Читать книгу Der Kelch der Wiederkehr - Matthias Bieling - Страница 6

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Zur Abwechslung von Corona brachten sie im Autoradio, zwei Forscherinnen erhielten den Nobelpreis für die Entwicklung von CRISPR/CAS, einer Methode mit der sich der Gencode eines jeden Lebewesens neu schreiben ließ. Währenddessen staute es sich auf der Ostpreußenstraße ein wenig. Weiter vorne hatten sich einige Fahrzeuge auf das Straßenbankett gezwängt, Polizei, Zivilfahrzeuge und ein Krankenwagen. Blaulicht tauchte alles in surreal anmutendes Blitzen, aber ich kannte die Zeichen nur zu genau, um zu wissen, dass sich reales Unglück ereignet hatte. Da ich die Gleichgültigkeit des Tages hinter mir und die lange Nacht vor mir hatte, musste ich anhalten. Ich musste es einfach.

Also stellte ich mich vorne an, suchte meine Stablampe und einen Schirm, stieg aus und knöpfte mich fest zu. So ausgerüstet ging ich an den abgestellten Fahrzeugen vorbei und musste dabei auf den Verkehr aufpassen, den ein Polizist mit müden Armen ab und zu die Richtung wechselnd an der Verengung vorbeiwinkte. Etwas abseits standen zwei Gestalten in ein Gespräch vertieft, jeder mit einem weißen Schutzanzug mit dem Aufdruck ‚Kriminaltechnik‘. Das Gesicht des einen leuchtete im Schein des Feuerzeuges auf, als er sich eine Zigarette anzündete. Er war klein und schmächtig und trug unter der Kapuze eine Baseball-Kappe, von deren Schirm der Regen tropfte.

Von den Offiziellen beachtete mich niemand, aber ich wusste wohin ich mich wenden wollte. Etwa in der Mitte der abgestellten Fahrzeugkolonne fand ich, was dort sein sollte, schaltete die Stablampe aus und steckte sie in eine der Manteltaschen meines Trenchcoats.

„Was machst Du denn hier? Hau‘ ab, es gibt nichts zu sehen“, schnaufte Kriminalhauptkommissar Dietrich Dörner als ich ihn antippte, während er dabei versuchte, mit dem Zeigefinger seine Brillengläser freizuwischen.

Er war ein massiger Mann von etwa einsachtzig, der eine kastanienbraune Cordhose zu braunen Halbschuhen trug. Über sein Tweed-Sakko hatte er einen alten Bundeswehrparka gestreift, der außer unter den Armen vor Durchfeuchtung dunkelgrün war. Ohne den Parka wäre er als englischer Aristokrat durchgegangen, aber wer ihn kannte, wusste, dass er die zur Vervollständigung der Rolle notwendige Arroganz manchmal übertrieb.

„Wieso kommst Du dann hierher, wenn es nichts zu sehen gibt?“, schnurrte ich ihn an, grinste dazu freundlich und versuchte, es wie ein Lächeln aussehen zu lassen.

Wir befanden uns am Anfang eines von der Straße abgehenden unbefestigten Weges, in dem etwas zurück ein Malteser-Rettungswagen, stumm, unbeleuchtet und unauffällig, mit der Front zur Straße stand. Seine Reifen hatten Spuren in dem feuchten Boden hinterlassen. Daneben waren andere Spuren, die des Rettungswagens halb überdeckend und die Spurensicherung hatte schon angefangen, Abdrücke zu nehmen. Durch die offene Tür war auf dem Fahrersitz eine zusammengesunkene Gestalt zu sehen. Der Mann war offensichtlich tot und ich versuchte mir einen Reim auf seine geschlossenen Augen zu machen. Er trug ein dunkles Sweatshirt, dessen Farbe aufgrund der Dunkelheit nicht zu erkennen war, mit irgendeinem großen, bunten Symbol auf der Brust und seine Arme hingen schlaff aus den aufgekrempelten Ärmeln. Auf dem Armaturenbrett lag ein Rucksack mit Leuchtstreifen, daneben auf der Tachoverkleidung eine halb leere Flasche Cola und beigefarbenes, zerrissenes Einpackpapier für Burger. Immer wieder tauchten die Blitzlichter der Fotografen das Innere in kalte Helligkeit.

„Es ist nur ein Krankenwagen abseits der Straße, hau ab, Jupp, und lass mich meine Arbeit machen.“ Die Luft war kalt und feucht und er schnüffelte zweimal. Ihm musste aufgefallen sein, wie unglaubwürdig seine Ausrede war, denn um seine Augen trat ein resignierter Schatten, den die Brillenfassung nicht verdecken konnte. Ich wusste deshalb, er hatte aufgegeben und konnte mich nicht wegschicken.

„Sind noch mehr Leute im Wagen?“, fragte ich und spannte harmlos den Schirm auf, der damit ein wenig Schutz und Trockenheit versprach.

Mit einer säuerlichen Miene schlüpfte der Hauptkommissar unter das dünne, rote Gewebe. Er versuchte sich die Feuchtigkeit von den Ärmeln zu streifen, hielt dann aber inne und meinte misstrauisch: „Du bist nur zufällig vorbeigekommen, oder?“ Ich konnte ihm die Angst ansehen, sich zu irren.

„Ja, zufällig“, bestätigte ich ihm seine Hoffnung.

