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Wer krass war, wurde Opfer

Die Wörterbücher von Kindleben und Augustin

Zunächst aber schauen wir nun in zwei Wörterbücher aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die auf Salmasius folgten und ihn an Tiefe und Fülle übertrafen. Sie enthalten noch weitaus mehr Begriffe, die wir heute ganz selbstverständlich nutzen, ohne noch im Geringsten an deren Herkunftsmilieu zu denken. Beide Lexika erschienen in Halle, Heimat der neben Jena berüchtigtsten Krawalluniversität.

Das Nachschlagewerk von Christian Wilhelm Kindleben ist im Grunde genommen sogar das erste echte Wörterbuch. Die Sammlung vom Salmasius und seinem Ergänzer füllte 1749 nur wenige Zeitschriftenseiten. Kindleben ging 32 Jahre später wesentlich systematischer vor. Der Berliner hatte von 1767 bis Anfang der 1770er-Jahre in Halle Theologie studiert. Doch seine Stelle als Landpfarrer, die er zwischen 1773 und 1776 in Kladow, Gatow und Glienicke innehatte, fand er offenbar nicht erfüllend. Danach schlug er sich als freier Schriftsteller durch und bemühte sich, nachdem er 1779 auf der völlig heruntergekommenen Universität Wittenberg zum »Doctor der Weltweisheit und der freien Künste Magister« promoviert worden war, vergeblich um eine Professur in Halle. Der sich bis zum Schluss in seinen Schriften sehr traditionell religiös und antiaufklärerisch gebende Kindleben hatte völlig zu Recht den Ruf eines Säufers und Hurenbocks. Sein »Studenten-Lexicon« von 1781 wurde genau wie die im gleichen Jahr erschienenen »Studentenlieder« von der Universität Halle, die offenbar gegen ihren üblen Leumund ankämpfen wollte, kritisch beäugt und schließlich vom Prorektor konfisziert. Kindleben wurde aus der Stadt gewiesen, seine Bücher vom preußischen König verboten.

Dabei schlägt er im Vergleich mit Salmasius’ Verherrlichung studentischer Exzesse einen deutlich vorsichtigeren Ton an. Die Einleitung seines Buchs enthält eine Rechtfertigung des Studentenjargons, die schon an moderne linguistische Gruppensprachentheorien erinnert – nicht nur, weil Kindleben die vermeintlich gegenderte Form Studierende verwendet:

»Davon ist nun wohl die Frage nicht, ob es den jungen Studierenden auf Universitäten erlaubt und anständig sey, eine solche besondere Art, sich auszudrücken und ihre Begriffe gegen einander zu bezeichnen, unter sich statt finden zu lassen […]. Zwey Gründe insonderheit bestimmen mich, diese den Herren Studenten eigenthümliche Art, zu reden, gegen eigensinnige und hypochondrische Tadler, die so ganz vergessen, daß sie auch ehedem jung waren, zu vertheidigen: einmal, weil es einer jeden Gesellschaft, die, ohne dem Ganzen zu schaden, zu gewissen Zwecken und unter gewissen Bedingungen und Vortheilen zusammentritt, erlaubt ist, sich ihre eigenen Gesetze und ihre eigene Sprache zu entwerfen, sobald diese Besonderheit nur nicht den Rechten und Vortheilen eines dritten im Wege stehet; zweitens: weil die Studentensprache, sobald die akademischen Jahre, die so flüchtig dahin rollen, geendigt sind, ohnehin aufhört, und das Andenken daran gleichwohl selbst für manchen ernsthaften, im Amte stehenden Mann manch unschuldiges Vergnügen bey sich führet.«23

Kindleben verließ sich seinen eigenen glaubwürdigen Angaben zufolge nicht nur auf eigene Erinnerungen an Halle, sondern recherchierte regelrecht überregional: »Man wird übrigens in diesem Lexikon nicht blos die besonderen Redensarten der Studenten einer einzelnen Universität antreffen; ich haben deren vielmehr durch mündliche Unterredung und Korrespondenz von verschiedenen Universitäten, z. B. von Göttingen, Jena, Frankfurt an der Oder gesammelt.« Darüber hinaus habe er manche zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon wieder veraltete Ausdrücke hinzugefügt, die, als er selbst ein akademischer Jüngling war, noch im Schwange waren.

