Читать книгу Der Kelch der Wiederkehr - Matthias Bieling - Страница 9

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Es war nicht schwer gewesen, aus dem Online-Telefonbuch die Adresse herauszufinden. Bismarck war nicht die Gegend in die irgendjemand zog, weil er sich darauf freute, aber es war, soweit man das sein konnte, sicher und die Mieten konnten sich die Menschen leisten.

Ich fand einen Parkplatz zwischen einem alten Ford, dessen Seite einige Kratzer zeigte, an denen schon Rost ansetzte und einem grün-metallic-farbenen Golf mit schwarzem Dach und einer weißen Rankengrafik in der Rückscheibe. Auf der Straße knatterte ein altes Moped an mir vorbei, auf dem ein magerer, alter Mann mit grauen Bartstoppeln, struppigen grauen Augenbrauen und einem Halbschalenhelm saß. Er trug eine schlabbernde Jeans und eine Kunstlederjacke mit weißen Kontraststreifen an den Ärmeln zu karierten Socken, die in abgetragenen braunen Halbschuhen steckten. Auf dem Gepäckträger war ein Alukasten montiert, auf dem ein Sticker die Taubenschau vor ein paar Jahren anpries.

Die Frau blickte misstrauisch durch den Türspalt. Sie hatte strähniges, halblanges Haar und jeweils rechts und links des Mundes lange vertikale Falten. Nach etwas Schlaf würde sie ganz passabel aussehen. Aus dem Hintergrund hörte ich leises Kinderbrabbeln.

„Sie sind die Frau von Eugen Schäfer. Darf ich mit Ihnen sprechen? Mein Name Koslowski. Ich bin Privatdetektiv.“

Ihre Augen waren tief und hellgrün und hatten einen Schimmer wie Perlmutt, als sie mich wieder ansah, witternd: „Die Polizei war schon da.“

„Ich habe einige andere Fragen. Darf ich hineinkommen, bitte?“ Ich war froh, dass man bei Zusammenkünften in privaten Räumen keine Maske tragen musste, denn das erlaubte mir, mein harmlosestes Lächeln aufzusetzen und auf eine vertrauensvolle Seele zu hoffen.

Die Tür ging zu, die Kette wurde zurückgezogen. Dann öffnete sich die Tür wieder und die Frau ging vor mir her ins Wohnzimmer. Sie war schlank, mit geraden Beinen und geradem Rücken. Sie trug eine enge Jeans zu einer blauen, geblümten Bluse und war barfuß. Ihre Nägel waren sorgfältig lackiert. Der Flur war sauber und ordentlich, an der Wand zwei gerahmte Bilder von Landschaften, Monet-Kopien.

„Bitte“, sagte sie mit einer als einladend gemeinten Geste.

Das Wohnzimmer bestand aus einer nichtssagenden Sitzlandschaft, einem niedrigen Tisch und einem Bord mit einem Megafernseher, zu dem offensichtlich eine Home-Cinema-Ausstattung gehörte. Das Laminat war an einer Stelle ein wenig beschädigt, ansonsten aber tadellos. Keine Bilder, Bücher, Vasen, Nippes, aber ein Kind von etwa zwei Jahren saß in der Mitte des Raumes mit feuchten Augen und sah erwartungsvoll auf. Die Frau nahm liebevoll das Kind auf den Arm, rieb die Wange an ihrer und setzte das Kind dann auf ihren Schoß, nachdem sie sich auf einen Sessel gesetzt hatte. Ich nahm auf der Couch Platz.

„Peter ist heute etwas krank, deshalb ist er nicht im Hort und ich arbeite nicht.“ Mit tapferen Augen sah sie mich an: „Obwohl, nach allem was passiert ist, ist das nicht der Grund.“ Ihre Blicke suchten im Raum herum und blieben dann an meinem Gesicht hängen: „Es heißt, wenn man mit KO-Tropfen betäubt ist, kann man sich nicht mehr rühren, bekommt aber alles mit, weil man bei vollem Bewusstsein ist?“ Sie blickte mich direkt mit traurigen Augen an, bevor diese erneut über die Wohnzimmereinrichtung streiften und sich mit Tränen füllten. Ihr Handrücken wischte einmal durch das linke Auge.

Ich bemühte mich, einen tröstenden Gesichtsausdruck aufzusetzen, befürchtete aber, dass mir das nicht wirklich gut gelang. „Ich bin sicher, dass Ihr Mann nicht gelitten hat“, sagte ich fest und hoffte inständig, dass es die Wahrheit war.

