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Mazzarinos Wunder
ОглавлениеDer Aufstieg des Papstvertrauten und Vertragsunterhändlers, Giulio Raimondo Mazzarino, zum fast 20 Jahre lang wirkenden Beherrscher der Geschicke Frankreichs (1643–1661) und seine Metamorphose zum französischen Spitzenpolitiker Jules Mazarin ist ein beispielloser Vorgang in der Geschichte der europäischen Neuzeit, höchstens vergleichbar mit der Papstwerdung selbst, wie sie ihm sein Mentor und Protektor von Jugend auf, Maffeo Barberini, späterer Papst Urban VIII. (1623–1644), vorgemacht hat.
Günstlinge, Favoriten, Regenten, Co-Regenten und Regierungschefs gab es in der Geschichte des europäischen Feudalismus zuhauf, aber deren Macht war immer limitiert – bezogen auf die Zeit der Minderjährigkeit eines Königs oder auf die Dauer der Gunstbezeugung des legitimen Herrschers. Das Ende der Macht eines Günstlings konnte von einem auf den anderen Tag eintreten, wenn der »gottbegnadete« Herrscher starb oder der Regierende in Ungnade des aktuellen legitimen Thron-Einnehmers fiel.
Mazarins Macht scheint auf den ersten Blick nach den gleichen Gesetzen funktioniert zu haben. Es gab sofort nach Antritt seiner Position als französischer Regierungschef 1643 die Bewegung der »Importants« gegen ihn und fünf Jahre später den vier- bis fünfjährigen Aufstand von Richtern, Adligen, Bürgern und Bauern, die »Fronde«, der es fast gelungen wäre, Mazarins Regierung auf ein Intermezzo zu beschränken.
Erst bei näherer Betrachtung von Mazzarinos 13-jährigem Anmarsch auf die Position des französischen Regierungschefs wird deutlich, dass es sich bei seinem Werdegang ganz und gar nicht um den Aufstieg eines normalen Günstlings handelte.
Der italienische Louis-XIV-Macher Giulio Mazzarino wurde systematisch auf die eigene französische De-facto-Regentschaft vorbereitet, die der Kardinal Mazarin schließlich 1642/43 übertragen bekam, als er zuerst Stellvertreter und dann Nachfolger Kardinal Richelieus wurde.
Deutliche Weichenstellungen auf dem Wege zum französischen Kardinalskönig Mazarin gibt es schon, kaum hat der 27-/28-jährige Mazzarino die französische politische Szene zum ersten Mal betreten.
Am 15. September 1629 wird Mazzarino Unterhändler des Papstes im Mantuanischen Erbfolgestreit. Nach einem Jahr genialer Verhandlungsführung gelingt es ihm, die in Fehde liegenden Parteien der auf ihren Vorteil bedachten Nationen und Fürstentümer an den Verhandlungstisch zu locken. Die Gefahr eines damaligen Weltkrieges, der Ausweitung des schon laufenden »Dreißigjährigen Krieges«, wird gebannt, der Mantuanische Erbfolgestreit am 26. Oktober 1630 vorläufig beigelegt.
Der erfolgreiche Unterhändler Mazzarino, weder ein päpstlicher Nuntius noch als ursprünglicher Konfliktschlichter vorgesehen – er war lediglich ein Ersatz für den erkrankten Nuntius in Mailand, Gian Francesco Sacchetti –, hätte nun lorbeerbekränzt »nach Hause fahren« können. Er hatte sein Meisterstück aus der erst 1628 eingenommenen offiziellen Position nur des Sekretärs des Mailänder Nuntius heraus vollbracht.
Das Gegenteil von »Nach-Hause-Fahren« tritt ein – eine Involvierung Mazzarinos in das französische regierungspolitische Leben, die weit über sein Wirken für den Mantuanischen Erbfolgestreit hinausgeht. – Diese Seltsamkeit wird ersichtlich aus Mazzarinos wiederholten Begegnungen mit dem französischen Königspaar Louis XIII und Anne d’Autriche. Für die Treffen 1630/31/32 gibt es keine andere Erklärung als die Besprechung der Kardinalsbabyschaft, die das Königspaar zutiefst und hautnah selbst anging.
