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ОглавлениеWo die wilden Renommisten wohnen
Wie in Jena und Halle »die Roheit aufs höchste« stieg
Fichte hatte seinen Kampf verloren. Dabei galt die Berliner Hochschule schon als Reformuniversität, an der es vergleichsweise gesittet, streng und modern zuging. Als schlimmste Brutstätte des Pennalismus galt Jena, gefolgt von Halle, Gießen und Königsberg. Man sprach nicht umsonst von der »jenensischen Lebensart«. Vor allem protestantische Universitäten taten sich bei der Herausbildung dieser Subkultur hervor. Dort war die akademische Freiheit größer als an anderen und sie wurde besonders selbstbewusst verteidigt. Doch dies machte sie auch zu Hochburgen des Renommistenunwesens.
Als Renommist bezeichneten sich die nach dem Komment lebenden Studenten selbst, bis das Wort Bursche den älteren Ausdruck im späten 18. Jahrhundert allmählich verdrängte. Kindleben erklärt diese Lebensform in seinem Lexikon: »Renommist heißt ein Student, der am Schlagen, Raufen, Saufen und Schwelgen Vergnügen findet, alle Kollegia versäumt, und sich sowohl durch seine ungebundene freie Lebensart, als durch seine Kleidung und Miene auszeichnet.«14
Diesen Gesellen widmete Justus Friedrich Wilhelm Zachariä 1744 ein scherzhaftes Heldengedicht namens »Der Renommist«, dessen Hauptfigur Raufbold ein nach den Maßstäben des Komments vorbildliches Studentenleben führt – natürlich in Jena:
»Dort war sein hohes Amt, ein großes Schwert zu tragen,
Oft für die Freiheit sich auf offnem Markt zu schlagen,
Zu singen öffentlich, zu saufen Tag und Nacht,
Und Ausfäll’ oft zu tun auf armer Schnurren Wacht.
Als Hospes war er oft des Bacchus erster Priester,
Und ein geborner Feind vom Fuchs und vom Philister.
Er prügelte die Magd, betrog der Gläub’ger List;
Bezahlen mußte nie ein wahrer Renommist.«15
Fichte hatte wohl nicht zuletzt deshalb in Berlin so hart reagiert, weil er in seinen Professorenjahren in Jena erlebt hatte, wie derartiges Verhalten eine Universität von innen zerstören konnte. Goethe schrieb 1812 in »Dichtung und Wahrheit« über die Zeit um 1770:
»In Jena und Halle war die Roheit aufs höchste gestiegen, körperliche Stärke, Fechtergewandtheit, die wildeste Selbsthülfe war dort an der Tagesordnung; und ein solcher Zustand kann sich nur durch den gemeinsten Saus und Braus erhalten und fortpflanzen. Das Verhältnis der Studierenden zu den Einwohnern jener Städte, so verschieden es auch sein mochte, kam doch darin überein, daß der wilde Fremdling keine Achtung vor dem Bürger hatte und sich als ein eignes, zu aller Freiheit und Frechheit privilegiertes Wesen ansah.«16
Jena war die Hochburg der studentischen Korporationen. Gegen deren Einfluss und Unflätigkeit musste Goethe später selbst als zuständiger Minister im Herzogtum Sachsen-Weimar einschreiten. Im Jahr 1791/92 erläuterte er in einem Gutachten zur »Abschaffung der Duelle an der Universität Jena« die Regeln, die sich die Studenten dort selbst auferlegt hatten: »[D]er wie eine Krankheitsgeschichte merkwürdige Purschen-Komment verdiente von dieser Seite einen Kommentar und man würde sehen, wie man in diesem abenteuerlichen Gesetz gesucht hat, die Leidenschaften und das Betragen eines Bauern, eines Schülers und eines Edelmanns zu vereinigen.«17 Gegen die Duellsucht empfiehlt Goethe harte, konsequente Strafen: »[…] ich wünschte die Zeit zu sehen, wo auf einen bloßen Schlag die Relegation gesetzt wäre, und ich würde unter wenig veränderten Umständen dieses Gesetz vorzuschlagen wagen. Wer schlägt, gehört dahin, wo man mit Schlägen unterrichtet, und hört auf ein akademischer Bürger zu sein.« Goethe beschreibt zudem die »lächerlichen Aufstufungen von der Ohrfeige bis zum Knittel und Hetzpeitsche« der Schläge, mit denen ein Bursche einen anderen Studenten zum Duell forderte. Am Ende schränkt er jedoch ein, dass das von ihm vorgeschlagene Gesetz, das schon bloßes »Schuppen oder Stoßen« mit einer Strafe im Studentengefängnis, dem Karzer, ahndet und jeden Schlag mit »einer irremissiblen Relegation bestraft«, wohl nur Segen stiften würde, »wenn die Akademie vorher von den Ordensverbindungen gereinigt wäre«, deren ganze Existenz darauf beruhe, »daß sie die Roheren an sich ziehen und die übrigen schrecken.«18
Wer den bei aller amtlichen Zurückhaltung sehr deutlichen Goethe-Text kennt, versteht besser, warum Fichte, der zwei Jahre später nach Jena kam und das geschilderte Treiben dort selbst miterlebte, sogar seine eingefleischte Judenfeindlichkeit hintanstellte, um solche Sitten keinesfalls an der neuen Berliner Universität einreißen zu lassen. Trotz Fichtes Niederlage entwickelte sich Berlin aber niemals zum Zentrum irgendeiner Art von Burschenherrlichkeit. Die Großstadt wirkte vielleicht doch abkühlend, so wie Engel es erhofft hatte. In Göttingen, Heidelberg, Halle und Jena hingegen konnte der Komment das Leben viel stärker bestimmen. Und so verwundert es nicht, dass die ältesten Wörtersammlungen jener »eigenen Kraftsprache«, die der Universitätsreformer so lächerlich fand, aus Halle und Jena stammen, die Mitte des 18. Jahrhunderts die ersten berüchtigten Brutstätten des studentischen Größenwahns und der Gewalt waren.