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ОглавлениеWer um 1750 geprellt wurde
Robert Salmasius sammelt die »auf Universitäten gebräuchlichen Kunstwörter«
Im Februar und März des Jahres 1749 unterhielt ein gewisser Robert Salmasius die Leserschaft der »Vergnügten Abendstunden«, einer in Erfurt erscheinenden Zeitschrift, mit einer mehrteiligen Serie mit dem sich zeitgemäß spreizenden Titel »Kompendiöses Handlexikon der unter den Herren Purschen auf Universitäten gebräuchlichsten Kunstwörter«. Im November erweiterte dann ein unbekannter Autor unter dem Pseudonym Lizentius Prokax die Salmasius’sche Sammlung mit zwei Fortsetzungen im selben Magazin.
Ein Völkchen, das sich so sehr als eigener Stand fühlte wie die Studenten der frühen Neuzeit, musste unweigerlich nicht nur eigene Sitten, sondern auch einen eigenen Sprachgebrauch herausbilden. Was Salmasius »Kunstwörter« nannte und Engels »Kraftsprache«, diente dem gleichen Zweck, den Gruppensprachen bis heute haben: Die Eingeweihten, die diese Ausdrücke kennen und gebrauchen, wollen sich als Clique zusammenschweißen und nach außen abgrenzen gegen all jene, die diese Wörter nicht verstehen oder – noch viel peinlicher – verständnislos nachplappern.
Salmasius, der auf dem Titel als »JCto« (von Juris consultus, »Rechtsgelehrter«) bezeichnet wird, hatte in Jena studiert. Er schilderte die Welt, in der die studentische Jugendsprache entstanden war, bereits als untergegangen. Dafür macht er »eigensinnige Fürsten und neuerungsliebende Ministers« verantwortlich. Seine Zustandsbeschreibung klingt, als hätten sich Politiker vom Schlage Goethes und Massows, Militärs wie der Alte Dessauer oder Rektoren wie Fichte schon um 1750 durchgesetzt – was, wie wir gesehen haben, gerade in Jena ganz und gar nicht der Fall war:
»Man schrieb andere Gesezze; man bestellete andere Ordnungen; man schränkete die edle Purschenfreiheit auf allen Seiten aufs ungebührlichste ein; man strafete; man relegirete, und mit einem Worte: man taht alles, was prave und für die Freiheit streitende Pursche nur immer kränken, betrüben und in die äusserste Bewegung sezzen konte. Diese Pedanterei hat wie ein Krebsschaden um sich gefressen; und leider ist sie so weit eingerissen, daß der praven Purschen immer weniger werden, und daß solche, die es sonst mit dem Teufel in der Hölle aufgenommen hätten, sich jezt nicht einmal mehr unterstehen, einen Mukker tod zu stechen, da sie sonst wol den pravesten Purschen von der Welt tod stechen konten.«19
Hier lernen wir einige studentensprachliche Wörter kennen. In seinem Lexikon erläutert uns Salmasius: »Mukker heist im algemeinen Verstande so viel wie Klos. Im besonderen Verstande heist es ein Pietist.« Unter dem Stichwort Klos findet man die weitere Erklärung: »Klösse sind die dummen Kerrels, die immer in die Collegia laufen, sich den Kopf zerbrechen, Petimäters und Pedanten werden; und mit einem Worte: die den praven Purschen entgegen gesezzet sind.« Über Pedanten heißt es an der entsprechenden Stelle: »Dis sind eigentlich die Narren, die Latein können; überhaupt diejenigen, die studiren und was lernen, und sich dem Joche der Gesezze unterwerfen.« Petimäter, so erklärt Salmasius, seien »solche Leute, die im Reden, in Minen, im Gange, in Kleidung und in allem was besonders vorstellen wollen, allerlei Tohrheiten und Eitelkeiten verrahten, und darüber ausgelachet werden«. Es handelt sich offenbar um eine Art frühe Hipster, denen nichts peinlicher ist als so herumzulaufen wie alle anderen – und die gerade deshalb alle gleich aussehen:
»So bald ein Petimäter, der sich gestern erst eine neue Kokarde gekaufet, heute ein siehet, von der er höret, daß sie mehr Mode sey, sobald mus er sie haben. So bald heute eine neue Art von Bändern aus Leipzig komt, so bald mus sie schon an seinem Degen oder Stokke seyn; er mus zehnerlei Uhren, Dosen, Schuhschnallen u[nd] dergl[eichen] besizzen; er mus Ringe am Finger tragen, u[nd] w[as] d[essen] m[ehr] ist.«20
Das Gegenbild zu ihnen ist der brave Bursch oder prave Pursch. Das P in Pursch ist möglicherweise auf eine hyperkorrekte Aussprache der Studenten zurückzuführen, die oft erst an der Universität, wo Erstsemester von überallher zusammenkamen, ihren Dialekt ablegten und Hochdeutsch lernten. Noch Goethe erging es so, als er sein Studium in Leipzig aufnahm. In »Dichtung und Wahrheit« erinnerte er sich Jahrzehnte später:
»Ich war nämlich in dem oberdeutschen Dialekt geboren und erzogen, und obgleich mein Vater sich stets einer gewissen Reinheit der Sprache befliß und uns Kinder auf das, was man wirklich Mängel jenes Idioms nennen kann, von Jugend an aufmerksam gemacht und zu einem besseren Sprechen vorbereitet hatte, so blieben mir doch gar manche tiefer liegende Eigenheiten, die ich, weil sie mir ihrer Naivetät wegen gefielen, mit Behagen hervorhob, und mir dadurch von meinen neuen Mitbürgern jedesmal einen strengen Verweis zuzog.«21
Goethe traf es in Sachsen sicher besonders hart. Denn dort bildete man sich ein, das beste Deutsch zu sprechen, weil Luther die sächsische Kanzleisprache und teilweise die mitteldeutsche Mundart zur Grundlage seines Bibeldeutsch gemacht hatte. Aber einen vergleichbaren Dialektschock erlitt sicher fast jeder Student: Wer die recht kurze Schulzeit mit Latein und einem dialektal gefärbten Deutsch noch gut überstanden hatte, lief an der Universität Gefahr, von den Kommilitonen nicht verstanden oder gar verlacht zu werden.