Ludwig 13 war politisch unbegabt und uninteressiert. Er »aß« alles, was sein Regierungschef, Kardinal Richelieu, ihm »vorkaute«. Ausgeschlossen, dass er sich für ein – die französischen Interessen verhältnismäßig peripher betreffendes – Problem wie den Mantuanischen Erbfolgestreit aus eigenen Motiven so sehr interessiert hätte, dass er einen italienischen Nuntius-Sekretär, zweimal persönlich hätte sprechen wollen. – Ludwig 13 konnte nicht Europa-verflochten auf die Bedingungen seines Landes hin denken – einer der Gründe, die ihn zwangen, immer und immer wieder seinen Regierungs»dreck«macher, den in Frankreich verhassten Richelieu, das politische Genie, im Amt zu halten.
Und für die innerhalb von anderthalb Jahren sich wiederholenden Treffen zwischen Mazzarino und der Königin Anna d’Austria versagt jede politisch aktuelle Kalkulation. Richelieu hat die gegen ihn renitente und vielmals konspirierende spanisch gebürtige Königin strikt aus allen politischen Aktivitäten herausgehalten, höfisch isoliert und nach jedem gescheiterten oder verhinderten Komplott für eine Weile »hausarrestieren« und reiseplanmäßig extrem observieren lassen. Nun aber das überraschende plötzliche Gegenteil in Richelieus Strategie gegenüber der Königin: Jetzt muss Anna Ö. zu ihrer ersten Begegnung mit Mazzarino im Januar 1631 sogar anreisen – zweieinhalb Monate nach Abschluss der Mantuanischen Erb-Verhandlungen!
Nach diesem Vertragsabschluss beginnt eine Beziehung zwischen den französischen Staatsrepräsentanten und Mazzarino, die umso erstaunlicher ist, als sie zwischen positionell Obersten und einem positionell Untersten läuft.
Schon 1631 fordert Richelieu Mazzarino bei Papst Urban VIII. als Nuntius an, als offiziellen Botschafter des Heiligen Stuhls am französischen Hof. Dem Antrag wird nicht entsprochen. Dennoch reist Mazzarino zwischen April und Juli 1632 nach Frankreich. Ohne eine diplomatische Position wird er von König und Königin empfangen, vom König zum dritten Mal, von der Königin zum zweiten Mal.
Am 18. November 1632 bekommt Mazzarino den knautschigen Ehrentitel »protonotaire apostolique«, was so etwas bedeutet wie päpstlicher »Honorarkonsul«, ein päpstlicher Untergesandter mit eingeschränkten Vollmachten.
Eiertänzerisch geht es mit Mazzarinos Priesterschaft zu. Nach seiner Rückkehr von den Mantuanischen Verhandlungen nach Rom ab Herbst 1630 verlangt Urban VIII. von ihm, er solle Priester werden. Ein ultimatives Datum wird ihm gesetzt, der 11. Januar 1631. Mazzarino lehnt ab, reist jedoch Mitte Januar 1631 wieder nach Frankreich.
Anderthalb Jahre später, am 18. Juni 1632, erhält Mazzarino in Sainte-Menehould, unweit von Verdun (!), die »Tonsur«, den religiös motivierten Kreisrundhaarausschnitt auf dem Hinterkopf, den danach ein Käppchen bedecken muss. – Doch im Oktober 1632 wird er Domherr von San Giovanni di Laterano in Rom.
Das eine Ereignis geschieht in Frankreich, das andere in Italien. Beide werfen ein Licht auf Mazzarinos subdiplomatische Tätigkeit als Italien-Frankreich-Pendler, der weder ein eindeutig positionsfixierter, römischer Kurienbeamter ist – »Domherr« war nur eine Geldquelle – noch französisiert wurde.
Im Februar 1633 wird Mazzarino »auditeur à la légation d’Avignon«, ein Berichterstatter, ein Beobachter in der südfranzösischen Stadt Avignon, die im 14. Jahrhundert Papstsitz war und auch in den Jahrhunderten danach immer noch gut klerusbestückt wurde – von Rom im benachbarten Land gehalten wie ein »Heiliger Schemel« für Notfälle.
