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Als Goethe Pech im Glück hatte

Studentensprachliches im Werk des größten deutschen Dichters

Unter den nachgelassenen Papieren Goethes findet sich unter anderem eine Wortsammlung, von der man nicht recht zu sagen vermag, was der Dichter eigentlich damit anfangen wollte. Es handelt sich um eine Seite eines Notizbuchs, das Goethe während seiner Reise durch Italien anlegte und von der Forschung auf 1788 datiert wird. Wenn diese Jahreszahl stimmt, dann enthält das Blatt mit der Überschrift »Studenten Comment«37 Erstbelege für etliche studentensprachliche Ausdrücke, die dann in den Wörterbüchern der kommenden Jahre gebucht sind. Außerdem ist es ein prominenter Beweis dafür, dass man sich schon zu dieser Zeit der Sprache der Burschen mit einer vorwissenschaftlichen Neugier zu nähern begann und der Trend zum Sammeln, Sichten und Sortieren ging.

Den 15 Ausdrücken stellt Goethe jeweils eine Bedeutungserklärung gegenüber. Und fast alle diese Wörter gebraucht er auch an anderer Stelle, wie man anhand des großen Goethe-Wörterbuchs nachprüfen kann. Dieses Mammutprojekt wird von mehreren Wissenschaftsakademien seit fünf Jahrzehnten bearbeitet. Am Ende soll es jedes der 120 000 Wörter, die der »Olympier« verwendet, aufführen.38 Die Studentensprache war für den Dichter also kein exotischer Forschungsgegenstand, sondern ihm ganz eigen.

Das wichtigste Wort in Goethes Sammlung ist Pech. Es wird als »Unglück« definiert. In dieser uns heute allgemein bekannten Bedeutung war es vorher nicht im Gebrauch. Augustin erklärt den Begriff ein paar Jahre später, nämlich 1795, folgendermaßen: »Pech heißt Unglück. Saupech starkes Unglück, auch Saumalheur und Unglück mit Pech vermischt.«39 Das Gegenteil von Pech ist bei Goethe Treffer, was »Glück« bedeutet. Der Jugendsprache-Historiker Helmut Henne schreibt dazu:

»Darüber hinaus zeigen Goethes Beispiele wesentliche strukturelle Merkmale jeder ›Jugendsprache‹ an: die hyperbolische (also großsprecherische, in diesem Fall superlativische) Form des Sprechens, neben dem Pech gibt es das Saupech, neben dem Treffer den Sautreffer, dazu eine die Erwachsenenwelt, also die Philister schockierende grobianische Weise des Redens, von z. B. Anschiß (›Wunde beim Duell‹) und Verschiß (›Strafe wegen nicht kommentgemäßen Verhaltens‹). Heutige Jugend bezeichnet die Gegenstände ihrer Entzückung mit superaffengeil.«40

Der letzte Satz des 1982 erschienenen Henne-Texts ist mittlerweile selbst schon wieder historisch.

Weitere Wörter der Liste sind klemmen und schießen im Sinne von »wegnehmen«, die ich beide aus meiner Jugend noch als schülersprachliche Ausdrücke kenne und von denen zumindest klemmen (»stehlen«) bis heute im »Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache« verzeichnet ist. Auch dämmern, das Goethe mit der heute so schön altmodisch-poetisch klingenden Erklärung »bey sich verweilen« versehen hat, ist noch immer für den Zustand zwischen Tag und Traum im Gebrauch. Leider hat Goethes schöner Dämmerfürst (»Phlegmaticus«) nicht überlebt. Goethe selbst verwendete den Begriff nur ein einziges Mal in einem Brief von 1814. Hier bezieht er sich auf einen Heidelberger Studienkollegen seines Dienstherrn Carl August von Sachsen-Weimar, über den er schreibt, dass jener »nun aber zu einem heitern Helden aufgewacht ist«.41

Nicht mehr gebräuchlich ist die von Goethe notierte Redensart das genirt mich nicht (»es geht mich nichts an«). In seinen eigenen Texten entfaltet das Verb genieren eine große Bedeutungsvielfalt im weiten Sinn von »einengen«. Berühmt ist etwa Goethes Zitat über Schiller: »Er ist so groß am Theetisch, wie er es im Staatsrath gewesen seyn würde. Nichts geniert ihn, nichts engt ihn ein, nichts zieht den Flug seiner Gedanken herab.« Noch der alte Dichterfürst erinnerte sich an die Studentensprache. Im Jahr 1817 schrieb Goethe dem Göttinger Historiker und Professor Georg Friedrich Sartorius über die von Lord Elgin nach England gebrachten Marmorskulpturen von der Akropolis in Athen: »Was mich aber sonst in der Welt genirt (um den Studentenausdruck zu gebrauchen) das sind die Elginischen Marmore.«

