Читать книгу Nachtdenken - Martina Bengert - Страница 40
3.2 Der leere Blick – Faszination
ОглавлениеSein Betrachten ist einnehmend und invasiv. Thomas fixiert seine unmittelbare Tischgenossin, da diese von einem prächtigen Licht umgeben ist: „Il continua cependant à la fixer, car toute sa personne, éclairée d’une lumière superbe, l’attirait.“1 Es ist nicht klar, welcher Natur dieses Licht ist, ob es von einer Lichtquelle außerhalb der Tischnachbarin stammt oder ihrem Innerem entspringt. In jedem Fall bewirkt es, dass Thomas in den Sog der Anziehungskraft der Frau gerät und auf diese Weise durch seinen Blick an sie gebunden ist. Das Fasziniertsein ist eine exklusive Bindung, die keine Störung von außen duldet, welche potenziell die Begegnung unterbrechen oder gefährden könnte. Als jemand schließlich wagt, über die – eine Reaktion provozierende – Benennung der Frau mit dem Namen Anne in die Relation zwischen ihr und Thomas einzugreifen, muss dieser handeln, um Schlimmeres zu verhindern. Sein mächtiger Schlag auf den Tisch verschreckt die anderen Hotelgäste nicht nur aufgrund der impliziten Gewalt, die in ihm verborgen ist, sondern auch bedingt durch den Verstoß gegen die Struktur der symbolischen Ordnung, in die Thomas Zutritt zu erlangen sucht.2 Der Schlag ist als nichtsprachlicher Akt eine Gefährdung dieser Ordnung, deren Zugänge sich als Konsequenz aus dem Übergriff verschließen und Thomas, der die andere Nacht erfahren hat, isolieren. Um aus dieser Einsamkeit und Kommunikationslosigkeit herauszukommen, greift Thomas zu einem, den Schlag noch steigernden, leeren, dabei alles und nichts fixierenden invasiven Blicken:
C’est alors que Thomas, pour brusquer les choses, se mit à les dévisager tous, même ceux qui se détournaient, même ceux qui, lorsque leurs regards croisaient les siens, le fixaient à ce moment moins que jamais. Personne n’aurait été d’humeur à supporter longtemps ce regard vide, exigeant, qui réclamait on ne savait quoi et qui errait sans contrôle […].3
Das Bedrohliche dieses Blickes scheint seine unerklärbare Absicht zu sein, die im unkontrollierten Suchen nach einem Objekt das Subjekt als Ursprung des Blickes verschwinden lässt, sodass der Blick als die reine Aufforderung des Kontaktes im Raum ist. Beantwortet wird diese Aufforderung mit einem weiteren Rückzug der anderen Gäste, was synekdochisch an Anne gezeigt wird. Ihr Verhältnis zu Thomas ist über die Lichtkonstellation dargestellt: So bildet sie für Thomas einen Lichtblick im Sinne der Hoffnung auf Nähe sowie einen Blick, der durch ihr Licht eine gewisse Sichtbarkeit in Form von Fühlbarkeit bekommt. Thomas scheint aus der Unsichtbarkeit heraus zu agieren und Anne in seinem Blick als Wahrnehmung (und nicht als Realität) erscheinen zu lassen. Wie die Wahrnehmungen in seinem Blick erscheinen, werden sie auch wieder ausgelöscht und in Unsichtbares verwandelt. Es ist daher davon auszugehen, dass es einen Nexus zwischen Thomas’ Blick und den äußerlichen Lichtverhältnissen gibt, denn simultan zu seinem Blicken beginnt alles dämmrig zu werden, sodass ebenfalls Annes faszinierender Glanz verschwindet. Was bleibt, ist die Faszination, welche Thomas’ Blick umso mehr erfasst, als er in Annes inneres Knochenphosphoreszieren eindringt. „En s’acharnant avec indécence dans sa contemplation, l’on ne pouvait que s’enfoncer dans un sentiment de solitude où, si loin qu’on voulût aller, l’on se perdrait et continuerait à se perdre.“4