Im März 1633 »nimmt« Mazzarino die »Soutane« – er kleidet sich nun in die Gewänder der Führer der katholischen Kirche, ohne je Priester geworden zu sein, was heißt, er demonstriert die Mitgliedschaft im Kader des Kirchenapparates nur, und auch das tut er in Frankreich, nicht in Italien!
Im Jahr 1633 ernennt Urban VIII. Mazzarino zum »Referendar«. Mazzarino ist Jurist und hat 1622 in Rom zum Doktor juris promoviert. – Normalerweise werden Jurastudenten bald nach ihrem Studium »Referendar« und als solcher von amtierenden Juristen ernannt. Doch Päpste machen, was sie wollen. »Referendar« heißt auch »Referent«. Mazzarino referiert seinem Dienstherrn tatsächlich unentwegt über alles, was dieser wünscht, was zwischen beiden vereinbart wurde. So ist »Referendar« wieder nur ein demonstrativer Titel, der nichts Näheres über die Tätigkeit besagt, mit der Mazzarino geheimdiplomatisch zwischen Rom und Paris auf Reisen ist.
Am 24. Juli 1634 wird Mazzarino in Avignon, dem Ort permanenter päpstlicher Dependance, »pro-légat« = »Legationsrat«. Papst Urban schickt ihn noch im selben Jahr nach Paris als »nonce extraordinaire«. »Extraordinaire« ist nicht, wie sich der Wortsinn umgangssprachlich verschoben hat, »außergewöhnlich«, sondern »halbamtlich«, »außer«- = »nicht«-ordentlich, somit ist Mazzarino aufs Neue nur ein ehrenhalber Botschafter des Papstes in Paris.
Und trotzdem spricht die Chronik von »entrée solennelle de Mazarin à Paris« (26. 11. 1634) (99, S. XIV). – »Glänzend, fürstlich, feierlich« wird Mazzarino als ein nichtoffizieller Botschafter des Papstes empfangen? Solch ein Empfang wird nicht einmal den regulären Botschaftern am französischen Hof zuteil, allerhöchstens obersten Herrschern, wenn die Gastgeber ihnen eine Sonderbewillkommnung demonstrieren wollen.
Mazzarino bleibt von 1634 bis 1636 eineinhalb Jahre in Paris. Am 7. Mai 1635 findet ein erneutes Treffen zwischen ihm und der Königin Anna statt.
Mazzarino verflicht sich in seinen fast zwei Jahren in Paris mit der rechten Politszene, bindet sich eng an den Kardinal Louis Nogaret de La Valette, einen Vertrauensmann Richelieus – jüngster Sohn des Herzogs von Epernon, einem der Drahtzieher des Attentats auf Henri IV 1610!
Alle weiteren Treffen zwischen Richelieu und Mazzarino nach den ersten vier im Jahre 1630 in Norditalien werden in der Chronik nicht mehr aufgeführt, da sie zum Alltag der beiden Kurien- und Staatspolitiker gehören.
Doch etwas scheinbar Nebensächliches wird der Mitteilung für wert befunden: Mazzarino steht mit dem französischen König Ludwig 13 inzwischen so auf »Du und Du«, dass sich im September 1635 die seit fünf Jahren von Richelieu ausrangierte, exilierte Königin Mutter, Maria Medici, an ihren Landsmann Mazzarino heranmacht, um über den neuen Intimus ihres Sohnes eine abermalige Versöhnung mit Ludwig 13 zu erreichen und ein Comeback nach Frankreich zu versuchen. – Mazzarino kann es sich leisten, abzuwinken und die Ex-Königin abblitzen zu lassen. Er ist »durchlöchert« mit politischen Verpflichtungen und Koordinationen, befindet sich aber immer noch in einer geisthaften Nicht-Positioniertheit.
Von April bis November 1636 ist Mazzarino wieder in Avignon. Ende 1636 Rückkehr nach Rom.
