discours zwischen den Kategorien ‚Realität‘ und ‚Vorstellung‘, sodass er in einem Satz erst zunehmend zum „mer idéale“ wird, welches wiederum abermals von der Idealität zurückkippt ins Materielle bzw. „vraie mer“, das ihn wie einen leblosen Körper in sich trägt.8 Dargestellte Realität und Vorstellung sind nicht mehr zu unterscheiden. Sie erweisen sich in ihrer gegenseitigen Durchdringung als unbrauchbare Kategorien – nicht nur für Thomas, sondern auch für den Leser von Thomas l’Obscur. Sofern Thomas glaubt, in der Unentscheidbarkeit von innerer Vorstellung und äußerer Realität einen „Schlüssel der Situation“ gefunden zu haben und daraus die Erkenntnis einer doppelten Abwesenheit abzuleiten gedenkt, muss er diese samt des Schlüssels als Illusion analog zum Leser in die Tiefe der dunklen Meeresgrundes fallen lassen.9
Alle Fragen nach einem Ausweg aus der Situation scheitern an Thomas’ unbestimmten Willen fortzuschreiten und weiter in die Tiefe zu dringen. Starobinski interpretiert dies als „refus qu’oppose Blanchot à toute tentation de trouver l’apaisement dans une rêverie participante, dans une fusion sensible ou spirituelle où l’homme ne ferait plus qu’un avec la réalité environnante, qu’elle soit plénitude d’être ou vide, présence ou nullité universelles.“10 Er verbindet diese Gedanken einer unmöglichen dauerhaften Vereinigung mit allgemeinen Gedanken zu Blanchots kritischem Werk, das dazu einlädt, denkerisch stets einen Schritt über das Mögliche hinauszugehen. Ich möchte dem lediglich hinzufügen, dass sich dies mit den Vorstellungen Batailles zur inneren Erfahrung als unabschließbare Transgression deckt, und dass diese den Leser mit einschließt.