Sie blickte auf ihren Sohn und ein zärtlicher Ton in den Augenwinkeln drängte die Tränen zurück. „Was muss ein Privatdetektiv fragen, was die Polizei noch nicht gefragt hat?“, kam sie zur Sache, während der Junge sich glücklich an sie schmiegte.

„Wussten Sie, warum Eugen in Italien war?“

„Nein, er hat mir nicht gesagt, warum er dorthin fliegt.“ Sie blickte mich nicht an, aber ich hatte den Eindruck, dass ihr Blick nirgendwohin ging.

Ich war mir nicht ganz sicher, ob sie wirklich eine gute Seele war und mir die Wahrheit sagte, deshalb setzte ich nach: „Er fährt nach Italien und sagt Ihnen nicht, was er dort will? Das ist ungewöhnlich.“ Ich kam mir ein wenig gemein dabei vor.

Sie sah mich offen an, ihr Blick war ehrlich: „Er hat nur gesagt, dass wir ausgesorgt haben, wenn er wieder da ist. Er hat auch eine Karte aus Rom geschrieben, auf der stand, dass es alles sehr gut für uns läuft. Die Karte hat die Polizei mitgenommen.“

Obwohl ich mir die Antwort ausmalte, fragte ich: „Ging es bei der Reise um Drogenschmuggel? Meinte er das mit ‚ausgesorgt‘?“

„Sie fragen dasselbe wie die Polizei“, sagte sie ein wenig ärgerlich und fügte dann an: „Sicher, Eugen hatte nichts mit Drogen zu tun, absolut nichts, ganz sicher.“

Aber die Mauer vor ihren Augen war nicht festgefügt. Sie wusste nicht, was sie denken musste und wollte nicht denken, was sie aufgrund der Fragen denken sollte. Sie wollte eine gute Frau sein.

Zögernd erzählte sie dann: „Es hat mal mit einem Kollegen eine Drogengeschichte gegeben, angeblich waren Medikamente auf der Arbeitsstelle verschwunden. Es wurde alles untersucht und Eugen hatte nichts mit der Angelegenheit zu tun.“ Das war ein Beweis, der sicher für gewisse Frauen unangreifbar war, aber ich sah, wie sie darum kämpfte, ihre Loyalität nicht wankend erscheinen zu lassen.

„War Eugen öfter für ein paar Tage weg? In Italien? Oder in anderen Ländern?“

„Nein“, sagte sie einfach und es hörte sich richtig an.

Ich war ein wenig ratlos. „Wie steht es um die Finanzen, gibt es da Probleme?“, versuchte ich dann auf anderem Weg einen Grund für den Todesfall zu ermitteln. Drogen würden dazu passen.

Die Frau schüttelte den Kopf: „Wir verdienen“, sie schluckte und verbesserte: „Wir haben beide gearbeitet, natürlich mussten wir sparsam leben, aber es reicht“, um dann erneut zu verbessern: „reichte“. In ihren Augenwinkeln begann sich erneut das Licht zu spiegeln.

Ich hätte ihr das gerne erspart, aber es war ein undankbarer Job und deshalb musste ich dranbleiben: „Hatte er Feinde, irgendwelche Auseinandersetzungen in letzter Zeit? Das sind reine Routinefragen, aber ich muss die stellen.“

„Nein, alles okay“, versicherte Julia. Ihre Augen waren nur traurig und es spiegelte sich der Gedanke ‚warum nur‘ darin.

„Wie war denn sein Verhältnis zu Arbeitskollegen oder Nachbarn? Gab es da irgendetwas?“ In vielen Fällen ergibt das Herumstochern mit solchen Routinefragen Anknüpfungspunkte. Darauf hoffte ich hier auch. Ich hasste bei einem Fall den Zufall, aber herumstochern ist etwas ganz anderes. Herumstochern ist seriöse Detektivarbeit und wie man so sagt ‚die halbe Miete‘.

Sie dachte einen kleinen Moment nach, kein Schatten lief über ihr Gesicht, kein unsicheres Stocken und kein Aufblitzen in ihren Augen, bevor sie dann sicher antwortete: „Er war überall sehr beliebt. Er war ein toller Mensch, es gab keinen Grund, dass ihm irgendjemand etwas Böses wollte.“ Sie war wieder ganz gefasst. Der Junge rutschte auf ihrem Schoß herum und steckte seinen kleinen Daumen in den Mund.