Richelieu intensiviert formal-diplomatisch seine Anstrengungen bei Urban VIII., dieser möge Mazzarino als »nonce ordinaire« an den französischen Hof entsenden. Von 1637 bis 1638 bemüht sich Richelieu demonstrativ, Mazzarino mit einem Rechtstitel zurück an den französischen Hof zu holen. Ohne diplomatischen Erfolg – so scheint es.
Eine Anstrengung scheinbar »rein« privater Natur unternimmt Richelieu jedoch erfolgreich: Als das Kardinalsbaby Louis XIV am 5. September 1638 der Weltöffentlichkeit übergeben wird, »bittet« Richelieu seinen Coproduzenten Mazzarino, die Patenschaft für den zukünftigen französischen König zu übernehmen! – An dieser Geste zerschellt jeder politisch-offizielle Erklärungsversuch. Sie wuchtet die Frage in den Action-Trubel: Wie kommt ein päpstlicher »Unterhändler« dazu – ein Chorusline-Tänzer auf dem diplomatischen Parkett seiner Zeit –, Pate des französischen Kronprinzen zu werden?
Am 18. Dezember 1638 stirbt Richelieus »rechte Hand«, Père Joseph. Richelieu will Mazzarino zu Père Josephs Nachfolger haben! Er beantragt beim Papst den Kardinalshut für Mazzarino, der sich gerade in Rom aufhält. Dieser Fakt wird im Fluss der Chronik nicht als völlige Abwegigkeit im politischen Geschehen bemerkt. Mazzarino ist nicht Priester, ist nicht Franzose, lebt nicht permanent in Frankreich und wird als französischer Kardinal vom französischen Regierungschef gegenüber dem Papst »angefordert«, um die verstorbene »rechte Hand« des französischen Staatschefs zu ersetzen!
Ende 1639 verlässt Mazzarino Rom und trifft erneut in Frankreich ein – am 5. Januar 1640 befindet er sich in Paris und wird umgehend für Frankreich in diplomatischen Aufgaben nach Köln und Turin geschickt.
Als 1639/40 Urban VIII. immer noch zögert, Mazzarino zum französischen Kardinal zu ernennen, lässt Richelieu Ludwig 13 unfreundlich gegenüber dem Papst werden. Schließlich wird der Kardinalshut für Mazzarino am 16. Dezember 1641 gewährt. – Wofür? Mazzarino ist kein Kurienbeamter in Rom, auch kein Bischof mit einer Diözese. Und trotzdem bekommt der nie geweihte Mazzarino am 26. Februar 1642 vom französischen König während eines öffentlichen Festaktes in der Kirche Saint Apollinaris in Valence im Rhônetal den Tonsur-Kopfschutz – das Kardinals-Birett – aufgesetzt, das ein Bote eigens von Urban VIII. aus Rom überbracht hatte. Für diese ceremonia sanctissima, vorgenommen nur vom Papst, müssen Bischöfe sich eigentlich nach Rom begeben. Ludwig 13 fungiert in einem unvergleichlichen Publikumsbetrug als »Stellvertreter des Papstes«! Zur Aufsetzung des Kardinalshutes auf Mazzarinos uneigentlichen Kardinalskopf ist es nie gekommen in dieser kardinalen Maskerade. Doch die Diözese Valence wurde dem Nichtbischof ohne Residenzpflicht trotzdem verliehen, um dem Staatsführer in spe harte Währung zufließen zu lassen.
Am 17. April 1642, knappe zwei Monate nach Mazzarinos Erhebung zum »Stroh«-Kardinal von Valence, unternimmt Richelieu einen Staatsstreich von oben, der Mazzarino direkt in seine Regierungsposition hineinkatapultiert: Richelieu verlangt von Louis XIII, alle Kardinäle den Herzögen Frankreichs gleichzustellen, und erzwingt damit für die Kardinäle dieselbe hierarchische Position, die seit etwa tausend Jahren nur die »Prinzen von Geblüt« einnehmen.
Damit wird Mazzarino schon Anfang 1642 als französischer Kardinalskönig avisiert.
