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Wer abgebrannt ist, muss jemanden anpumpen

Alte Studentenausdrücke heute

Spätestens jetzt ist wohl der Zeitpunkt gekommen, an dem noch einmal gerechtfertigt werden muss, warum der studentischen Welt vor 200 oder 300 Jahren, deren Rituale heute nur noch in den entlegensten Ecken des deutschen Burschenschaftswesen konserviert sind wie vertrocknete tote Mäuse hinter den alten Folianten eines Bibliotheksregals, in diesem Buch über die Geschichte deutscher Jugendsprachen so viel Gewicht beigemessen wird.

Das hat erstens damit zu tun, dass die Studentensprache die erste Jugendsprache ist, die sich überhaupt in Quellen belegen lässt. Es hat sicher überall und zu allen Zeiten dort, wo Jugendliche als herausgehobene Gruppe zusammentrafen, Rituale und Ausdrücke gegeben, mit denen sie sich von anderen abgrenzten. Von Soldaten wissen wir, dass sie schon immer – vermutlich bereits in den Legionen Roms – ihre eigenen Sprechweisen pflegten. Von fahrenden Schülern und Bettelkindern des Mittelalters dürfen wir es genauso annehmen wie von Handwerksgesellen und Lehrlingen. Der universitäre Brauch der Deposition wurde beispielweise von einem Initiationsritus abgekupfert, dem sich zünftige Handwerker bei ihrer Freisprechung unterziehen mussten, wenn sie ihre Lehre abgeschlossen hatten und vom Meister in den Gesellenstatus entlassen wurden. Genauso sind gewiss auch Wörter aus dem Jargon junger Handwerker in die Studentensprache gelangt. Aber all das ist heute nicht mehr zu fassen. Zwar war in den genannten Milieus Schriftlichkeit spätestens nach der Reformation weiter verbreitet, als wir heute klischeemäßig annehmen. Aber der Stolz auf das individuelle Erlebnis und der Mitteilungsdrang gereifter selbstbewusster Herren, der aus den Studentenwörterbüchern und Dichtungen spricht, war nicht so ausgeprägt wie bei den »Intellektuellen«.

Dieser Drang hat uns – und das ist der zweite Grund, warum die Studentensprache hier so großen Raum einnimmt – sehr viele Quellen beschert. Sechs stolze Bände umfasst die von Helmut Henne, Heidrun Kämper-Jensen und Georg Objartel 1984 herausgegebene »Bibliothek zur historischen deutschen Studenten- und Schülersprache«, in der außer Salmasius, Kindleben und Augustin noch viele weiter Wörterbücher des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts nachgedruckt sind. Darüber hinaus enthält diese Sammlung die ältesten einschlägigen wissenschaftlichen Werke von Größen wie Friedrich Kluge, dem Begründer des nach ihm benannten etymologischen Wörterbuchs. Man sieht daran, dass die Beschäftigung mit der Studentensprache um 1900 nicht mehr ein Hobby aktiver oder ehemaliger Studenten aus dem Burschenschaftsmilieu war, sondern eine Aufgabe, der sich Wissenschaftler mit Eifer zuwandten. Und das hatte seinen Grund.

Denn aus dem Gruppenstil trinkfester und leicht reizbarer Akademiker ist ein erstaunliches Quantum an Begriffen in die heute gängige Umgangssprache gelangt. Allenfalls das Rotwelsche, der Jargon der Gauner und heimatlosen Gesellen, sowie die Sprechweise der Soldaten und Seeleute hatten einen ähnlichen Einfluss. Insgesamt 163 Einträge sind im Register der 9. Auflage des »Deutschen Wörterbuchs« von Hermann Paul unter »Studentensprache« versammelt. Zwar ist darunter viel Antiquiertes, das heute nur noch in einem solchen historischen Wörterbuch zum Bedeutungswandel seinen Platz hat. Doch ebenso findet man von abknöpfen bis das ist mir Wurst etliche Ausdrücke und Wendungen, die immer noch ganz allgemein üblich sind.

Ein schönes Beispiel dafür, wie ein Wort aus dem rotzigen Jargon der Burschen in die Sprache selbst der gehobenen Diplomatie aufgestiegen ist, lieferte 2016 der damalige EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker. Als er darauf angesprochen wurde, ob es nicht undemokratisch sei, ein Freihandelsabkommen mit Kanada ohne Abstimmungen in den nationalen Parlamenten zu verabschieden, antwortete er, rechtlich sei das nicht nötig, und fügte hinzu: »Mir persönlich ist das aber relativ schnurzegal.« Diese Wendung stammt aus der historischen Studentensprache. Im Jahr 1831 taucht in dem Wörterbuch »Der flotte Bursch« von Carl Albert Constantin von Ragotzky die Redensart Es bleibt sich schnurz auf, die mit »es bleibt sich gleich« übersetzt wird.29 Der Ursprung des Wortes ist unklar; im Grimm’schen Wörterbuch wird vermutet, dass es mit dem 1557 beim Dichter Jörg Wickram belegten schnarz, »rauh, barsch«, verwandt sei.