„Bitte denken Sie daran, es sind Routinefragen, die immer gestellt werden“, leitete ich ein. „War Ihre Ehe gut? Gab es vielleicht eine andere Frau?“

Mit einem amüsierten Lächeln sah sie mich an und antwortete dann: „Eugen hatte keinen Grund sich umzusehen. Er bekam alles sehr gut und im Überfluss.“

Ich war von ihrer Direktheit beeindruckt und verstand, sie hatte ein einfaches Männerbild, in das auch ich mit meiner Frage genau passte. Ich wusste nicht warum, aber es war mir unangenehm. Um mir das nicht anmerken zu lassen, konzentrierte ich mich darauf, der bewährten Vorgehensweise weiter zu folgen: „Wissen Sie, warum Eugen im Rettungswagen saß? Er hatte doch Urlaub.“

„Wir haben derzeit kein Auto, deshalb nutzt Eugen manchmal ein Fahrzeug von seinem Arbeitgeber“, sagte sie, als ihr Handy klingelte. Mit einer entschuldigenden Geste mir gegenüber meldete sie sich mit „Julia Schäfer …“, um dann fortzufahren: „nein … lassen Sie mich in Ruhe …“ Der Junge rutschte erschrocken von ihrem Schoß und auf ihrer Stirn bildeten sich Täler, in denen Schatten leuchtete, als sie auflegte. Ich sah ihre Erschöpfung, als sie sagte: „Diese ‚Freunde‘, wie die Geier, ob er ein Paket hinterlassen hätte, das sei sehr wichtig für ihre historischen Forschungen.“ So wie sie ‚Freunde‘ sagte, war unterstrichen, was sie von ihnen hielt.

Mit dem Gedanken an ein Paket Drogen konnte ich mich immer noch nicht anfreunden, aber manchmal ergaben eins plus eins eben zwei. „Der Verein zur Erforschung des Erbes der Katharer?“, gab ich viel Betonung in meine Frage.

„Nein, dieser Anton war das, ein früherer Kommilitone. Er kennt den noch von seiner Zeit von der Universität Bochum, als er Medizin studiert hat, bevor er wegen der Geburt von Peter und unserer Heirat aufhörte. Der ist irgendwie in der Studentenverwaltung und Eugen und er ‘forschten’ früher an irgendwas.“ Sie stand auf, holte zwei Gläser, schüttete Wasser hinein und stellte diese auf dem niedrigen Tisch vor mir ab. Die obersten Knöpfe ihrer Bluse standen offen und ich sah schnell zum Fenster. Dann setzte sie sich wieder.

„Wissen Sie, woran die forschten?“, fragte ich, nahm das Glas Wasser und trank einen großen Schluck, damit sie das Glas nicht umsonst vor mich gestellt hatte.

„Nein, irgend so etwas über Sekten in der Geschichte oder so“, sagte sie unsicher. In ihrem Kopf gingen Gedanken hin und her, sie konnte aber keinen fassen.

Ich versuchte ihr zu helfen: „Hat Eugen jemals über diesen Verein zur Erforschung der Geschichte der Katharer gesprochen? Ist dieser Studienkollege ein Mitglied in diesem Verein?“

Der Junge kletterte auf den Sessel und versteckte sich hinter ihrem Rücken. Über ihr Gesicht lief ein tiefes Abwägen: „Nein, von so einem Verein weiß ich nichts …“ Damit brach sie ab, denn unterdessen war die Leere in ihrer Miene angekommen, die Täler waren verschwunden. Ihre Augen waren stumpf und undurchdringlich. „Für wen sagten Sie, arbeiten Sie?“

Ich wusste nicht, was ich von der ganzen Sache halten sollte, aber ich traf eine Entscheidung: „Ich habe nicht gesagt, dass ich für irgendjemanden arbeite. Ich habe keinen Auftraggeber, ich bin rein aus persönlichem Interesse hier.“

Der Junge versuchte an ihr heraufzuklettern und hatte beide Arme um ihren Hals geschlungen. Er war ein ausdauernder kleiner Kerl. Sanft befreite sie sich und sah mich dabei von oben bis unten an.

Sie presste die Knie fest zusammen und ihre Zungenspitze leckte schnell über ihre Oberlippe. Auch sie hatte eine Entscheidung getroffen. „Es wäre mir etwas wert, wenn Sie die Wahrheit herausfinden. Ich möchte, dass Sie beweisen, dass Eugen kein Drogendealer war. Die Verantwortlichen für seinen Tod müssen gefunden und zur Rechenschaft gezogen werden. Ich habe aber nur wenig Geld …“, sagte sie mit einem verheißungsvollen Lächeln und ihre rechte Hand strich ihr Haar hinter das Ohr. Ihre Augen waren fragend. Sie war eine gute Frau, das war für mich offensichtlich.

