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Rückkehr (hinter dem Mikroskop)
ОглавлениеMit Blick auf den Begriff der Initiation kann man von einer immanenten Transzendenzerfahrung sprechen.1 Denn Thomas überschreitet oder übersteigt sich zwar im Medium des Meeres, doch durch die reziproke Durchdringung seiner selbst und des Wassers, ebenso wie von Vorstellung und Materialität, ereignet sich die Überschreitung als Immersion sowohl in ihn hinein als auch aus ihm heraus. Er überschreitet sich und es überschreitet ihn, so dass die Erfahrung der Transzendenz zur Erfahrung der Alterität in Form einer, ich zitiere erneut Gerhard Poppenberg, „immanenten Transgression“ wird.2 Der so erreichte ‚Einheitszustand‘ ist folglich keine Begegnung mit der göttlichen Fülle, sondern mit einer anonymen Leere jenseits der Bedeutung. Nicht weiter überschreitbar, kann aus ihm nur zurückkehrt werden. Dies tut Thomas, gerade noch im Todeskampf, scheinbar mühelos und gelangt zurück ans Ufer. Seine Rückkehr führt ihn indessen nicht an den Ausgangsort seines Gleitens ins Wasser. Während der Eintritt in die Initiationserfahrung ein transgressiver Akt des Gleitens war, wird der Austritt nicht beschrieben. Er wird lediglich rückblickend als notwendige Tatsache konstatiert, als wäre er qua Erfahrung der Erinnerung entzogen.
Thomas’ Grenzerfahrung hat Spuren in seinem Hören (nämlich Summen), vor allem aber in seinem Blick hinterlassen: Die Augen brennen, seine Sicht ist vernebelt, die Fähigkeit, Dinge voneinander zu unterscheiden ist unsicher geworden. Der zu Beginn des Kapitels auf dem Wasser gewesene Nebel ist nun in seiner Sicht, ist als Erfahrung Teil von ihm. In der Folge kann der Nebel erkenntnistheoretisch nicht mehr exkludiert werden: Thomas’ Sicht auf die Welt hat sich verändert: „À force d’épier, il découvrit un homme qui nageait très loin […]“.3 Dass er diesen Mann sieht, ist direkt bedingt durch seine Wahrnehmung. Thomas verfolgt den Schwimmer mit seinem Blick, an all seinen Zuständen teilhabend. Der Blick als Berührung auf Distanz ermöglicht ihm eine Nähe, die „n’aurait pu l’être davantage par aucun autre contact“.4
Ich folge hier mit meinen Überlegungen weiter der Interpretation Jean Starobinskis, der Thomas am Ende des Kapitels perspektivisch nun auf der anderen Seite des „microscope géant“ verortet.5 So gesehen betrachtet er sich selbst im Meer schwimmend und ist folglich Beobachter wie Beobachteter. Das Bild des Doppelgängers stellt sich ein, zumal diese Verdopplungsstruktur nur eine von vielen ist, die in den weiteren Kapiteln folgen werden. Der Doppelgänger, der Übergang vom Ich zum Er, hier sogar vom Er zum Er, kennzeichnet bei Blanchot auch immer den Vorgang des Schreibens. Diesbezüglich bemerkt Gerhard Poppenberg:
Das Schreiben als Übergang vom Ich zum Er ist ein Grenzgang, ein Gang aber nicht so sehr an die Grenze und auch nicht ganz über sie hinaus, sondern ein Gang an der Grenze, deren Artikulation die Bewegung zwischen Ich und Er ist, den Gestalten des Innen und Außen. […] Der Übergang vom Ich zum Er ist zunächst Bruch mit dem Ich, Befreiung vom Ich, Eingang in das, was Kafka ‚die andere Welt‘ nennt und was Blanchot […] die Welt der Freiheit nennt.6
Am Ende des 1. Kapitels von Thomas l’Obscur ist von solch einer, durch den Bruch mit inneren und äußeren Bindungen bedingten, Befreiung die Rede: „Il y avait dans cette contemplation quelque chose de douloureux qui était comme la manifestation d’une liberté trop grande, d’une liberté obtenue par la rupture de tous les liens.“7 Diese zu große Freiheit ist Resultat der Loslösung von allen Bindungen. Sie ist der Preis der Transgressionserfahrung im Meer, die Thomas’ Subjekthaftigkeit als unkontrollierbare Überschreitung von Körper und Gedanken, aber auch die repräsentierende Sprache an sich untergraben hat. Die andere Seite der Freiheit ist eine fortan unhintergehbare Einsamkeit, die Thomas’ Rückkehr in die Welt verhindert.