Читать книгу Düsterstrand - Meike Messal - Страница 9
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Mit einem erleichterten Seufzer schloss Laura die Haustür auf. Noch nie war ihr der Weg von der Reeperbahn bis zur Mundsburg, in deren Nähe sie wohnte, so weit vorgekommen. Sie rieb sich gähnend die Augen, während sie in die erste Etage lief, ließ die Wohnungstür hinter sich zufallen und schloss ab. Hinter der ersten Tür hörte sie Charlotte leise schnarchen. Ein kleines Lächeln huschte über Lauras Gesicht, das noch ein wenig anhielt, während sie in ihr Zimmer schlich. Müde fiel sie auf ihr Bett. Was für ein Reinfall. Sie hatte sich ihren großen Tag so toll vorgestellt. Feiern bis in den Morgen, ausgelassen, sie und ihre drei Freundinnen. Ohne Jan. Aber vor allem ohne Katharina.
Lauras Blick fiel auf die Fotos, die noch immer auf dem Boden verstreut lagen. Sie hatte es bisher geschafft, ihren Schmerz zu verschließen in einer tiefen dunklen Ecke ihres inneren Kellers, den sie kaum noch betrat. Sie war stolz darauf, stolz, dass sie sich nicht hatte fallen lassen und in dem Dunkel versunken war – weder vor zehn Jahren noch jetzt. Nein, sie hatte sich nicht unterkriegen lassen, lebte, lachte, liebte. Sie war stark. Meistens. Doch ausgerechnet heute fühlte sie sich so elend wie schon lange nicht mehr. So würde sie nicht einschlafen können. Nicht mit den anklagenden Blicken ihrer Eltern und Paul. Mühsam rappelte sie sich auf, streckte die Hände aus und begann, die Fotos einzusammeln.
Ihre Unterlippe zitterte, bevor sie es kontrollieren konnte. Dann bebte auch das Kinn und im nächsten Augenblick liefen ihr die Tränen die Wange hinunter.
»Scheiße, warum seid ihr nicht da?«, flüsterte sie. »Mama, ich bin achtzehn. Ich hab die Schule geschafft, Abi gemacht. Ein richtig gutes sogar.« Sie zeichnete mit ihrem Finger das Gesicht ihrer Mutter nach. »Ich glaube, ihr wärt stolz auf mich gewesen. Ihr habt mir gefehlt beim Abiball.« Sie lachte heiser auf. »Charlotte war da, natürlich, sie ist immer da. Du hast schon eine tolle Mama, Paps.« Vorsichtig wischte sie eine Träne weg, die auf ihren Vater gefallen war. »Aber ihr fehlt mir so. So sehr.« Ihre Stimme brach, und sie räusperte sich. »Du fehlst mir auch, kleiner Bruder«, wisperte sie schließlich und strich sacht mit dem Finger über das Foto. Paul lachte sie an. Er hatte fast immer gelacht. »Wo bist du?«, fragte sie und richtete ihre Konzentration auf sein Gesicht. »Wo bist du nur?«
Du wirst es nie herausfinden, wenn du mich nicht suchst. Du hast zu schnell aufgegeben!
»Nein, nein das stimmt nicht!« Sie antwortete laut, obwohl Pauls Stimme nur in ihrem Kopf dröhnte. »Wir haben nach dir gesucht. Wir alle – Mama, Papa, ich, die Polizei. Ganz Fehmarn hat nach dir gesucht, Paul.«
Aber ihr habt mich nicht gefunden. Ihr wart nicht gründlich genug. Du musst mich finden. Bitte. Finde mich!
»Aber wo? Wo soll ich denn suchen? Wie kann ich dich finden, wenn die Polizei es nicht geschafft hat?« Nun tropften viele Tränen von Lauras Wangen, benetzten das ganze Foto. Sie wischte sie nicht mehr weg. »Wie soll ich dich finden, Paul?«, flüsterte sie.
Aber sie wusste, dass das nicht die Frage war. Nicht wie oder wo. Die Frage war – was sollte sie machen, wenn ihre Suche ergab, dass er nicht mehr lebte? Wie konnte sie dann weiterleben?
Ein Junge, der spurlos verschwunden war. Nicht weggelaufen, bestimmt nicht. Das hätte er niemals getan. Er war doch gerade erst sieben Jahre gewesen, ein fröhliches, offenes Kind. Die Polizei hatte deshalb in alle Richtungen ermittelt. Ein Unfall? Oder hatte ihn jemand entführt? Aber sie hatten nie etwas gehört. Keine Lösegeldforderung. Kein Lebenszeichen. Es war, als hätte es Paul nie gegeben.
Nicht für Laura. Sie wusste, er lebte. So musste es sein. Er lebte und es ging ihm gut. Er hatte eine Familie, die sich um ihn kümmerte. Die immer so einen kleinen Jungen gewollt hatte wie ihn. Die ihn liebte. Irgendwo auf dieser Welt lebte und lachte er.
Ihm ging es gut. Ihr ging es gut. Und so würde es bleiben.
Mit einer energischen Handbewegung schob sie die Fotos zusammen, legte sie zurück in die Schachtel, schloss die Schatulle und schob sie in den Schrank. Sorgfältig breitete sie die Decke darauf aus, zog dann ihre alten T-Shirts herbei und stapelte sie darüber.
Ohne sich auszuziehen ließ Laura sich ins Bett fallen, wischte die Tränen von ihrem Gesicht und löschte das Licht.