Es bleiben nur noch einige letzte »Federstriche«: Richelieu stirbt am 4. Dezember 1642, nicht ohne Mazzarino zuvor zu seinem Nachfolger bestimmt zu haben. Berufung Mazzarinos in den Kronrat durch Ludwig 13. Tod Ludwigs des Dreizehnten am 14. Mai 1643. Seine Witwe Anna von Österreich wird absolute Regentin und erhebt Mazzarino zum Staatsführer.
Zeugnisse über ein offizielles Naturalisationsverfahren Mazzarinos gibt es nicht, so dass davon ausgegangen werden muss, dass er, der sich von nun an »Jules Mazarin« nennt, staatsbürgerrechtlich immer noch Italiener ist.
So weit das »Märchen« vom Sohn eines gescheiterten sizilianischen Hutmachers, geboren am 14. Juli 1602 in Pescina, Abruzzi, im von Spanien besetzten italienischen Königreich Neapel (Geburtsort umstritten), nunmehr als 40-jähriger Mann Kardinalskönig von Frankreich.
Nur über eine Randnotiz kann in den eigentlichen Grund dieser feudal unerhörten, unerlaubten und anderswo auch unmöglichen Laufbahn eingestiegen werden.
Kurz vor dem Tod Ludwigs des Dreizehnten am 14. Mai 1643 wird der viereinhalbjährige Kronprinz, Louis XIV, unter der Anteilnahme vom Hof im Schloss Saint-Germain-en-Laye getauft – noch einmal war eine Demonstration nötig, denn die eigentliche sogenannte Nottaufe des Babys war schon drei Tage nach seinem öffentlichen Erscheinen am 5. September 1638 vorgenommen worden.
Jetzt, bei dem prunkvollen Festakt am 21. April 1643, wird Kardinal Mazarin der Öffentlichkeit als Pate von Kronprinz Louis, späterem König Ludwig dem Vierzehnten, präsentiert und damit erstmals auf seine enge Beziehung zum Königspaar Anna Ö. und Ludwig 13 hingewiesen. Und doch ist Mazarin im Moment der öffentlichen Taufe immer noch ein Regierungs-Niemand – zwar als Nachfolger Richelieus nominiert, aber in der Position des neuen Regierungschefs noch nicht bestätigt. Mazarin tauft Louis XIV nicht als französischer Alleinmachthaber, der er erst in ein paar Wochen nach dem Tod von Ludwig 13 wird. Denn dann geschieht erst Mazarins eigene »Krönung« – Übernahme der »Krone« durch die Königswitwe Anna und ebenfalls durch sie die Ernennung Mazarins zum De-facto-Regenten.
Unter dem Versteckspiel »Priester oder Nichtpriester«, »päpstlicher Gesandter oder französischer Regierungspolitiker« konnte bis in die Gegenwart hinein der Louis-XIV-Macher Mazzarino hinter dem Kardinalskönig werdenden Mazarin verschleiert werden.
Noch die soeben im Text referierte Chronik der Mazzarino’schen Geheimtätigkeit für den Erhalt der französischen Dynastie kann nicht aus sich selbst heraus Mazzarinos wirkliches Tun in den 13 Jahren bis zu seiner Regentschaft über Frankreich erhellen, sondern arbeitet fort und fort an der Verheimlichung mit.
Die Häufungen von Mazzarinos nebenamtlichen Distanzpositionen, die er im Jahrzehnt zwischen 1630 und 1640 übertragen bekam, wecken gegen einen politisch talentierten Mann vom Kaliber Mazzarinos den Verdacht, dass sich hinter den heruntergespielten Harmlos-Ämtern etwas anderes verbirgt, der Anmarsch von jemand kardinalspolitisch Potentem auf eine Machtposition außerhalb der Kurienkörperschaft Roms.
Das Hin und Her Mazzarinos zwischen Papst und Frankreichs Regierungschef wäre demnach ein Spiegelgefecht, um die Zeitgenossen zu foppen, sie davon abzulenken, was Sache ist und Sache werden soll. – Papst und Frankreich waren im Zentrum des Interesses von Europa, das mit allem, was beim Anlauf Mazzarinos auf die Position des französischen Regierungschefs geschah, nicht informiert werden sollte.
