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Achtzehn. Die Zahl war in ihrem Kopf, noch bevor sie die Augen geöffnet hatte. Sie blieb regungslos liegen, atmete tief ein und versuchte, dabei zu ergründen, ob sich etwas verändert hatte. Fühlte es sich anders an, wenn man volljährig war?

Mit einem Schulterzucken stellte sie fest, dass das nicht der Fall war. Ihre linke Schulter schmerzte noch genauso wie gestern, seit sie beim Trampolin-Training darauf gestürzt war, und auch sonst bemerkte sie keinen einen einzigen Unterschied zu den Tagen zuvor. Aber was machte das schon? Mit einem Ruck schlug sie die Bettdecke zur Seite, sprang aus dem Bett und stellte sich vor den großen Spiegel. Autsch, verdammt fies, direkt nach dem Aufstehen: Der Pickel oben an ihrer Stirn schillerte rötlicher als gestern und ihre braunen, lockigen Haare standen wie immer widerspenstig in alle Richtungen ab. Sie versuchte sich an einem Grinsen, schüttelte bei dem Ergebnis den Kopf, griff nach der Jeans und dem ausgewaschenen, ehemals schwarzen T-Shirt und zog sich in Windeseile an.

Sobald sie die Tür geöffnet hatte, roch sie den Duft von Kaffee und, noch besser, den von Crêpes. Cool, ihr Lieblingsessen. Mit einem lauten Geräusch machte ihr Magen auf sich aufmerksam. Sie beruhigte ihn mit kreisenden Handbewegungen, während sie grinsend den Gang hinunter zur Küche ging. Als sie die Tür öffnete, fuhr ihre Oma, die am Herd werkelte, herum. Dann legte sich ein breites Lächeln auf ihr Gesicht. »Halt, warte!«, rief sie. »Ich bin noch nicht ganz so weit.« Energisch schob sie Laura wieder in den Flur zurück und zwinkerte ihr dabei verschwörerisch zu. »Eine Minute noch!«

Laura ließ sich auf den Stuhl neben der Kommode fallen. Die gute, liebe Charlotte. Jedes Jahr überbot sie sich an ihrem Geburtstag mit einem wunderschön geschmückten Tisch und natürlich gab es Lauras Lieblingsfrühstück, Crêpe mit Schokolade. Schmunzelnd zog Laura ein Haarband aus der Tasche und band ihre Haare zu einem Zopf. Für Charlotte war sie immer noch das kleine Mädchen, das sich höllisch über die Geburtstagskerzen freute. Und das würde sie ihrer Oma auch nicht nehmen und sie mit achtzehn ebenso anstrahlen wie mit zehn. Das war sie ihr schuldig.

Lauras Blick blieb an den Fotos hängen, die den gesamten Eingangsbereich säumten. Das größte in der Mitte stach durch den goldenen Rahmen besonders hervor. Es zeigte ihren Vater, der Laura in die Luft hob, in den Armen ihrer Mutter reckte sich Paul. Ihr Bruder und sie hatten ihre Hände verschränkt zu einer gemeinsamen Faust geballter Lebensfreude vor blauem Himmel. Alle vier strahlten unter vom Wind zerzausten Haaren. Das war ihr letzter gemeinsamer Urlaub auf Fehmarn gewesen. Noch gut konnte Laura sich an den Moment erinnern, als das Foto entstanden war, obwohl es jetzt ziemlich genau zehn Jahre her war. Sie hatten so viel Spaß gehabt dort am Strand, waren ausgelassen, hatten sich frei gefühlt. Hatten gedacht, dass es immer so weiterginge, dass sie das Glück gepachtet hätten.

Kurz darauf war alles zerbrochen. An dem Tag, als ihr kleiner Bruder spurlos verschwand. Laura schluckte. Als wäre es ausgeknipst worden, wich das Lächeln aus ihrem Gesicht.

In dem Moment wurde die Küchentür aufgerissen. Charlotte hatte die Schürze abgenommen, trotzdem war ihr geblümtes Kleid mit winzigen Teigflecken gesprenkelt. »Nun kann es losgehen«, rief sie fröhlich.

»Super!« Schnell riss Laura sich von den Fotos los und folgte Charlotte in die große, geräumige Küche. »Wow«, sagte sie, und blickte auf den Tisch, der über und über mit bunt gepackten Geschenken beladen war. In der Mitte prangte eine riesige Schokoladentorte mit einer 18 darauf. Überall brannten Kerzen – ebenfalls achtzehn Stück, wie Laura vermutete, und auf einem Teller türmten sich die Crêpes.

»Oh Mann, Oma … du bist einfach die Beste!« Mit einem Satz war Laura am Tisch, rollte einen der dünnen Pfannkuchen zusammen und schob ihn sich in den Mund.

Charlotte rollte theatralisch mit den Augen. »Nun setz dich doch erst!«, rief sie. »Aber halt, herzlichen Glückwunsch, du Große!« Liebevoll drückte Charlotte ihre Enkelin an sich. Dann schob sie Laura ein Stück nach vorne, hielt sie aber an der Schulter fest und blickte sie ernst an. »Ich bin so stolz auf dich«, sagte sie. »Du bist eine Kämpferin und hast das Herz einer Löwin.«

Laura atmete tief ein und schloss für einen Moment die Augen. Sie kam sich gerade überhaupt nicht wie eine Löwin vor. Jetzt nur nicht an das Foto denken. Nicht an ihre Eltern, nicht an Paul. Sie schluckte erneut, spülte den Schmerz hinunter.

»Ich habe einen Bärenhunger!«, rief sie, löste sich aus der Umarmung und setzte sich an den Tisch.

»Das ist immer noch mein Mädchen!« Zufrieden schob Charlotte ihr gleich mehrere Crêpes auf den Teller. »Aber erst musst du die Kerzen auspusten und dir etwas wünschen!«

»Natürlich!« Laura lehnte sich nach vorne und holte tief Luft. Den Wunsch brauchte sie nicht mehr formulieren. Er war sofort da, in ihrem Kopf, nicht nur an ihrem Geburtstag, sondern an jedem verdammten Tag. Seit zehn Jahren.

»Ich will Paul wiederhaben«, dröhnte es in ihr. »Ich will ihn zurück. Bitte lass ihn nach Hause kommen.«

Düsterstrand

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