Читать книгу Düsterstrand - Meike Messal - Страница 5
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Die Stille in ihrem Zimmer klingelte in den Ohren. Schnell drückte Laura ein paar Tasten auf dem Handy, stellte die Lautstärke hoch und genoss den Gesang von Lena, der sich wohltuend über ihre aufgewühlten Gedanken legte. Zum Takt der Musik wippend ging sie zu ihrem Kleiderschrank hinüber und fuhr mit den Fingern über die Kleiderbügel. Was sollte sie bloß anziehen? Es war ja nicht so, dass man jeden Tag achtzehn wurde. Heute Nacht würden sie feiern. Auf der Reeperbahn. Endlich, so lange sie wollte und in jedem Club. Sie war die Letzte ihrer Freundinnen, die den großen Schritt in die Volljährigkeit machte. Jetzt durfte sie gemeinsam mit Emily, Klara und Jule tun, was sie wollte, feiern bis in den Morgen, trinken, wonach ihnen der Sinn stand. Seit Monaten hatte sie sich auf diesen Tag gefreut.
Doch warum hatte sie dann dieses komische Kratzen in der Kehle? Lauras Blick wanderte an den Kleiderbügeln hinunter, ganz nach unten in den Schrank. Dort auf dem Boden lag eine zusammengeknüllte Decke achtlos zwischen mehreren alten T-Shirts und einem Schlafsack.
Langsam hockte sich Laura hin und schob die Decke beiseite. Darunter kam eine Holzschatulle zum Vorschein, die in der hintersten Ecke des Schrankes verborgen war. Laura zog sie hervor und ließ dann ihre Finger sachte auf dem Deckel ruhen. Mit einem Seufzer sank sie zu Boden und klappte die Kiste auf, langsam, als hätte sie Angst, sie würde die Büchse der Pandora öffnen und alles Unheil über sich und die Welt bringen.
Da lag es, das kleine Stofftier. Ein Igel, mit schwarzen, kullerrunden Knopfaugen, einem grünen Halstuch und weichen, braunen Stacheln. Laura nahm ihn heraus, drückte ihn erst an ihre Wange, dann an die Nase. Ein bisschen roch er immer noch nach Paul. Das glaubte sie zumindest. Paul hatte so oft nach »draußen« gerochen, nach frischem Wind, gemähtem Gras, über das er so gerne rannte, und nach feuchter Erde. Wenn er abends im Bett lag, war sie zu ihm gekrochen und dann hatte ihre Mutter ihnen vorgelesen. Anschließend hatte sie die Geschwister mit den gar nicht stacheligen Stacheln des Igels so lange durchgekitzelt, bis einer von ihnen es nicht mehr aushielt und mit vom Lachen nassen Wangen Stopp gerufen hatte.
Laura lächelte bei der Erinnerung. Sie legte den Igel auf ihr Knie und griff nach einem Stapel Fotos, der sich ebenfalls in der Kiste befand. Sie alle auf Fehmarn, gerötete Wangen, blitzende Zähne. Jedes Jahr hatten sie den Sommer dort verbracht. Ihre Mutter hatte erzählt, dass sie schon mit ihr auf die Insel gefahren waren, als sie erst zwei Monate alt war. Auch davon gab es ein Bild in der Schachtel. Laura auf dem Arm ihres Vaters, ein winziges Bündel, vor dem Ferienhaus in der Nähe von Burg. Hinter dem Haus glänzte das Meer hellblau.
Das Kratzen in Lauras Kehle wurde stärker. Schnell legte sie die Fotos neben sich auf den Boden und nahm den erstbesten Gegenstand in die Hand. Eine Kette ihrer Mutter. Ihre Lieblingskette, ein silbernes Band mit einem runden Anhänger, in den Blumen eingraviert waren. Jede Blüte war ein kleiner Diamant. Laura wog die Kette in ihrer Hand und es war, als würde das federleichte Gewicht ihren Arm tonnenschwer nach unten drücken. Sie ließ die Kette auf die Fotos gleiten, zögerte, schloss kurz die Augen, musste schlucken, als ihre Finger den Zettel in der Schatulle berührten. Sie nahm ihn heraus, wollte ihn auseinanderfalten, aber ihre Hände zitterten so stark, dass er ihnen entglitt.
Hastig hob sie ihn auf, steckte ihn in die Kiste zurück, stopfte die Kette und den Igel hinein und griff dann nach den Fotos. In der Eile fielen die jedoch ebenfalls herunter, verteilten sich auf dem Boden. Lauras Puls raste. Überall ihre Eltern und Paul. Sie lachten sie an, ihre Gesichter, auf dem Teppich, von überall lachten sie. Doch es war ein trauriges Lachen, ein böses Lachen.
Wo bist du, Laura?, riefen sie. Warum bist du noch da und wir nicht? Warum hast du uns nicht geholfen, Laura?