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4.3 Soziologisches Altern

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Die Soziologie setzt sich unter anderem mit der Frage nach sozialen Positionen von Menschen im Alter auseinander. Jedes Individuum nimmt im Laufe seines Lebens unterschiedliche Positionen ein. Diese werden erworben sowie zugeschrieben und von der Person selbst und seiner Umwelt zusammengefügt. Dazu gehören unter anderem beispielsweise eine Familien-, eine Berufs-, eine Alters- und Geschlechtsposition, mit der jeweils eine bestimmte Rolle verbunden ist. Die Rolle bestimmt die Erwartungen und Aufgaben, die an die jeweilige Position herangetragen werden (Skiba, 2006, S. 163).

Thomae (1968) geht davon aus, dass primär soziale Einflüsse den Alterungsprozess beeinflussen. Aus soziologischer Sicht ist der Aspekt der Geburtskohorte von großer Bedeutung. So ist die Generationszugehörigkeit für verschiedene Leistungen im Alter bedeutsamer als das chronologische Alter. Anzunehmen ist, dass z. B. Ereignisse wie Naturkatastrophen oder Kriege, Ernährungsgewohnheiten, das jeweilige Gesundheits- und Erziehungssystem, Familienstrukturen, Krisen (wie die Corona-Parandemie) etc. den Kohorteneffekt beeinflussen (vgl. Filipp & Schmidt, 1995, S. 442). Aber auch Werte, Kulturinteressen, Musik und Kommunikationsmittel, mit der die neue Generation aufgewachsen ist, unterscheiden sich von der vorigen. Die »neuen Alten« sind aufgewachsen in einer Zeit der Liberalisierung und Individualisierung.

»Es beginnt sich eine immer größer werdende Personengruppe der älteren Menschen mit neuen Verhaltenseinstellungen zu entwickeln. Für sie gilt: ›Lebensqualität ist nicht das, was mir geboten wird, sondern das, was ich daraus mache. Infolge der Individualisierung wird die Eigenverantwortlichkeit betont‹ (Schramek, 2002, S. 57)« (Buchka, 2003, S. 117).

Religion und Altern ist ein weiteres wichtiges kultursoziologisches Thema. Nicht nur bei den Jüngeren, auch bei der älteren Generation kann eine wachsende Tendenz der Säkularisierung festgestellt werden. Für viele ältere Menschen hat die Religionszugehörigkeit jedoch noch immer eine große Bedeutung. Sie prägt das Erleben des Alterns und ist für viele Lebensbereiche relevant. So bekommt z. B. das chronologische Altern eine ganz andere Wertigkeit und Bedeutung, wenn Verlusterfahrungen (Sterben des Partners, eigene Krankheit) an ein Gottvertrauen und den Glauben an ein Leben nach dem Tod gekoppelt sind.

Es ist kaum bekannt, welche Konsequenzen das religiöse Altern oder das Fehlen des religiösen Alterns für Menschen mit geistiger Behinderung hat. Auch gibt es keine Daten, ob in dieser Hinsicht Unterschiede auf der Ost-West- (neue versus alte Bundesländer) oder Nord-Süd-Achse (evangelisch versus katholisch) bestehen. Die Bedeutung der Deinstitutionalisierung traditioneller Werte durch Reinstitutionalisierung ist ein relevantes Thema für die Gerontosoziologie, hat aber bis jetzt kaum das Interesse der sonderpädagogischen Soziologie geweckt.

Neben dem Rollenwechsel findet im Alter auch eine »Veränderung des Gewichts der verschiedenen Vergesellschaftsformen« statt (vgl. Kohli, 1994, S. 256). Durch den Eintritt in den Ruhestand verliert die Arbeit an Bedeutung; es kommt zu einer Verlagerung des Schwerpunkts hin zu anderen Vergesellschaftungsformen wie Familie, Verwandtschaft, Freizeit und sozialen Netzwerken außerhalb der Familie. Durch den o. a. Trend der Singularisierung steigt das Risiko, im Alter nicht mehr auf primäre soziale Beziehungen zurückgreifen zu können (vgl. Trost & Metzler, 1995, S. 23). Hierdurch gewinnen andere soziale Bindungen wie Vereine, Freunde etc. an Bedeutung.