Junckers schnurzegal ist also eine Tautologie, denn schnurz allein meint ja schon »egal«. Solche Verdopplungen treten häufig auf, wenn die Bedeutung des ersten oder zweiten Teils einer Zusammensetzung nicht (mehr) geläufig ist. Beispiele dafür sind Guerillakrieg (guerilla heißt auf Spanisch »kleiner Krieg«) oder Düsenjet (das englische jet bedeutet »Düse«). Bei schnurz waren allerdings im 20. Jahrhundert immer beide Varianten gebräuchlich. So lässt Vicki Baum 1929 in ihrem Roman »Menschen im Hotel« jemanden sagen: »Ob du spielen gehst oder Pferde wettest oder ob du einer alten Tunte mal Zweiundzwanzigtausend in Liebe und Güte abnimmst oder ob du Perlen um Fünfmalhunderttausend holen sollst – das ist dir schnurzegal.« Im selben Jahr urteilt Franz Biberkopf, der Held von Alfred Döblins Roman »Berlin Alexanderplatz«, über die Ärzte: »Denen bin ich heute so schnurz, wie ich gestern schnurz war, denen bin ich vielleicht interessant, und darum ärgern sie sich über mir, daß sie mit mir nicht fertig werden.«

Wie die Wörter aus dem engen Kreis des studentischen Komments den Weg in die allgemeine Alltagssprache fanden, erklärt Friedrich Kluge: In den kleineren Hochschulorten, schreibt er 1895 durchaus noch mit einem für ihn aktuellen Bezug zur Gegenwart, beherrsche der Wortschatz der Studentensprache auch den Verkehr der Bürger: »Der Philister«, zitiert Kluge aus dem 1843 erschienenen Roman »Akademische Welt« von Ludwig Köhler, »ist mit der vollständigen Studententerminologie bekannt und thut sich nicht wenig darauf zu gute den Komment los zu haben wie nur irgend ein bemoostes Haupt.«30 Und schon 1792 bemerkt Laukhard: »Überhaupt wird man finden, daß da, wo Universitäten sind, die Bürger größtenteils studentenmäßig leben, und den Ton derselben nachäffen.«31 In den Universitätsstädten ließen sich besonders die Mittelschüler von den nur wenig älteren und sicher oft bewunderten Burschen beeinflussen. Ihrer Pennälersprache wird später noch ein eigenes Kapitel gewidmet sein.

Nach dem Hochschulabschluss nahm der Absolvent die studentische Sprechweise in seine Heimat und seine neuen Lebensverhältnisse mit. Wurde aus ihm ein Schriftsteller, ließ er gerne burschikose Wendungen »in seine ersten Geisteserzeugnisse« einfließen, wie Kluge feststellt. Auf diese Weise kam etwa der s-Plural, der so charakteristisch ist für Schillers »Räuber«, in die Literatur: »Stelle mich vor ein Heer Kerls wie ich, und aus Deutschland soll eine Republik werden, gegen die Rom und Sparta Nonnenklöster sein sollen«, prahlt etwa Karl Moor im ersten Akt des Jugenddramas. Mit der Form Kerls statt Kerle greift Schiller auf ein beliebtes Element der Studentensprache zurück. Alfred Götze, ihr neben Kluge wichtigster Erforscher, schreibt zu dieser speziellen Pluralform: »Seit dem 16. Jh. ist da eine Vorliebe für die Mehrzahl auf -s zu beobachten: Esels, Flegels, Jungens, Ständchens, Schwerenöterchens. Aus der Burschensprache haben diese Neigung die Stürmer und Dränger übernommen, und deshalb haben diese Mehrheitsformen für unser Sprachgefühl den Klang des Kraftstrotzenden, Urdeutschen behalten.«32

Wie wir später sehen werden, griffen viele Dichter selbst noch in den Produktionen ihrer reiferen Jahre zu studentischen Ausdrücken, um damit bestimme Effekte zu erzielen. Götze erläutert dazu: »[A]us der studentischen Jugend gehen zum größten Teil die Leute hervor, die später die Literatur beherrschen. Durch die Stürmer und Dränger, durch Dichter wie Bürger, Kortum, Heine, Stoppe, Hauff, Körner und Gaudy ist manches Studentenwort Besitz der deutschen Gemeinsprache geworden.«33 Und wir können ergänzen, dass Goethe, Schiller und Thomas Mann ebenfalls an dieser Verjugendsprachlichung des Deutschen mitwirkten.