Keine der Mazzarino offiziell übertragenen Positionen war allzu festgelegt päpstlich und italienisch, so dass er jederzeit gut und schnell aus der Untergeordnetheit beim Papst in die oberste Ordnung des fremden Staates überwechseln konnte. Nichts an Mazzarino war – ihn fixierend – laufbahnmäßig definiert worden, alles immer nur nebenamtlich, inoffiziell, außer-(un)ordentlich, Honorar-halber. – Mit dieser Unterbesetzung schob man den überbegabten Politiker geradewegs auf das französische Regierungsspitzenamt zu. Jede profilierte Position eines italienischen Bischofs, italienischen Kardinals oder päpstlichen Nuntius hätte den Wechsel an die Regierungsspitze im fremden Land von beiden Seiten aus unmöglich gemacht.
Die ein Jahrzehnt währenden Nebenbei-Tätigkeiten des in Wirklichkeit intensivst professionell Zentral-Tätigen bei gleichzeitigem Dauerpendeln zwischen Italien und Frankreich, dem drahtzieherischen Ursprungs- und dem absichtsvollen Bestimmungsland, indizieren die verwegensten Absichten, die Papst Urban VIII. und der französische Königskardinal Richelieu mit diesem Mann hatten.
Mauschel-enthüllende Wirkung hat die Beleuchtung von zwei Begleiterscheinungen des Mazzarino’schen Anmarsches auf die französische Regierungsspitze:
1. Mazzarino hinterließ bei seinem Tod ein Privatvermögen von 20 Millionen Livres. Die Selbstbereicherung eines Günstlings – kein Sonderfall, hier nur die Höhe des gehorteten Eigentums. Zum Vergleich: Henri IV starb nach der Sanierung des von seinen Vorläufern zerrütteten Staatshaushaltes mit einem Plus von zwölf Millionen Livres. Fast doppelt so viel floss in die Privattaschen des fünften Henri-IV-Nachfolge-Regierungschefs (Concini, Luynes, Nicolas Sillery und Richelieu waren Mazarin vorausgegangen).
Auch Mazarins »gemachtes« Privatvermögen in Höhe von zwei sanierten Staatshaushalten – Richelieu hinterließ nur eineinhalb Millionen Livres! – wäre jedoch für sich allein noch nicht auffällig. Überraschend ist vielmehr das frühe Zufließen von Staats- und Landesgeldern in die Hände Mazzarinos – zu einer Zeit, da er noch keine sichtbare politische »Größenordnung« ist.
Die Zuwendungen an ihn beginnen genau zehn Jahre vor Mazarins Antritt der Regentschaft über Frankreich. – Nachdem Mazzarino im März 1633 die Soutane angelegt hat, macht ihn Urban VIII. zum »Referenten«, dem nichtssagenden Titel eines »Mächtigen für alles«. Für diese wenig aussagende Tätigkeit erhält Mazzarino aber alles andere als ein Titel-entsprechend untergeordnetes Gehalt: nämlich die Einkünfte aus einer in den Chroniken nicht spezifizierten Abtei. Diese Gelder müssen schon so opulent gewesen sein, dass sie Mazzarino ein mondänes Leben in den Salons von Rom ermöglichen. Er ist zu diesem Zeitpunkt 30/31 Jahre alt.
Ab dem 3. März 1634 beginnen dann die aufgeschlüsselten finanziellen Zuwendungen, nunmehr aus französischen staatlich-kirchlichen Quellen belegt, zuerst aus der Abtei von Saint-Avold in Lothringen. Es ist das Jahr, in dem der französische Regierungschef, Kardinal Richelieu, den beiden rätselhaften Italienern »zur besonderen Verwendung«, Mazzarino und Campanella, einen glänzenden Empfang in Paris bereiten lässt.
1637 erhält Mazzarino die Einkünfte aus der Abtei Saint-Médard in Soissons, östlich von Compiègne. Angeblich ist Mazzarino zu dieser Zeit in Rom. (Bis zur Publikation der vollständigen Mazarin-Notizen können auch die Reisen Mazzarinos nicht genau verifiziert werden.)