Die Vertiefung bewirkt keine irgendwie geartete Form der inneren Versenkung, sondern ein der Einsamkeit unaufhörliches Ausgesetztsein. Sowohl der auffällige Wechsel von der Beschreibung Thomas’ in die neutrale Person des „on“ in diesem Abschnitt, als auch die versenkende Betrachtung, wie der Weg in die unendliche Einsamkeit, findet sich in Blanchots Essay „La solitude essentielle“ als Beschreibung der Faszination. Dort heißt es:
Le regard est entraîné, absorbé dans un mouvement immobile et un fond sans profondeur. […] La fascination est le regard de la solitude. […] Ce milieu de la fascination, où ce que l’on voit saisit la vue et la rend interminable, où le regard se fige en lumière, où la lumière est le luisant absolue de l’œil qu’on ne voit pas, qu’on ne cesse pourtant de voir […] lumière où l’on s’abîme, effrayante et attrayante.5
Der faszinierte Blick wird von seinem Spiegelblick in die grundlose Tiefe der Einsamkeit gezogen, welche der Ursprung des Lichts wie des Begreifens ist, und erfährt dadurch sein eigenes nichtendes Moment, sofern er sich auf diese Weise als Urheber und Resultat des Lichts erfährt. Für das Subjekt hat dies eine Auflösung seiner Machtbefugnisse zur Konsequenz, die erkenntnistheoretisch darauf hinauslaufen, dass es nicht mehr als Instanz eines Ichs aufzutreten vermag, sondern sich auf ein unpersönliches „on“ zurückzieht, welches, nebenbei bemerkt, den Anderen in der Alternative des „on“ zum „nous“ als konstitutiven Bestandteil des Eigenen in sich beherbergt, ohne dabei zum Plural der 1. Person werden zu können.
Thomas trägt, wie bereits festgestellt, die Spuren der verstörenden Tiefenerfahrung der ‚autre‘ nuit in sich. Diese Dunkelheit, deren Aspekte sich im Laufe des Textes stetig weiter entfalten, offenbart sich auch in seinem Beinamen: ‚l’Obscur‘. Vieles an und in ihm ist und bleibt dunkel bis unsichtbar. Jedes Licht, das ihm entspringt oder von ihm wahrgenommen wird, fußt auf dem verborgenen dunklen Aspekt seiner Person. Im 3. Kapitel wird der Versuch einer Rückkehr in die Menschenwelt unternommen, der jedoch deutlich macht, wie groß die Entfernung zwischen ihm und dem Rest der Welt ist. Doch gerade diese Entfernung aufgrund der Erfahrung der Einsamkeit ist es, die den Blick und mit ihm eine andere Form des Weltzugangs erst möglich macht. Sein alles durchdringender Blick erweist sich als nichtend, da er nicht nur Blick, sondern selbst eine Art Licht zu sein scheint, das der Dunkelheit jenseits der Subjektivität entspringt. Thomas der Dunkle ist der, der die Dinge durch seinen Blick auftauchen lässt. Da Thomas jedoch kein Subjekt ist, sondern ein literarischer Gegenentwurf zum Subjektdenken, verliert sich die Spur der Rückführung des Blickes auf einen Ursprung in der Dunkelheit. Thomas gibt einerseits als der Dunkle Dinge oder Personen zu erkennen, verwandelt sie jedoch andererseits auch wieder in Unsichtbares, indem der Blick schwenkt und keine Erinnerung an gerade Beleuchtetes erzählt wird. Das Gesehene wird dadurch ausgelöscht. Von ihm erfasst zu werden bedeutet Auflösung durch den Übergang in ein Gesehen-Werden, das im Falle der Faszination wieder auf den Blickenden zurückfällt.
Im Zustand der Faszination verbinden sich Sehen und Berühren, d.h. der Sehende wird durch das Angesehene, das er mit seinem Blick berührt, selbst berührt und begriffen. Das neutre, welches sich in der Faszination zeigt, kann Umkehrungen der Blickrichtung bewirken oder auch eine Unentscheidbarkeit darüber provozieren, wer wen anblickt oder ob überhaupt noch gesagt werden kann, dass jemand und nicht etwas blickt. In der Faszination befinden sich Subjekt und Objekt in einem beziehungsverschiebenden Zwischenraum, dessen Parallelen zu Maurice Merleau-Pontys Begriff der Zwischenleiblichkeit im nächsten Punkt aufgezeigt werden soll.