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ОглавлениеWenn poussieren zur Blamage führt
Latein bekommt Konkurrenz aus Frankreich
Seit dem späten 17. Jahrhundert wurde Französisch an den Universitäten immer wichtiger. Dies zeigte sich nicht so sehr in akademischen Texten, sondern vielmehr in der Alltagswelt der Burschen mit ihren Fechtduellen, Tanzvergnügen und Modetorheiten. Der Historiker Friedrich Kluge setzt den Beginn dieser neuen Epoche der Studentensprache um 1700 an, als das Französische in den Sprüchen und Gedichten der Stammbücher sowie anderen privaten Dokumenten das Latein zunehmend verdrängte. Dennoch blieb Latein weiter bedeutsam. So musste selbst Konrad Duden, der großer Reformer der deutschen Orthografie im 19. Jahrhundert, seine Dissertation noch auf Latein verfassen.
Doch auf den Jargon – übrigens ein lautmalerischer französischer Ausdruck für »Kauderwelsch, unverständliches Gemurmel« – der Studenten übte die lebende Sprache des Nachbarlandes einen direkten Einfluss aus. Um 1700, im Zeitalter des Sonnenkönigs Louis XIV., war Frankreich endgültig zur kulturell führenden Nation Europas aufgestiegen. Natürlich eiferten auch die Studenten dem französischen Vorbild nach. Dies waren die von Salmasius 1749 beschriebenen Petimäters, deren französierendes Wesen mit einem verballhornenden Spitznamen nach französisch petit maitre, »Stutzer«, verhöhnt wurde. Kluge erläutert, wie sich parallel zum Aufkommen dieser »Zierbengel« die Rangliste der tonangebenden Hochschulen verschob, denn die Petimäters hatten ihren Schwerpunkt zunächst in Leipzig und Göttingen: »[M]it Entsetzen sahen die Renommisten Jenas und Halles, wie man aus jenen Universitäten diese modische Geckerei ›bei ganzen Zentnern herholte‹ und damit die alte Burschensitte gefährdete.«59
Der französische Wind wehte eine Reihe neuer Elemente in die Studentensprache. Zu ihnen gehörten zwitterhafte Substantivbildungen mit dem französischen Suffix -ier wie Kneipier, Wichsier (»Stiefelputzer«), Fechtier (»Fechtlehrer«), Juxier und der schon genannte Suitier (beide mit der Bedeutung »Spaßvogel, Lebemann«), Zotier (»Zotenreißer), Schanzier (»fleißiger Student«) und Pumpier (»Wucherer, einer, bei dem man pumpt«).
Ein anderes, bei den Burschen sehr produktiv gewordenes französisches Wortbildungselement war das Suffix -age. Schon um 1750 tauchte die Blamage auf, die es im Französischen gar nicht gibt. Dazu kamen etliche weitere, längst wieder vergessene Schöpfungen wie Schenkage, Spendage, Knallage, Bammelage, Renommage und Poussage.
Auch Adjektive mit der aus dem Französischen übernommen Endung -ös wie in fameux oder heureux wurden im Rausch kreativer Trunkenheit massenhaft geschaffen. Neben den heute noch gebräuchlichen philiströs und schauderös waren das beispielsweise pechös, luderös, schmissös (mit Duellwunden, den sogenannten Schmissen, übersät) oder winkulös.
Friedrich Kluge sammelte zahlreiche Beispiele, wie sogar Schriftsteller französische Präpositionen in deutsche Sätze einbauten. Bei Laukhard sind Formulierungen wie sans Spieß oder en canaille besoffen ganz und gar studentensprachliche Gewohnheit. Schiller und Goethe setzten ähnliche Wendungen als Stilmittel ein, um Figuren durch ihre Umgangssprache zu charakterisieren oder witzige Effekte zu erzielen. Der Schwabe ließ in seinem Frühwerk »Die Räuber« den Outlaw Razmann über seinen Räuberhauptmann Karl Moor prahlen, dieser habe mit seinem Ruf »schon ehrliche Kerls in Versuchung geführt. […] Sans Spaß! und sie schämen sich nicht unter ihm zu dienen.«60 Später berichtete Heine in der »Harzreise« von einem tumultuösen Kneipenbesuch: »Ein wohlbekannter, nicht sehr magerer Freund, der mehr getrunken als gegessen hatte […] kam jetzt in allzu gutem Humor, d. h. ganz en Schwein, vorbeigerannt […], polterte nach der Haustüre, und wirtschaftete draußen ganz mörderlich.«61
Wäre der Dicke nicht so betrunken gewesen, hätte er vielleicht noch ein wenig poussieren können. Das französische Verb lautet eigentlich pousser und bedeutet »drücken«. Als es in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit der Bedeutung »antreiben, sich um etwas bemühen« entlehnt wurde, wollte man in Deutschland französischer sein als die Franzosen und ergänzte die Endung -ieren. Im frühen 19. Jahrhundert nahm es dann in der Studentensprache die Bedeutung »hofieren, schöntun, liebeln« an.