Ein weiterer wichtiger Aspekt aus soziologischer Sicht stellt das Altersbild in der Gesellschaft dar, das überwiegend negativ behaftet ist, denn Altern wird als Zeit des Abbaus, des Abstiegs, des Verlustes gesehen. Dieser Prozess wird von Thomae (1988) mit dem Begriff des »Ageism« beschrieben, der die stigmatisierende systematische Vorurteilsbildung und Diskriminierung aufgrund des »Altseins« meint.

Weitere bedeutsame soziologische Aspekte sind die altersspezifischen Rollen mit ihren altersspezifischen Merkmalen. So spricht man nach Thieme (2008) von soziologischem oder sozialem Altern, »wenn es um den unterschiedlichen Grad der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben oder den Rückzug aus sozialen Rollen (z. B. der Erwerbstätigkeit) und gesellschaftlich geprägten Verhaltensmustern (z. B. nach dem Auszug der Kinder aus der gemeinsamen Wohnung) geht« (ebd., S. 34). Unter Zuhilfenahme des chronologischen Alters werden Rollenzuschreibungen und Erwartungen bestimmt. Alternde Menschen unterliegen oft Vorurteilen, z. B. beim Arbeitgeber. Abnahme der Arbeitsproduktivität, Verringerung des persönlichen Engagements im Arbeitsleben, um nur einige zu nennen, sind Befürchtungen der Arbeitgeber. Ergebnisse von empirischen Studien widerlegen diese Befürchtungen zumindest teilweise. Es zeigen sich lediglich Einbußen in der Produktivität (vgl. Backes 2003, S. 55). Dabei ist das Alter von Rollenverlusten gekennzeichnet; diese werden nicht nur von außen an das Individuum herangetragen, sondern alte Menschen haben auch selbst das Bedürfnis, sich von sozialen Rollen zurückzuziehen. Diese Aussage liegt der Disengagement-Theorie nach Cumming & Henry (1961) zugrunde. Demgegenüber geht die Aktivitätstheorie davon aus, dass alte Menschen weiterhin das Bedürfnis haben, aktiv zu bleiben und soziale Rollen auszufüllen, um eventuelle Verluste durch Berufsaufgabe zu kompensieren (vgl. Kohli, 1994, S. 235). Sicherlich haben beide Theorien ihre Berechtigung, gelten aber nicht in ihrer jeweiligen Absolutheit (vgl. von Rosenstiel, 1994, S. 241) und vor allem nicht bei Menschen mit geistiger Behinderung.

Das Bild des Alters unterliegt einem ständigen und ausgeprägten Wandel. Das Alter wird nicht mehr ausschließlich unter den Aspekten von Abbauprozessen subsumiert, sondern Senioren erleben aktuell eine aktive Zeit und genießen vielfältige Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben. Diese neue soziale Alterskultur (vgl. Buchka 2003, S. 33) gewinnt zunehmend an Bedeutung, führt aber auch zu großen Unterschieden. Ältere Menschen ohne entsprechende körperliche, geistige und finanzielle Ressourcen, wie z. B. Menschen mit geistiger Behinderung im Alter, treffen auf Barrieren der gesellschaftlichen Teilhabe.

