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4.2 Psychologisches Altern
ОглавлениеAuch das Gehirn wird als Organ vom biologischen Altern betroffen. Im Gehirn ist zum einen ein Verlust an Neuronen zu verzeichnen und zum anderen nimmt die Interaktion zwischen den Zellen durch einen Rezeptorverlust für verschiedene Signalmoleküle ab. Diese erschwerte Kommunikation zwischen den Zellen betrifft auch andere Organe (vgl. Danner et al., 1994, S. 200). Mit zunehmendem Lebensalter kommt es zu einer Vielzahl von morphologischen Veränderungen im Gehirn, z. B. zu einer zahlenmäßigen Abnahme der Nervenzellen, Pigmenteinlagerungen in den Zellen, zu einer Verschmälerung der Hirnwindungen und zu einer faserigen Verdickung der Hirnhäute, die auch psychische Konsequenzen haben. Das Hirngewicht sinkt; beim 75-Jährigen erfolgt eine Abnahme des Gewichtes gegenüber einem 30-Jährigen von durchschnittlich 56 %.
Die Konsequenzen können grob in die Kategorien kognitiv und emotional unterteilt werden. Unter kognitive Konsequenzen fallen auch intellektuelle Fähigkeiten. Dabei lassen sich sowohl altersstabile als auch altersabhängige intellektuelle Fähigkeiten feststellen.
Unterschieden wird zwischen flüssigen (fluiden) und kristallinen Funktionen.
»Unter fluider Intelligenz versteht man die stark biologisch determinierte Fähigkeit, figurale Zusammenhänge zu erkennen und abstrakte Schlussfolgerungen bei Aufgaben zu ziehen, die in ihrem Inhalt relativ bildungsunabhängig sind. Mit kristalliner Intelligenz bezeichnet man jene kognitiven Kompetenzen, die notwendig sind, um stark wissensabhängige Aufgaben zu lösen.« (Weinert, 1992, S. 192)
Zu den kristallinen Funktionen gehören bildungs- und übungsabhängige Fähigkeiten, wie z. B. der Wortschatz und Fähigkeiten, die sich mehr auf Allgemeinwissen und Lösungsstrategien beziehen (vgl. Thomae, 1988, S. 11). Die flüssigen Funktionen sind abhängig von der Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung und des Denkens. Während sich die kristalline Intelligenz als relativ altersunabhängig erweist und sich kristalline Funktionen durch geistiges Training bis ins hohe Alter steigern, zeigt sich bei Aufgaben, die die fluide Intelligenz betreffen, eine Verlangsamung der Leistungen, insbesondere bei der Bewältigung von komplexen und unbekannten Aufgaben (vgl. Bartels, 1982, S. 306). Ebenso lässt im Alter in der Regel das Kurzzeitgedächtnis nach (vgl. Weinert, 1994, S. 196).
Die Ergebnisse der gerontologischen Forschung in Bezug auf kognitive Prozesse sind keineswegs nur aus einer biologisch-reduktionistischen Sicht heraus zu interpretieren. Eher ist es das komplexe Zusammenspiel von biologischen Prozessen, das konstante, aber variationsreiche Bestehen von Stimulanzen und Herausforderungen in der sozialen Umgebung und die Fähigkeiten des Copings des Einzelnen (wobei auch Interesse und Motivation eine wichtige Rolle spielen), wodurch Resultate über intellektuelle Fähigkeiten im hohen Alter erklärt werden können. So scheint die intellektuelle Leistung bis ungefähr zum 70. Lebensjahr insgesamt relativ stabil zu sein. Auf Gruppenniveau sind erst ab diesem Alter die Gewinne intellektueller Fähigkeiten geringer als die Verluste (Schaie, 1988, nach Staudinger, 1992). Auch in einer anderen Untersuchung fand man gleichartige Ergebnisse nach dem 70. Lebensjahr. Die Gruppenergebnisse nach Alter verschleiern jedoch große individuelle Unterschiede. So haben in dieser Untersuchung einige Personen der Altersgruppe der 70- bis 80-Jährigen die schlechtesten Werte und einige Personen, die über 95 Jahre alt waren, die besten, einschließlich einer 103-Jährigen (Smith & Baltes, 1993, nach Künzel-Schön, 2000).