So wundert es nicht, dass vieles, was einst als jugendlicher Insiderwitz in Halle, Jena, Gießen oder Göttingen erdacht wurde, heute noch im Duden steht. Blamage, paffen, krass, fidel, aufgedonnert, Tatterich, Ulk, mogeln oder pomadig entstammen dem alten Universitätsmilieu genauso wie Abfuhr, abgebrannt, abknöpfen, abmurksen, Anschiss, aufgekratzt, berappen, blechen, bummeln, Bude, durchbrennen, famos, flöten gehen, foppen, Kneipe, petzen, Schlamassel, Schmöker, Schwof, Skandal, verdonnern, verduften, verknallen oder die Redewendungen unter aller Kanone und das ist mir Wurst. Diese Aufzählung ließe sich noch erheblich erweitern.

Die deutsche Sprache verdankt dem universitären Jargon jedoch nicht nur Wörter und besondere Formen wie das Plural-S an Stellen, wo es standardsprachlich nicht hingehört, sondern genauso bestimmte Vor- und Nachsilben. Wenn wir heute im Winter sagen, es sei saukalt, oder bemerken, jemand sei bierernst, ahnen wir wohl nicht, dass sau- und bier- Präfixe waren, die zuerst im studentischen Gruppenstil vor Begriffe gesetzt wurden, um deren Gehalt zu verstärken.

Im Wortregister der von Henne und Objartel herausgegebenen »Bibliothek zur historischen deutschen Studenten- und Schülersprache« füllen Ausdrücke, die mit bier- anfangen, allein sieben Spalten – von Bieramseln bis Bierzwang.34 Nicht ganz so viele Wörter haben die Vorsilbe sau-, aber dafür sind von diesen aktuell noch mehr im Gebrauch, wie Sauglück, Sauhund, Saukerl, saumäßig, Sauklaue, Saupech, Sauschwein und sauwohl. Von den Nachsilben der Studentensprache sind heute beispielweise -os/-ös, -ität oder -alie feste Bestandteile der Wortbildung. Lappalie und Fressalien etwa waren ursprünglich Begriffe der Burschenwelt. Burschikos, das heute in der Sprache der Mode das Gegenteil von feminin meint, bedeutete früher »studentisch«. Die Schwulitäten, in denen auch Heterosexuelle stecken können, finden sich schon 1781 in Kindlebens Wörterbuch: Ursprünglich wurde damit eine Verlegenheit bezeichnet, bei der Burschen ganz schwul/schwül wurde. Und mit -ös bildeten Musensöhne unter anderem das schöne Wort schauderös, das ebenso in einer Donald-Duck-Übersetzung von Erika Fuchs stehen könnte. Dass sie sich mit Studententraditionen auskannte, zeigt die Philologin Fuchs zum Beispiel in der Geschichte »Im Lande der viereckigen Eier«, in der sie Indianer Studentenlieder singen lässt, die ihnen vor langer Zeit ein Professor Püstele aus Entenhausen beigebracht hat – darunter das berühmte »Gaudeamus igitur« (»Lasst uns also fröhlich sein!«). Das Stück wurde erstmals 1781 im Liederbuch von Kindleben abgedruckt; seine Spuren lassen sich aber bis ins Mittelalter zurückverfolgen.

Bei Menschen, die sogar im betrunkenen Zustand noch Lateinisch sangen, ist es kein Wunder, dass sie in ihren Jargon allerhand verballhornte lateinische Bruchstücke aufnahmen – ähnlich wie die Jugendsprache der 1960er und 1970er-Jahre durchsetzt war von halb englischen, halb deutschen Begriffen etwa aus dem Bereich der Rockmusik und des Drogenkonsums. Die antiken Elemente der Studentensprache wollen wir uns in einem späteren Kapitel anschauen. Und auch dem Französischen wird ein eigener Abschnitt gewidmet.

Das ganze fremdsprachliche Gepränge täuscht aber nur darüber hinweg, dass der Alltag der Studenten meist weniger von lateinischen Studien und französischen Manieren geprägt war als von banalen materiellen Sorgen. Entsprechend groß war der Wortschatz für den Bereich des Geldes, des Zahlens, des Schuldenmachens und der Abwehr der schon genannten Manichäer. Heute noch gängige Synonyme für Geld wie Moos und Kies gehen ebenso auf die Welt der Burschen zurück wie das Wort blechen. Ein humoristischer Kupferstich aus dem Jahre 1820 zeigt die Szene »Wie ein Student in Krähwinkel einen Philister anpumpt«. Man sieht darauf einen nach der universitären Mode gekleideten Jüngling und einen graugesichtigen älteren Mann. Dieser kniet unter einer öffentlichen Wasserpumpe und wird mit Wasser aus dem Hahn überschüttet, indem der Student den Pumpenschwengel bewegt. Das Interessante daran ist, dass der Philister Münzen erbricht. Anfang des 19. Jahrhunderts war die Redensart jemanden anpumpen im Sinne von »sich Geld leihen« aufgekommen, und das witzige Blatt machte eine breitere Öffentlichkeit mit den Kuriositäten der damaligen Jugendsprache bekannt. Heute sind anpumpen, sich etwas pumpen und auf Pump leben längst ganz allgemein bekannte Wörter und Wendungen.

Krass

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