„Ich arbeite nur gegen Cash auf Rechnung“, erwiderte ich, weil ich erkannte, sie hatte bisher kein leichtes Leben gehabt und hatte früh lernen müssen, ihre Weiblichkeit einzusetzen, damit Männer etwas tun. Oder vielleicht auch lassen, das wusste nur sie. Um ihre Hoffnung auf gerechte Trauer nicht zu zerstören, fügte ich an: „Aber mich interessiert der Fall, deshalb sehe ich mich auch weiter um.“

Ihre Augen changierten zwischen Dankbarkeit und Irritation. „Ich weiß, dass es mit dieser Geschichtsforschung zu tun hat, sprechen Sie mit Hieronymus von Beroy, seinem Vorgesetzten bei den Maltesern, mit dessen Gequatsche über die Traditionen und Geschichte der Malteser hat alles angefangen.“ Sie setzte den Jungen auf den Boden und drückte ihm eine kleine abgegriffene Stoffgiraffe in die Hand. Offensichtlich wollte er aber lieber auf ihr herumklettern, denn er ließ die Giraffe fallen und griff nach ihren Beinen.

„Was hat es mit dem Kelch auf sich?“, stocherte ich ein wenig weiter ins Blaue.

„Ein Kelch? Ich weiß nichts von einem Kelch.“ Sie dachte einen kleinen Moment nach. „Aber vor einer Woche oder so habe ich gehört, wie Eugen mit Prof. Osbert telefoniert hat. Das war sein Professor für Humangenetik. Den hat er gefragt, wie man denn damit umgehen wolle, wenn das eine Fälschung sei oder auch wenn er echt sei, aber keine Wirkung habe. Eugen hat dann nach der Erwiderung des Professors gesagt, dass er wisse, dass der Professor das auch ohne den Kelch könne, schließlich sei es Wissenschaft. Die Partner seien aber davon überzeugt, dass das Risiko zu hoch sei, wenn nicht regelmäßig aus der Schale getrunken werde, und nur das regelmäßige Trinken eventuelle Komplikationen verhindern könne. Es sei schwierig, mit denen darüber zu diskutieren.“

Ich war zufrieden, was sich am Ende meines Stocherstockes befand und überlegte noch einen Augenblick, ob ich anknüpfend eine gute Frage stellen konnte, aber da mir nichts einfiel, fragte ich nur: „Gibt es noch irgendetwas, das Sie mir sagen möchten?“

Ihre türkisfarbenen Augen waren groß und versprechend und sie sagte mit weicher Stimme: „Ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie helfen wollen zu beweisen, dass Eugen kein Drogendealer war.“ Dabei zitterten ihre Mundwinkel ganz, ganz leicht.

Ich stand schnell auf und fragte dabei: „Warum haben Sie Eugen gestern nicht am Flughafen abgeholt?“

Sie blickte mich offen an, ihre Wimpern betonten ihre Augen und sie sagte: „Er hat mir nicht gesagt, dass er zurückkommt. Ursprünglich wollte er erst morgen zurückkommen. Es muss irgendwie schneller gegangen sein und er ist früher zurückgekommen und hat mich wohl überraschen wollen.“

Ihre Augen füllten sich mit Tränen und ich überlegte, ob ich sie in den Arm nehmen sollte. Da mir das aber unpassend erschien, weil sie nicht richtig schluchzte und es auch komisch wirkte, wenn sie saß und ich stand, drehte ich mich um und ging zur Wohnzimmertür. „Anton wer, kennen Sie den Nachnamen?“, fragte ich, mich in der schon halboffenen Tür umdrehend.

Sie war inzwischen auch aufgestanden. Der Junge klammerte sich an ihr Bein und versteckte sich hinter ihren Knien. „Wewersdorf oder so ähnlich. Er studiert Geschichte und ist, wie gesagt, irgendwie in der Studentenverwaltung tätig.“ Sie folgte mir zur Wohnungstür. Ihre Schritte waren leicht und ich hörte sie ganz leicht atmen.

„Danke und auf Wiedersehen“, sagte ich und stieg die Treppe hinunter.

Ich spürte ihre Augen in meinem Rücken, aber dann hörte ich das Schließen der Tür.

Der Kelch der Wiederkehr

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