Es hat sich gezeigt, dass es durchaus möglich ist, die Leistungen des Gedächtnisses und der flüssigen Funktionen durch entsprechende Trainingsprogramme zu steigern.
Wichtig für die Bewältigung von Intelligenzaufgaben scheint u. a. auch die Annahme, dass im Laufe des Lebens Expertenwissen erworben wird. Damit sind bestimmte Kenntnisse gemeint, die das Wissen organisieren und die Fähigkeit, sein eigenes Verhalten angemessen zu steuern (vgl. Weinert, 1994, S. 194). Diese Fähigkeit kann bei einem 80-Jährigen mehr als bei einem 60-Jährigen vorhanden sein. Kognitive Leistungen im Alter werden vor allem auch durch individuelle und soziale Lebensbedingungen, wie z. B. Schulbildung, Sozialschicht, Berufsanforderungen, Anregungsgehalt der Umgebung und Gesundheit beeinflusst (vgl. Lehr, 1988).
Auch die subjektive Bewertung und das Erleben des Alterns sind bedeutsam für den Alterungsprozess und -verlauf. Subjektive Faktoren, die das Altern beeinflussen, sind z. B. die Biografie des Betroffenen, die gegenwärtige Situation und die Zukunftserwartungen.
Einheitliche psychische Veränderungen im Alter gibt es nicht. Psychisches Befinden und Persönlichkeit sind eher von Charaktereigenschaften, Gesundheit und sozialen Faktoren als vom Lebensalter abhängig. Die Bewältigung körperlicher Einschränkungen, die sich aus der biologischen Alterung des Organismus ergeben und zu Problemen führen können, stellt einen wesentlichen Faktor für erfolgreiches Altern dar.
Neben Entwicklungen und Veränderungen der Psyche kann es auch psychische Erkrankungen im Alter geben (vgl. Künzel-Schön, 2000). Ein großes Problem bei der Präsentation der Prävalenzraten in den Untersuchungen ist die sehr unterschiedliche Definition einer psychischen Störung. Je mehr Spielraum die Definition in der diagnostischen Beschreibung und Interpretation lässt, desto höhere Prävalenzraten psychischer Störungen kann man erwarten. Auch können unterschiedliche Methoden der Stichprobenerhebung in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen eine Varianz der Ergebnisse in den Untersuchungen bewirken.
»Mehrere Untersuchungen zeigen, dass etwa ein Viertel der über 65-Jährigen unter psychischen Veränderungen irgendwelcher Art leidet« (Häfner, 1986). Allerdings weisen Dilling et al. (1989, nach Häfner, 1992) darauf hin, dass die Prävalenz bei den über 65-Jährigen nicht höher sei als bei den über 20- bis 44-Jährigen. Eine durchschnittliche Zunahme psychischer Veränderungen ist erst im hohen Alter zu verzeichnen (vgl. Häfner, 1992). Dieser Anstieg ist jedoch ausschließlich bei den organisch bedingten Veränderungen zu beobachten (vgl. Häfner, 1986). Es treten insbesondere primäre degenerative Demenz (Alzheimer Krankheit) und die vaskuläre Demenz auf.
Auch was die kognitiven Möglichkeiten von Menschen mit geistiger Behinderung betrifft, kann man nicht von einem grundsätzlich anderen Altern ausgehen. Jedoch fällt es Menschen mit geistiger Behinderung häufig schwer, zu begreifen, was mit ihrem Körper passiert, warum sie beispielsweise zunehmend mehr Pausen benötigen. Skiba (2006) spricht in diesem Zusammenhang von einer »Altersgleichgültigkeit« bei Menschen mit geistiger Behinderung. Das kann daran liegen, dass das Alter für viele Menschen kaum fühlbar ist und eine Reflexion über das Befinden oft ausbleibt (Skiba, 2006, S. 45). Daraus kann abgeleitet werden, dass Menschen mit geistiger Behinderung nicht ausreichend über den biologischen und psychologischen Veränderungsprozess im Alter informiert sind oder eine Vorbereitung auf diesen Prozess oft gar nicht stattfindet (Schuppener, 2004, S. 36). Erschwerend kommt hinzu, dass Kommunikationsbarrieren und Einschränkungen der Selbstwahrnehmung dazu führen können, dass Funktionsstörungen im psychischen, wie im physischen Bereich gar nicht oder zu spät festgestellt werden. Häufig werden Anzeichen von Gesundheitsproblemen seitens der Angehörigen oder der Betreuer unbedacht auf die geistige Behinderung der Menschen zurückgeführt (Ding et al., 2004). Dieses Phänomen wird in der professionellen Diagnostik mit dem Begriff »Overshadowing« beschrieben.
