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Immer wieder krass

Jugendsprache wird von den meisten Menschen als eine moderne Verfallserscheinung empfunden, die bestenfalls nervt und unverständlich ist, schlimmstenfalls aber zur Zerstörung des Deutschen beiträgt. Dabei gibt es Grund anzunehmen, dass Jugendliche schon immer eigene Gruppensprachen nutzten – nach innen als Erkennungszeichen, nach außen zur Abgrenzung und natürlich auch ganz einfach zum Spaß. Und damit haben sie unsere Muttersprache nicht zerstört oder verhunzt, sondern ganz im Gegenteil zu allen Zeiten um zahlreiche Ausdrücke und Wendungen bereichert.

In Deutschland ist Jugendsprache seit etwa 500 Jahren nachzuweisen. Schon in Luthers Tischgesprächen, so die spätere Interpretation des großen Sprachhistorikers Friedrich Kluge, zeige sich ein Nachschein von Studentenritualen mit entsprechendem Jargon aus der Universitätszeit des Reformators. Erste verlässlichere Quellen stammen aus dem 17. Jahrhundert. Seit dieser Zeit sammelten Jungakademiker die Begriffe und Phrasen, die sie gemeinsam verwendeten, in speziellen Wörterbüchern. Auch Goethe legte eine kleine handschriftliche Sammlung von Studentenwörtern an.

Die Studentensprache hatte langfristig einen starken Einfluss auf die deutsche Standardsprache. Deshalb wird ihr in diesem Buch viel Platz eingeräumt. Zudem war sie rund 300 Jahre lang die einzige Jugendsprache, die wir in Quellen zu fassen kriegen. Womöglich war sie damals auch tatsächlich die einzige. Jugendsprache setzt ein Gruppenbewusstsein und kommunikatives Vernetzsein voraus, die so nur an Universitäten zu finden waren, vielleicht noch bei Handwerksburschen und -gesellen, aber wohl eher nicht unter Bauernkindern.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelte sich erstmals eine nicht studentische Bewegung von Jünglingen mit eigenem Jargon: die Turner. Ihr Wortschatz wurde weitgehend von der Gründergestalt Friedrich Ludwig Jahn geprägt, der noch heute als »Turnvater« berühmt-berüchtigt ist. Die Rolle Jahns und seiner Jünger in der Geschichte der deutschen Jugendsprachen ist bisher weitgehend unbeachtet geblieben. Hier werden sie nun erstmals unter diesem Gesichtspunkt in den Blick genommen. Denn wie sich zeigen lässt, hatten die Turner einen erheblichen Einfluss auf die Sprache des Wandervogels und der Bündischen Jugend, die vom Ende des 19. Jahrhunderts an nach alternativen Formen des Gemeinschaftslebens suchten.

Anfang des 20. Jahrhunderts wird dann auch eine mehr oder weniger eigenständige Schülersprache greifbar. Sie bestand einerseits aus burschensprachlichen Ausdrücken, die sich die Schüler angeeignet hatten, andererseits aus ganz neuen Wortschöpfungen. Dazu gehörten Ausdrücke wie dufte, knorke und prima, die zum Beispiel 1929 in Erich Kästners »Emil und die Detektive« auftauchen, ebenso wie in der Verfilmung zwei Jahre später. Diese und andere Filme werden als Quellen für die Jugendsprache der jeweiligen Zeit herangezogen – Material, das bisher kaum in dieser Hinsicht ausgewertet wurde.

Später, in den Vierzigerjahren, nutzten junge Swing-Hörerinnen und -Hörer, die eher quer zum NS-Regime standen, ebenso wie die massenhaft in die Hitlerjugend gepressten Jugendlichen jeweils eigene Sprechstile. Diese überschnitten sich teilweise, betonten aber gleichzeitig bewusst bestimmte Eigenheiten, etwa durch den Gebrauch von englischen Sprachbrocken bei den Swings.

Weiter ging es mit Halbstarken und »Exis« in den Fünfzigern, langhaarigen Vertreterinnen und Vertretern der Gegenkultur in den Sechziger- und Siebzigerjahren, bis sich schließlich die Generationen der Jugendlichen seit den Achtzigern in immer mehr Untergruppen fragmentierten. Sie alle pflegten eigene Jargons und verfügten dennoch über einen verbindenden jugendsprachlichen Basiswortschatz. Dazu gehörte sei den Neunzigern das Wort krass, das 250 Jahre zuvor schon einmal, allerdings in einer ganz anderen Bedeutung, bei den Studenten im Gebrauch war. Es lag nahe, dieses Buch nach jenem emblematischen Wiedergänger zu benennen.

Wer ein Buch über Jugendsprache schreibt, muss darlegen, was er überhaupt damit meint. Die Wissenschaft ist sich zwar im Grunde einig, was Jugendsprache ist. Aber so unterschiedliche Bezeichnungen wie »Jugendjargon«, »Jugendslang«, »jugendliche Gruppenstile«, »Sprachgebrauch junger Menschen« oder »Sprechverhalten Jugendlicher« zeigen, dass noch um genauere Definitionen und Abgrenzungen gerungen wird.

Bis diese Debatte entschieden ist, was angesichts der Flüssigkeit geisteswissenschaftlicher Bestimmungen vielleicht nie der Fall sein wird, lege ich diesem Buch eine Selfmade-Definition von Jugendsprache zugrunde, der wohl niemand – sei es ein Linguist, sei es ein Jugendlicher – deutlich widersprechen wird: »Jugendsprache« fasse ich als eine Sprechweise, mit der sich junge Menschen nach außen sowohl von Älteren als auch von anderen Jugendlichen abgrenzen und die nach innen als eine Art Erkennungszeichen wirkt. So etwas gab es vor rund 500 Jahren, als Martin Luther studierte, genauso wie später bei flotten Burschen an Universitäten, Turnern, Wandervögeln, Straßenkindern im Berlin der Dreißigerjahre, Swing-Girls, Hitlerjungen, Halbstarken, Gammlern, Hippies und heutigen Hip-Hoppern oder Gamern.

Bei der Musterung dieser fünf Jahrhunderte werden wir hinter der historisch bedingten Verschiedenheit doch viele Gemeinsamkeiten entdecken. Ganz nebenbei wird noch der Mythos widerlegt, dass Jugendsprache wahnsinnig schnell veraltet und sich ständig wandelt. Im Gegenteil: Einige Leserinnen und Leser werden staunend feststellen, dass der vermeintlich brandneue Wortschatz ihrer eigenen Teenagerjahre schon zu Großvaters Zeiten auf den Schulhöfen in aller Munde war.

Matthias Heine im Januar 2021

Krass

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