Zumindest in älterer Literatur findet man noch die Wendung in Verschiss geraten, die bei Goethe wie erwähnt in ihrer aktivischen Form in Verschiß thun (»in Bann thun«) aufgeführt wird. Anschiss kennen wir nur noch in der Bedeutung »Rüffel«. Außerhalb von schlagenden Verbindungen benutzt es aber keiner mehr so wie Goethe, der den Begriff aus dem Jargon der studentischen Duelle seiner Zeit heraus erläutert als »Stich mit sichtbarem Dreyek«. Dafür ist patent (»tüchtig«) noch allgemein bekannt, obwohl es mittlerweile vielleicht ein wenig tantig klingt.

Rein literarisch interessant, aber auf diesem Gebiet mit umso größerem Nachklang, ist das Wort Suite und die dazugehörigen Ableitungen: Suite reißen – »Schwanc machen« bzw. S[u]itier – »Roué [französisch ›Lebemann, Wüstling‹] im niedrigern Sinne«. Helmut Henne, der Goethes Dokument in seine »Bibliothek zur historischen deutschen Studenten- und Schülersprache« aufgenommen hat, schreibt zum unerklärten Wort Suite: »Es ist nicht leicht, eine zutreffende Übersetzung zu geben, weil das Wort, eminent situations- und kontextabhängig, in seiner Bedeutung wechselt. Die Lücke, die Goethe lässt, hat also Gründe.«42 So kann Suite ebenso für »Gefolge«, »Liebesabenteuer«, »Spaß« oder »Fahrt, Ausflug« stehen. Goethe selbst erklärt den Begriff 1812 in »Dichtung und Wahrheit« als »verwegner Humor«: »Diese Dinge sind so gewöhnlich, daß sie in dem Wörterbuche unserer jungen akademischen Freunde Suiten genannt werden, und daß man, wegen der nahen Verwandtschaft, ebenso gut Suiten reißen sagt als Possen reißen.«43

Heute kennen wir den Suitier nur noch aus Thomas Manns »Buddenbrooks«. Wer den Roman gelesen hat, weiß, dass Christian Buddenbrook, der lebenslustige, jedoch von Zwangsneurosen geplagte Versagerbruder des braven Thomas Buddenbrook sich dort zur Welt der Suitiers hingezogen fühlt. Damit sind jene Lübecker Bürger gemeint, die sich nicht allzu sehr um gesellschaftliche Regeln kümmern und sich Freiheiten in Bezug auf Erotik wie Alkoholkonsum herausnehmen – allerdings ohne sich dabei wie Christian zu ruinieren. Die »Buddenbrooks« sind 1901 erschienen. Dass Suitier um die Jahrhundertwende ein ganz verbreitetes Wort war, beweist das Libretto von Johann Strauss’ Operette »Die Fledermaus« aus dem Jahre 1874. Hier reimt das Kammermädchen Adele:

»Was schreibt meine Schwester Ida?

Die ist nämlich beim Ballett […]

›Wir sind heut auf einer Villa,

Wo es hergeht flott und nett.

Prinz Orlofsky, der reiche Suitier,

Gibt heute abend dort ein Grand-Souper.‹«44

Das können direkte Überreste der Studentensprache sein, aber genauso Nachklänge Goethes, dessen Werk natürlich sowohl die Strauss-Librettisten Karl Haffner und Richard Genée als auch der junge Thomas Mann wie alle deutschsprachigen Autoren dieser Zeit geradezu inhaliert hatten. Denn Goethe hat Suite und Suitier in seinem Werk häufiger verwendet. Am wichtigsten ist wohl die Stelle aus der Erzählung »Die gefährliche Wette«, die in den Roman »Wilhelm Meisters Wanderjahre« eingeschaltet ist. Hier heißt es:

»Es ist bekannt, daß die Menschen, sobald es ihnen einigermaßen wohl und nach ihrem Sinne geht, alsobald nicht wissen, was sie vor Übermut anfangen sollen; und so hatten denn auch mutwillige Studenten die Gewohnheit, während der Ferien scharenweis das Land zu durchziehen und nach ihrer Art Suiten zu reißen, welche freilich nicht immer die besten Folgen hatten. Sie waren gar verschiedener Art, wie sie das Burschenleben zusammenführt und bindet45

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