De Ruiter (1990) konstatiert in seiner Untersuchung in einer niederländischen Vollzeiteinrichtung einige psychische Veränderungen wie Abnahme des Einprägungs-, Reaktions- und Begriffsvermögens und zunehmende Desorientierung und Verwirrtheit. Als besonders belastend stellten sich Veränderungen und Funktionsverluste des Körpers und der Eintritt in den Ruhestand heraus. Haveman et al. (1997) zeigten auf, dass Gedächtnisfunktionen von Menschen mit geistiger Behinderung ohne Down-Syndrom im Alter stabil bleiben und eine Abnahme der Orientierungsfähigkeit erst ab dem 70. Lebensjahr erfolgt. Was die intellektuellen Fähigkeiten betrifft, zeigt sich in zwei anderen Studien bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung (ohne Down-Syndrom), dass diese ungefähr bis zum 65. Lebensjahr stabil bleiben (vgl. Fisher & Zeaman, 1970; Waltz et al., 1986). Dagegen können bei Menschen mit Down-Syndrom in diesem Bereich bereits im Alter von 40 bis 55 Jahren starke Beeinträchtigungen (Haveman et al., 1997) auftreten. Tsao et al. (2015) untersuchten altersbedingte Veränderungen der kognitiven Funktionen und des Anpassungsverhaltens bei demenzfreien Erwachsenen im Alter zwischen 20 und 69 Jahren. Die Resultate zeigen einen Rückgang der sozialen und kognitiven Fähigkeiten mit zunehmendem Alter. Auch fanden sie heraus, dass der Rückgang der fluiden Intelligenz zwischen 20 und 69 Jahren alles andere als linear ist. Ab einem Alter von etwa 40 Jahren ist ein signifikanter Rückgang der Werte zu verzeichnen, der den Beginn einer beschleunigten Alterung kennzeichnet. In Bezug auf das Anpassungsverhalten zeigt sich ein Rückgang in der Motorik, der Sozialisation und dem Alltag. Die Fähigkeiten der Kommunikation bleiben stabil. Obwohl sich die Leistungen in Bezug auf Motorik und Sozialisation stetig verschlechtern, gehen die Fähigkeiten des täglichen Lebens ab 40 Jahren stark zurück. Diese Daten stimmen mit den Ergebnissen von Zigman et al. (1987) überein, die beschreiben, dass Fähigkeiten in diesem Bereich bei Erwachsenen mit Down-Syndrom extrem altersempfindlich sind. Es scheint, dass die sensibelsten Manifestationen der Regression bei Menschen mit Down-Syndrom in Verhaltensdomänen zu finden sind, die mit Aktivitäten des täglichen Lebens zusammenhängen. Diese Beobachtung lässt sich mit anfänglich geringen Kenntnissen der kognitiven Fähigkeiten oder der Sprache erklären. In Bezug auf Verhaltensstörungen wurde kein altersbedingter Anstieg der Prävalenz von psychiatrischen Störungen in der Stichprobe von Erwachsenen mit Down-Syndrom, die frei von Demenz waren, gefunden. Diese Daten bestätigen die Ergebnisse anderer Studien (Beciani et al., 2011; Mantry et al., 2008; Patti & Tsiouris, 2006) und zeigen, dass typisches Altern bei Erwachsenen mit Down-Syndrom nicht durch das Auftreten von psychiatrischen Problemen gekennzeichnet ist, sondern eher durch einen Rückgang der kognitiven Funktionen und der sozialen Anpassungsfähigkeit.
Die Prävalenz psychischer Störungen ist bei älteren Menschen mit geistiger Behinderung etwas höher als in der Gesamtbevölkerung (Ding-Greiner & Kruse, 2004, S. 523).