Wiederum angeblich verlässt Mazzarino Rom Ende 1639 für immer, kauft sich dort aber am 23. März 1641 den Palast des Kardinals Guido Bentivoglio – von den Einkünften seiner Diplomatenposten nicht bezahlbar!
Auch wenn es möglich ist, dass Mazzarino den Kaufvertrag nicht persönlich unterzeichnet hat, fällt doch eine Doppelstrategie auf: in Richtung französischer Regierungschef streben, sich aber gleichzeitig schon in Rom das Gebäude eines regierenden (Kirchen-) Fürsten zulegen.
Am Ende seiner französischen Regierungszeit erhält Mazarin Einkünfte aus über 60 Positionen, Titeln und verbrieften Berechtigungen, die zur Multimillionenhöhe seiner Hinterlassenschaften gemacht werden konnten.
Die Unermesslich-Bereicherung Mazarins ist noch immer nicht »Beleg« genug, dass sich dahinter etwas anderes als nur das übliche tausendfache Eigene-Taschen-Füllen der europäischen politisch-wirtschaftlichen Machthaber verbirgt – praktiziert bis zum heutigen Tag. – Bei Mazarin fällt höchstens auf, dass nicht er sich bereichert hat, sondern dass ihm geldbringende Positionen und Ämter vom fremden Land regel(un)recht »nachgeworfen« wurden – und das geschieht schon zu einer Zeit, da er noch nicht die Macht hatte, sich selbst zu bereichern.
2. Ganz aus dem Usus der Aristokratisierung im feudalen Zeitalter rutscht die Behandlung der Familie Mazarins durch den französischen Staat.
Die Herkunft Mazzarinos väterlicherseits ist bürgerlich-bäuerlich, mütterlicherseits kleinadlig. Vater Pietro Mazzarino hatte sich nach seinem Scheitern als sizilianischer Hutmacher nach Rom in die Dienste des – für die spanischen Okkupanten tätigen – Artillerie-Offiziers Filippo Colonna begeben, über dessen Vermittlung er Ortensia Bufalini begegnete, einer Colonna-Haus-Zugehörigen, die Pietro heiratete.
Giulio ist das älteste Kind von Pietro und Ortensia, sein jüngerer Bruder Michele wird klipp und klar Priester (später echter französischer Bischof und Kardinal). Von Giulios vier jüngeren Schwestern wird die älteste Äbtissin, die drei jüngeren heiraten, die dritte Schwester bleibt kinderlos, die zweite und die vierte bekommen insgesamt elf Kinder, vor allem sieben Töchter, auf die es der französische Staat unter Mazarin alsbald abgesehen haben wird: Die zwei Nichten Martinozzi und die fünf Nichten Mancini lässt Mazarin 1653 – nach seiner Rückkehr in die Position des Regierungschefs – zu sich kommen und in enger Beziehung mit dem jungen König Louis XIV heranziehen! – Der inzwischen 15/16-jährige Louis verliebt sich in Marie Mancini so »schwer«, dass er sie heiraten will. Mit Olympia Mancini soll er sogar ein Kind gezeugt haben, den späteren Prinz Eugen, untergeschoben dem Herzog von Savoyen!
Sämtliche sieben Nichten Mazarins werden mit dem europäischen Hoch- und Herrschaftsadel verheiratet. Mazarin selbst stirbt als Herzog von Nevers, welchen Titel er seinem Neffen, Philippe Jules Mancini, vererbt.
Aristokratisierungen von Personen und Familien waren seit Jahrhunderten das Recht der Landesfürsten. Beim Umgang mit Mazarins Familie geschieht etwas anderes. Über Sex- und Sach-Meriten von Bürgerinnen und Bürgern hinaus wird ein ganzer Clan nicht nur in Adelspositionen gehoben, sondern auch umgehend mit den europäischen adligen Herrschenden verbandelt. Die beiden Schwäger Mazarins, die Herren Mancini und Martinozzi, werden eilig baronettiert und vergräflicht, damit ihre Töchter, Mazarins Nichten, schon als »Geborene« in den Hochadel einheiraten können.