Allerdings war nach Kindleben selbst der Begriff Bursche zu seiner Zeit bereits veraltet. Dieser werde mittlerweile nicht mehr nur für junge Männer gebraucht, die sich nach dem Burschencomment (»die Handlungssweise, das freye Leben lustiger Studenten«) richten, sondern auch für alle möglichen anderen Leute:

»Da der Name Bursche nicht allein den Lehrjungen der Kaufleute und Krämer, sondern auch Soldaten und Handwerksgesellen beygelegt wurde, so fingen die Studenten an, als dieser Titel unter ihnen aufkam, die Soldaten, sonderlich die Stadtsoldaten und Schaarwächter Schnurren, die Handwerksgesellen und Lehrjungen aber Knüppel zu nennen. Es wäre zu wünschen, daß diese Benennung Bursche, Burschen, von Studenten gebraucht, gänzlich abkäme, ob sie gleich untern den sogenannten Philistern, Aufwärtern und Aufwärterinnen seit geraumer Zeit gebräuchlich ist, weil es für einen Studenten nicht viel Ehre bringt sich von gemeinen Leuten so nennen zu lassen, die damit gemeiniglich eine verächtliche Idee verbinden.« 24

Über die Entstehung des Begriffs Bursche weiß Kindleben:

»Es soll zuerst als ein Wort, das einen Studenten bezeichnet, auf der Unversität zu Halle aufgekommen seyn. Bey den ältesten Studenten nämlich welche ohngefähr vor 70, 80 Jahren hier studierten, mußten alle die, welche nicht für Füchse passiren und die Unbequemlichkeiten des Pennalismus auf sich nehmen wollten, auf die Frage der Schildwacht: Wer da? antworten: ein Pursch, oder ein Bursche.«25

Kindleben erklärt, die Wörter Bursche und Renommist seien gleichbeutend, »Synonyma« also. Das Wort Renommist, das heute bestenfalls noch mit anderer Bedeutung aus Erich Kästners Ballade »Die Sache mit den Klößen« bekannt ist (»Ein Renommist, das ist ein Mann, der viel verspricht und wenig kann.«), haben wir schon als Titel von Zachariäs heiterer Versdichtung kennengelernt. Doch die war zu Kindlebens Zeiten schon 40 Jahre alt und Renommist als Bezeichnung für die freien und lustigen Studenten kam allmählich aus der Mode. Das Wort hatte für Kindlebens Zeitgenossinnen und -genossen wohl schon einen ähnlich ranzigen Beigeschmack wie für uns heute jugendsprachliche Formulierungen der Siebzigerjahre wie »Das fetzt!«.

Das Gegenteil eines alten Burschen war ein Fuchs. Diese Bezeichnung kam erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf. In den 200 Jahren zuvor waren für die Erstsemester neben dem sehr verbreiteten Pennal (nach der gleichnamigen Federbüchse, die der beflissene Neuling immer dabei hatte) noch allerlei fantasievolle, je nach Studienort variierende Namen oft zoologischer Provenienz belegt: Mutterkalb, Haushahn, Rabschnabel, Spulwurm, Räckel, Scherenschleifer und Schindhol.

Die Herkunft des Ausdrucks Fuchs für einen jungen Studenten, der ganz neu an der Universität und noch sehr naiv war – in der heutigen Jugendsprache würde man ihn Opfer nennen – erklärt Kindleben nicht direkt. Aber er beschreibt sehr schön, wie mit der Bezeichnung des Tieres das Wort prellen im Sinne von »piesacken, quälen, betrügen« aus der Jägersprache in den Studentenjargon gelangt war: »Die Füchse prellen, ist ein eine Art Belustigung der Jäger, da sie ihrer vier einen gefangenen Fuchs in ein weisses Tuch legen, solches bei den vier Zippeln anfassen und denselben immer in die Höhe werfen, doch so, daß der Fuchs nicht heraus kann.« So wie die Jäger den Fuchs quälten, so toll trieben es die Musensöhne – ebenfalls eine Bezeichnung für ältere Semester – mit den Füchsen: »Ehedem wurden solche junge Leute von älteren Burschen entsetzlich geschoren, um ihre mitgebrachten Mutterpfennig geprellt und übervortheilt.«

Noch länger zurückliegend, aber noch gut im studentischen Gedächtnis bewahrt, war der Brauch, dass die Neuankömmlinge auch körperlich gequält wurden. Man nannte das deponieren bzw. Deposition nach lateinisch depositio cornuum, »Ablegen der Hörner«. Der Neustudent wurde gewissermaßen als ein Tier angesehen, dem sein animalischer Charakter erst ausgetrieben werden musste. Man setzte ihm eine Kappe mit Hörnern auf, steckte ihm Eberzähne in den Mund, prügelte ihn mit allerlei überdimensionalen Werkzeugen und bearbeitete ihn sogar mit Rasiermesser und Hobel, wovon sich unser Ausdruck »ungehobelt« ableitet. Diese Folter, an der sich früher selbst die Rektoren beteiligten, war in Jena bereits 1682 abgeschafft worden, aber Kindleben schreibt: »Noch jetzt werden auf der Universität Jena die Instrumente aufbewahrt und vorgezeigt, welche bey dem Hänseln oder Hudeln der neuen Studenten gebraucht wurden.«