Jedoch ist bei der Interpretation der Daten Vorsicht geboten. Aus den Übersichtsstudien von Zigman et al. (1991) und Day & Jancar (1994) zu diesem Thema wird deutlich, dass die Resultate ein unvollständiges und wenig konsistentes Bild der psychischen Probleme älterer Menschen mit geistiger Behinderung geben. Es gibt kaum Studien über den Verlauf und das Auftreten neuer psychischer Probleme (Inzidenz). Viele Studien beschränken sich auf Personen in großen Wohneinrichtungen. Auch sind die Kriterien einer psychiatrischen Diagnose sehr unterschiedlich oder variieren in Zeit und Ort oder nach der Art der Datenerfassung (z. B. bestehende ärztliche Diagnose, Fallregister, Screening einer aselektiven Stichprobe oder einer definierten Population). Die Grenzen zwischen einer Verhaltensauffälligkeit und einer psychischen Störung sind nicht immer deutlich und lassen einen subjektiven Ermessensspielraum zu (vgl. Haveman et al., 1993). Da vielfach eine aktive verbale Kommunikation bei alten und jungen Menschen mit geistiger Behinderung fehlt, werden viele psychische Störungen nicht, zu spät oder falsch diagnostiziert.
Eine häufig beobachtbare psychische Veränderung im Alter ist die Zunahme von Stereotypien (ständiges Wiederholen von Äußerungen oder Bewegungsabläufen) bei der Bewältigung von Alltagssituationen. Diese wurde vor allem bei Menschen mit Down-Syndrom festgestellt (vgl. Eisenring, 1987; Haveman & Schrijnemaekers, 1995). Diese können u. a. durch eingeschränkte Coping-Möglichkeiten in Krisensituationen entstehen, die aus den häufig eingeschränkten »verbal-kognitiven Verarbeitungsmechanismen resultieren« (vgl. Weber, 1997). Auch das geringe Differenzierungsvermögen im affektiven Bereich führt zu einer erhöhten Anfälligkeit für psychische Auffälligkeiten.
In fast allen Studien werden bei Menschen mit geistiger Behinderung höhere Prävalenzraten von psychischen Störungen im Vergleich mit älteren Menschen in der Gesamtbevölkerung gefunden (Haveman, 1995; Chance, 2005). So fanden Patell et al. (1993) bei 8,6 % der älteren (50+) Menschen mit geistiger Behinderung in einer englischen Region psychische Störungen (vor allem Depression und Angststörung) und bei 11,4 % der Personen mit Demenzerkrankungen. Mit zunehmendem Alter (65+) werden in anderen Untersuchungen in Großbritannien bei Menschen mit geistiger Behinderung höhere Prävalenzraten (ca. 20 %) psychischer Störungen gefunden (Bland et al., 2003; Cooper 1999; Day & Jancar, 1994). Dabei geht es vor allem um Depressionen und Ängste.
Auch Day (1985) und James (1986) beschreiben viele Fälle von Depressionen und Angststörungen bei älteren Menschen mit geistiger Behinderung, die durch körperliche Krankheit, Verlust von Körperkraft und Mobilität sowie durch den Verlust eines Familienmitgliedes oder Freundes zu erklären sind.
Einige Studien, die sich auf psychiatrische Diagnosen bei älteren Menschen mit geistiger Behinderung richten, legen nahe, dass im Alter das Risiko für allgemeine psychiatrische Morbidität, Demenz, Angststörung und Depression etwas erhöht ist (Cooper, 1997a, b; Deb et al., 2001). Auch in einer groß angelegten Studie in Schweden (Axmon et al., 2017) hatten ältere Menschen mit geistiger Behinderung höhere Wahrscheinlichkeiten auf mindestens eine psychiatrische Diagnose als Gleichaltrige in der Allgemeinbevölkerung, die stationär oder ambulant behandelt wurden. Die größte Diskrepanz zwischen den beiden Kohorten bestand bei psychotischen Störungen. Im untersuchten Zeitraum (11 Jahre) kamen bei Menschen mit geistiger Behinderung zehnmal häufiger psychotische Störungen vor als bei der Allgemeinbevölkerung. Die einzige diagnostische Kategorie in der Allgemeinbevölkerung mit einer höheren Wahrscheinlichkeit waren Störungen im Zusammenhang mit Alkohol-/Drogenmissbrauch.