Er entspannte sich etwas, aber er trat doch auf den anderen Fuß. An seinen Schuhen hatten sich dunkle Ränder gebildet und er zog mich etwas zur Seite, damit er nicht mehr in einer der Pfützen stehen musste. „Er ist allein im Fahrzeug“, kam er auf meine Frage zurück. „Hier kann Dich keiner brauchen, es ist ein klarer Fall: Der Mann ist auf dem Weg nach Hause, spritzt sich eine Überdosis und stirbt“, fuhr er dann mit großer Bestimmtheit fort. Dabei sah er mich erwartungsvoll an in der Spannung, ob ich mich mit der Erklärung zufrieden gab, aber an seinem Blick nagte die Erinnerung, dass ich sehr neugierig und ausdauernd war.

Ein Lieferwagen hatte sich mit einem lauten Schließen der Schiebetür verabschiedet, bog dann auf die Straße, setzte sich zwischen einen Golf mit einem genervten Fahrer und einen Renault mit einer blassen Frau darin. Ein Blaulicht war nicht mehr nötig, er würde die KTU rechtzeitig erreichen.

Nicht um ihn zu ärgern, sondern rein aus Gewohnheit fragte ich nach: „Woher wisst ihr, dass Drogen im Spiel sind?“ Während ich das fragte, spürte ich einen heißen Hauch, der mir den Rücken hinunterlief und ich begann zu befürchten, durch meine dumme Gewohnheit in irgendetwas hinein zu geraten. Milana hatte immer gesagt, dass ich sehr gut darin war, Ärger anzuziehen und da es nicht viel gab, was ich gut konnte und sie wahrscheinlich Recht gehabt hatte, hatte ich ihr nie widersprochen.

„Gummischlauch um den Oberarm, leere Spritze auf dem Sitz. Sollte selbst Dir einleuchten, dass es um Drogen geht.“ Er freute sich, mir handfeste Beweise liefern zu können, die nach seiner Überzeugung unwiderlegbar zeigten, alles wäre in klarer Ordnung. „Also mach jetzt keine Szene und konstruiere irgendetwas, wo nichts ist. Fahr am besten einfach nach Hause und tu’ das, was Du am besten kannst: Lass Dich volllaufen“, ergänzte er. Er war immer noch der Alte.

Der Regen war noch dünner und es roch nach nassem Gras und Holz. Von dem Malteserwagen stöckelte in Stiefeletten und in einem oberhalb der Knie endenden, halblangen Mantel eine Silhouette durch die Lichtkegel in Richtung auf die geparkte Fahrzeugkolonne. Das musste die Staatsanwältin sein. Irgendjemand rief, man sei fertig und es könne mit dem Abtransport in die Rechtsmedizin angefangen werden. Daraufhin bahnten sich unter dem Flatterband zwei Träger in langen, dunklen Mänteln und einem Sarg an Haltestangen den Weg. Sie würden die Eskorte des Toten bilden.

Sofort verbreitete sich Zuversicht in Dörners Gesicht, denn er hoffte, bald ins Warme und Trockene zu kommen.

„Was ist in dem Rucksack?“, wollte ich wissen und Dörner antwortete kopfschüttelnd: „Keine Ahnung. Werden wir aber bald wissen, wenn wir alles untersucht haben und die Autopsie abgeschlossen ist. Der Schlaumeier von Arzt meint, ein paar Untersuchungen seien angebracht.“ Es war offensichtlich, was er über die Idee des Arztes dachte. Ich erinnerte mich, er hatte schon früher Gelegenheiten wahrgenommen, eindrucksvoll zu beweisen, dass ihm die Wahrheit egal war. „Aber wäre ja sowieso gemacht worden. Unklare Todesursache, Du weißt schon.“

„Wie kommt der Arzt denn zu seiner Meinung?“, fragte ich. Der heiße Hauch in meinem Rücken wich unterdessen einer matten Kälte.

„Er meint, der Gummischlauch sei falsch um den Arm gelegt. Das könne man so nicht selbst machen, sondern sei von einem Anderen gemacht worden.“

„Kann ich mit dem Arzt sprechen?“

„Tja, der fährt gerade fort, wollte wohl nicht in der Nässe bleiben. Lass gut sein, Jupp“, knurrte Dietrich Dörner und zeigte auf den Krankenwagen, der sich aus der geparkten Fahrzeugkolonne löste und beschleunigte. Dann wischte er erneut über seine Brillengläser.

„Wer ist das denn, hat er Papiere bei sich?“, fragte ich weiter, denn ich wollte einfach nicht den Eindruck erwecken, er hätte sich durchgesetzt und ich kümmerte mich nicht um die Fragen bei diesem vermeintlichen Unfall.

Der Verkehr floss wieder gleichmäßiger und die Gischt der vorbeifahrenden Fahrzeuge ersetzte den Regen, was es aber nicht angenehmer machte.

„Eugen Schäfer aus Gelsenkirchen, verheiratet, arbeitet für die Malteser. Und jetzt troll Dich“, sagte er mit abschließender Bestimmtheit, die diesmal wirklich ernst gemeint war.

Ich hatte mein Blatt ausgereizt. Da ich keine weiteren Informationen erwarten konnte und die Feuchtigkeit und die Kälte wirklich für einen Abschied wie gemacht waren, reihte ich seine Worte in die Kategorie ‚vernünftig‘ ein. „Ich lass den Schirm da“, ärgerte ich ihn zum Abschied und rief ihm damit in Erinnerung, dass er anschließend mit der Staatsanwältin reden musste und dann, auf Ihre Anweisung hin, als Einsatzleiter in der kalten Nässe noch dies und das zu erledigen hatte.

Der Kelch der Wiederkehr

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