Brav zu sein, das bedeutete damals genau das Gegenteil von dem, was heute damit gemeint ist. Der Ausdruck war auf dem Umweg über die Soldatensprache aus dem französischen brave (»mutig, tapfer«) entstanden. Salmasius fasst anschaulich zusammen, welche Art von Tapferkeit in seinen Universitätsjahren, auf die er »[n]icht ohne Vergnügen, obgleich mit Wehmuht« zurücksah, erwartet wurde: »Was ein praver Pursch war, der stund.« Bei einem Auszug, mit dem man die Stadtobrigkeit unter Druck setzen wollte, galt es durchzuhalten: »Man kampirete zu Hause, und zu Dorfe, ganze Wochen, ganze Monate, ganze Jare«. Vorher und nachher führte man sich möglichst ungestüm auf:
»[…] man schlug sich; man stach auf der Stelle tod; man prellete die Füchse; man schlug dem Professor so wie dem Philister die Fenster ein, so oft man nur Lust hatte; […] man wezzete und perirte; man sang die schönsten und kurzweiligsten Lieder zum Fenstern heraus; An Stat der Bezalung gab man dem Manichäer eine Tracht Schläge […]. Man hutschete, man borgete, man prellete, man zog aus. Kurz: man taht alles, wozu man Lust und Belieben hatte […]. Dis war das güldene Alter der Pursche. Freiheit, Freiheit; Alles war Freiheit!« 22
Auch bei diesem Zitat sind einige Worterläuterungen nötig: Wetzen war der Krach, den die Studenten veranstalten, wenn sie ihre Säbel auf dem Straßenpflaster hin und her scheppern ließen. Möglicherweise hatte sich der junge Luther einst bei einer solchen Aktion ins Bein geschnitten: »Es geschiehet dieses zunachte auf den Gassen. Man hauet von einer Seite zur andern. Je mehr Funken, je mehr Galle.« Periren bedeutete das Hinausbrüllen der lateinischen Beschimpfung pereat (»Nieder mit ihm!) entweder vor dem Haus eines Gegners oder hinter den uniformierten Häschern – bei Letzteren natürlich mit gebührendem Abstand »von 2 oder 3 Büchsenschus«, »denn«, so Salmasius, »die Kerrels brauchen gar keine raison, sondern sie schlagen auf 2 bis 3 Monate lendenlahm.« Manichäer meinte nicht einen Anhänger des altpersischen Religionsstifters Mani, sondern bezeichnet einen Gläubiger, der – Obacht: ein Wortspiel! – sich erdreistet, die Bezahlung seiner Schulden zu mahnen. Füchse hießen die unerfahrenen Studenten, die ganz neu auf der Universität sind und von den älteren Semestern beliebig gequält und ausgenutzt wurden. Und hutschen nannte man einen rituellen Kleiderwechsel, bei dem sich die Burschen durch kompletten Tausch ihrer Wäsche zu Brüdern auf Lebenszeit erklärten und ewige Treue gelobten.
Diese Begriffe sind außer unter Burschenschaftern in Vergessenheit geraten. Nur prellen, das im genannten Zitat gleich zweimal auftaucht, ging wie so viele andere Wörter des studentischen Jargons in die allgemeine Umgangssprache ein. Es bedeutete zunächst »ausnutzen«, denn die Füchse mussten den Burschen Getränke und Essen bezahlen. Im verschärften Sinne hieß es »leihen und nicht wiedergeben«. Sicher sprach Salmasius seinen chronisch klammen Kommilitonen aus dem Herzen, wenn er fragte: »Wie wolte mancher ehrlicher praver Pursch herdurch kommen, wenn kein Prellen erlaubet wäre?« In dieser Bedeutung steckt das Wort noch heute im gängigen Ausdruck Zechprellerei. Wenn jemand die Zeche prellt, kann er sich also ganz auf die jahrhundertealte Tradition der Burschenfreiheit berufen – zumindest, wenn er Student ist.