Versucht man, den Adressatenkreis der Soziologie einzuengen auf »alte Menschen mit geistiger Behinderung« ist es keinesfalls einfach – ohne willkürlich zu sein –, relevante Themengebiete von der allgemeinen Soziologie abzugrenzen. Die soziale Wirklichkeit dieser Personengruppe kann durch verschiedene theoretische Modelle beschrieben und erklärt werden und die Beschäftigung mit dem Teilbereich der Soziologie des Alterns bedeutet nicht, dass andere Teilbereiche wie die Soziologie der Freizeit ( Kap. 10) und des Wohnens ( Kap. 8) oder sogar die Familiensoziologie damit ausgegrenzt werden. Auch ist es wichtig, Werte, Normen, soziale Erwartungen von und gegenüber älteren Menschen mit geistiger Behinderung, ihre soziale Position und Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe, im spezifischen sozial-historischen und strukturellen Kontext einer Gesellschaft zu analysieren (vgl. Stöppler & Wacker, 2004).

Wie auch in der Gesamtbevölkerung verliert der Mensch mit geistiger Behinderung im Alter einige seiner Positionen. Die Berufsposition, die in seinem Leben häufig eine herausragende Stellung einnimmt ( Kap. 7), fällt mit dem Übergang in den Ruhestand weg. Da der Arbeitsplatz für viele Menschen mit geistiger Behinderung ein wichtiger Ort der sozialen Kontakte ist, kann es zusätzlich zum Verlust von Freundschaftspositionen kommen ( Kap. 9). Das ohnehin kleine soziale Netzwerk dieser Personengruppe droht im Alter noch geringer zu werden.

Moss et al. (1993) weisen auf die unterschiedlichen sozialen Strukturen und Auffassungen bei der Begleitung von älteren Menschen mit geistiger Behinderung in neun verschiedenen Ländern hin. Bei dem asiatischen Modell (Indonesien, Japan, Singapur, Hong Kong) gibt es eine lange Geschichte und Tradition der Familienhilfe durch die erweiterte (extended) Familie. Von jüngeren Paaren wird erwartet, dass sie für ihre älteren Angehörigen sorgen, ob sie nun behindert sind oder nicht. Um diese Funktion zu erfüllen, bekommen sie soziale Unterstützung. Durch diese Tendenz in urbanen und ruralen Gebieten, aber auch verstärkt durch Mobilität, Migration und Lockerung von Familienbanden, gibt es auch in diesen Ländern weniger informelle Unterstützer im Familienkreis. Generell haben diese Länder keine Institutionsgeschichte von großen Wohneinrichtungen und der Drang zur Deinstitutionalisierung und Enthospitalisierung ist darum gering (vgl. Moss et al., 1993, S. 85).

Alte Menschen mit geistiger Behinderung sind in zweifacher Hinsicht stigmatisiert. Sowohl die geistige Behinderung als auch das Alter werden sozial abgewertet und abgelehnt (vgl. Wieland, 1991, S. 14), was mit dem Begriff des »double jeopardy« beschrieben werden kann (vgl. Thomae, 1982, S. 45). Soziale Abwertung wird auch durch die Verweigerung der Erwachsenenrolle für Menschen mit geistiger Behinderung erfahren. Menschen mit geistiger Behinderung werden oft als ewige Kinder gesehen und behandelt; die Betroffenen verinnerlichen diese Zuschreibungen in ihr Selbstbild, verhalten sich entsprechend und beeinflussen so ihr eigenes Erscheinungsbild.

Es gibt einige zentrale Zielvorstellungen, in die zunehmend auch die Hilfen für ältere Menschen mit geistiger Behinderung eingeplant werden, z. B. Normalisierung, Selbstbestimmung und Inklusion. Es ist nicht sinnvoll, in diesem Kontext von Paradigmen zu sprechen, da die Konzepte eine gemeinsame Wurzel haben. Wenn in der Soziologie der Behinderten von sozialer Integration gesprochen wird, »dann ist damit gemeint, dass behinderte Menschen unabhängig von Art und Schweregrad ihrer Behinderung in allen Lebensbereichen grundsätzlich die gleichen Zutritts- und Teilhabechancen haben sollen wie nichtbehinderte Menschen« (Cloerkes, 1997, S. 194). