Читать книгу Krass - Matthias Heine - Страница 15
ОглавлениеWer einen Kater hat, der schwänzt eben
Von den Burschen zu Fridays for Future
Auch beim Kater, den man nach einem Rausch hat, denkt keiner mehr an die burschikosen Saufrituale von Halle, Jena und Gießen. Aber das Wort erschien erstmals um 1850 als Hüllwort: Die Studenten sagten vermutlich ironisch, sie hätten einen Katarrh, wenn ihnen übel war; in der Leipziger Aussprache wurde dann Kater daraus. Oder es war eine wortspielende Variante des Ausdrucks Katzenjammer, der schon seit der Zeit um 1800 für das schlechte Gefühl nach allzu ausgiebigem Alkoholgenuss im Gebrauch war.
Ein anderes altes Studentenwort mit zoologischem Anklang las man sehr häufig, als im Sommer 2019 Deutschlands Schüler jeden Freitag für den Klimaschutz streikten. Da stand auf der Titelseite des »Hamburger Abendblatts«: »Heute demonstriert Greta in Hamburg […] Schulbehörde warnt vor Schwänzen«. Die Schlagzeile irritierte viele Menschen und bewies wieder einmal, dass die Groß- und Kleinschreibung zu den fiesesten Tücken der deutschen Sprache zählt. Gemeint war aber natürlich nicht der Plural des Substantivs Schwanz, sondern das Verb, das das »Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache« so definiert: »etw., besonders eine Unterrichtsstunde, Aufgabe, Pflicht, ohne triftigen Grund versäumen, an etw. nicht teilnehmen, weil man keine Lust hat«. In dieser Bedeutung kam das Verb schwänzen im frühen 18. Jahrhundert in der Studentensprache auf. Zunächst meinte es »betrügen, etwas schuldig bleiben« und ist so seit 1729 belegt; im Jahr 1749 lässt es sich dann erstmals im Sinne von »eine Vorlesung versäumen« nachweisen.35
Entwickelt hat sich diese neue Bedeutung aus einem älteren swenzen, das im Rotwelschen, der Sprache der Gauner, »gehen, schlendern, schleichen« bedeutete. Es ist im »Liber vagatorum« von 1510 nachweisbar, einem Lexikon über die Tricks der Bettler. Ähnlich verwendete Martin Luther swenzen als Synonym für »herumstolzieren«. Und 150 Jahre später dichtet der Barockpoet Kaspar Stieler: »Du gehst durch alle Gassen schwänzen / und findst dich gern bey Hochzeittänzen.« Dieses swenzen wiederum geht zurück auf ein mittelhochdeutsches Verb, das »schwanken« und dann »sich beim Tanz hin und her wiegen« meinte. Der Schwanz eines Tieres wird so genannt, weil sich dieser Körperteil in der Vorstellung, etwa bei Kühen, ständig hin und her wiegt, um Fliegen zu vertreiben.
Im 18. Jahrhundert nahm Schwanz ausgehend vom Verb schwänzen in der Studentensprache den Sinn »Versäumnis, verpasste Vorlesung« an. Georg Franz Burghard Kloß, der Verfasser eines weiteren »Idiotikons der Burschensprache«, definierte 1808 einen Schwanz als »Lücke im Heft«, also in der Vorlesungsmitschrift. Solche Schwänze meinte auch Heinrich Heine, als er 1820 in einem Brief an seine Freunde Friedrich Arnold Steinmann und Johann Baptist Rousseau ausführte, warum er seinen Studienort Bonn gegen Göttingen eingetauscht hatte. Nachdem er in Bonn zu viel Zeit mit der Niederschrift seiner ersten Tragödie »Almansor« verbracht hätte, hätten ihm sogar die lauten Wogen des Rheins mahnend zugerauscht:
»Ochse, deutscher Jüngling, endlich,
Reite deine Schwänze nach;
Einst bereust du, daß du schändlichHast vertrödelt manchen Tag!«36
Wir sehen daran: Alles, was mit schwänzen und Schwänzen zu tun hat, war schon immer semantisch und orthografisch zweideutig.
Ebenso zweideutig ist dank der Großschreibung das Wort Ochse am Anfang des Heine-Zitats. Es ist keine despektierliche Anrede des Jünglings als männliches Rind durch den mahnenden Rhein, sondern ein Imperativ, der nur großgeschrieben wird, weil er am Satzanfang steht. Denn ochsen bedeutete in der Studentensprache das Gleiche wie das heute noch gebräuchliche büffeln (ebenfalls aus der Studentensprache), nämlich »sich etwas durch Wiederholen einprägen«. In diesem Sinne erklärt Heine in seinem Brief den Umzug in das ablenkungsfreie Göttingen: »Nur gut ochsen kann man hier. Das war’s auch, was mich herzog.« Es zeigt sich: Ein Autor wie Heine ist ohne Kenntnisse der alten deutschen Studentensprache nicht immer hundertprozentig zu verstehen. Beim frechen jungen Heine, dessen berühmtestes Prosawerk »Die Harzreise« von einer Fußwanderung handelt, die an seinem neuen Studienort Göttingen beginnt, ist das nicht allzu verwunderlich. Doch im nächsten Kapitel werden wir erleben, dass selbst ein gefeierter Autor, den man oft zu Unrecht abgehoben von allen menschlichen Sphären im Dichter-Olymp ansiedelt, kreativ mit der Studentensprache umging – und das bis ins hohe Alter.