Hinter der biografisch-biologischen Europa-Verflechtung der Nichten des französischen Kardinalskönigs – in Verbindung mit der emotional-sexuellen Verquickung der Nichten mit dem französischen König, Ludwig 14, selbst – verbarg sich ein zur Methode erhobenes staatspolitisches Interesse: Die Verheiratungen und Liaisons waren Abdichtungsmaßnahmen gegen die Inkontinenz des Faktes des am Hof von Paris in der Position des Königs aufwachsenden, in natura unadeligen »Kardinalslümmels«. Je adliger dessen Pate und Beschaffer Mazarin war – er hatte sich das Herzogtum Nevers gekauft! –, je hoch- und Herrschafts-aristokratischer seine Familie mit den legitimen Machthabern Europas vernetzt wurde, desto weniger kam es darauf an, woher der »Hergeholte« eigentlich selbst »stammte«. Der Beschaffer und die Seinen waren nun von höchstem Stande, wie sie europaweit demonstrierten. Das sollte auf den Beschafften abfärben, als sei er ein Stück von ihnen.
Mazarin hat in »weiser Voraussicht« gehandelt. Neben ihm gab es bis zu einem Dutzend Mitwissende von der »Operation Kronprinz«. Mazarin musste davon ausgehen, dass zumindest in der nächsten Generation die Geheimhaltung undicht werden könnte. Wenn selbst der Hochadel Frankreichs und Europas mit der Familie des Beschaffers verheiratet war, konnte sich niemand Machtpotentes mehr gegen den »Emporkömmling« verhalten. Auch die blaublütigen »Hohen« waren nun mit ihrer siebenfachen »Runterheiratung« in die Familie des gebürtigen Sizilianers ein Stück von ihm.
Die französischen, deutschen und englischsprachigen Lexika, Enzyklopädien und sogar die Spezial-Biografien können sich nicht entscheiden, den jungen Mazzarino eindeutig beim Namen zu nennen. Sie stellen ihn mit zwei verschiedenen Namen vor: »Mazarino oder Mazarini«.
Die italienischen, spanischen und portugiesischen Standardwerke tun das nicht. Mazzarinos Geburtsname wird immer mit einem »o« am Ende geschrieben und in der überwiegenden Mehrzahl mit zwei »z«, entsprechend der sizilianischen Stadt Mazzarino, woher der Name kommt.
Giulio Raimondo Mazzarino ist in Süditalien geboren, in Rom zur Schule gegangen, hat in Italien studiert und gearbeitet, einen zweijährigen Aufenthalt in Spanien (Madrid) absolviert und an der spanischen Universität von Alcalá Jura studiert.
Unter seinem Namen »Mazzarino« ist Mazarin mehr als 30 Jahre »gelaufen«, in denen er noch nicht als französischer Staatspräsident, der er zwischen 40 und 58 war, Retuschen an seinem Namen und mit seiner Biografie vorgenommen hat, um »fast« französisch und »ganz« aristokratisch und dadurch vor der französischen Öffentlichkeit berechtigt zu erscheinen, als Consortiums-»König« mit Königin Anna von Österreich und als Interims-Regent für den unmündigen Ludwig den Vierzehnten zu fungieren.
Der Name »Mazzarini« taucht in Mazzarinos Taufurkunde auf, in der alle Namen der Beteiligten latinisiert wurden. Der Täufling Giulio Raimondo heißt »Julius Raimundus«, der Vater Pietro »Petrus aus Palermo (Sizilien)«, die Mutter Ortensia »Hortensia« und die Familie Mazzarino »Mazzarini« (74, S. 6).
Dieses einmalige Ereignis der »Umbenennung« nur über einen einzigen Buchstaben »verwirrt« nicht den Originalnamen Mazzarino. Es war in der Zeit Mode, Namen für bestimmte, begrenzte Zwecke zu latinisieren: Cornelius Jansen publizierte unter »Jansenius«, René Descartes unter »Cartesius«.
Auch in Briefen noch Ende 1629, Anfang 1630 wird der Unterhändler im Mantuanischen Erbfolgestreit so genannt, wie er von Geburt an hieß und sich vor seiner französischen Spitzenposition präsentierte: »(Signor) Mazzarino« (74, S. 29).