Bei Christian Friedrich Bernhard Augustin, einem anderen Hallenser, der 1795 als ein weiteres grundlegendes Wörterbuch das »Idiotikon der Burschensprache« veröffentlichte, erfahren wir noch Genaueres über die Hackordnungen innerhalb der Studentenschaft. Augustin, der aus Gröningen in der Magdeburger Börde stammte, war selbst noch ein Musensohn – eine Selbstbezeichnung, die, wie wir gesehen haben, im späten 18. Jahrhundert mit Bursche konkurrierte. Er hatte 1790 ein Studium in Halle aufgenommen und sich dort dem »Märkischen Kränzchen« oder »Corps Marchia«, einer landsmannschaftlich ausgerichteten Verbindung, angeschlossen. Im Zusammenhang mit dem Jubiläum der Universität, die 1795 ihr 100-jähriges Bestehen feierte, entstanden seine »Bemerkungen eines Akademikers über Halle und dessen Bewohner«, die unter anderem das »Idiotikon« enthalten. Ein Idiotikon ist allgemein ein Wörterbuch, in dem Dialekte oder Gruppensprachen erläutert werden. Das größte seiner Art ist das »Schweizerische Idiotikon«, ein Generationenprojekt, in dem unsere südwestlichen Nachbarn seit mehr als 100 Jahren die Besonderheiten ihres speziellen Deutsch festhalten. Der Begriff geht zurück auf die griechische Ursprungsbedeutung von Idiot: »Mann aus dem Volke, Ungebildeter«.

Augustin klassifizierte in seinem Werk die Studenten nicht nur nach Jahren der Universitätszugehörigkeit, sondern benannte klipp und klar, welche Eigenschaft den Fuchs vom Brander (Student nach einem Jahr), vom Bursch (das war man erst nach eineinhalb Jahren) oder gar vom bemoosten Haupt (im dritten Jahr) unterschied: Es sei seine Krassität, also seine Ahnungslosigkeit in Bezug auf studentische Sitten und Regeln. Als krass bezeichnete man die Ahnungslosen, die nicht mit dem Komment und dem Kommersbuch vertraut waren. Denn »[d]iese beiden Bücher sind das Gesetz und die Propheten der Studentensprache«, wie Alfred Götze, der neben Friedrich Kluge wichtigste Forscher auf diesem Gebiet, erläutert.26 Die Unwissenden beschreibt Götze so: »Kraß in diesem Sinne erscheinen dem Studenten vor allem zwei Klassen von Menschen, die Füchse und die Philister. Fast nur in Verbindung mit diesen beiden Wörtern tritt kraß auf.«27 Über Erstere heißt es in der von Kindleben herausgegebenen Liedersammlung:

»Sind sie gleich krasse Füchse,

So soll doch ihre BüchseUns Alten dienlich seyn.

Der Alte lehrt den NeuenSich jugendlich erfreuen,

Lehrt ihn die Burschenpflicht,

Kommt, zahlet unsre SchuldenMit euren Muttergulden,

Ihr Füchse, säumet nicht.«28

Mit den im Lied erwähnten Muttergulden – sonst meist etwas realistischer Mutterpfennig genannt – ist das Extrageld gemeint, das die Mutter dem angehenden Studiosus vor der Abreise in die Universitätsstadt unbemerkt vom Vater zusteckte.

Krass zu sein und in Krassität zu leben, stempelte einen jungen Akademiker also zum Freiwild seiner älteren Kommilitonen ab – ein Zustand, aus dem man sich so schnell und glimpflich wie möglich herausarbeiten wollte. Das Wort krass stammte vom lateinischen crassus, »dick«, ab und hatte als Verkürzung des neulateinischen Ausdrucks crassa ignorantia, »grobe Unwissenheit, dicker Schnitzer«, zu Beginn des 18. Jahrhunderts seinen studentischen Sinn »ungeschliffen, grob« angenommen. Erst im frühen 19. Jahrhundert entwickelte sich daraus die allgemeine Bedeutung »extrem, weitgehend, außergewöhnlich«. Und ganz jung ist krass als meist positiv gemeinter Ausdruck des Erstaunens, der seit den 1990er-Jahren vergleichbaren älteren Jugendwörter wie geil und cool Konkurrenz macht. Wie diese ist das neue krass heute längst in die Sprache junger Erwachsener eingegangen. Damit ist es wohl das einzige Wort, das gleich zweimal und im Abstand von knapp 300 Jahren aus der Jugendsprache ins allgemeine Umgangsdeutsch gelangte.

Krass

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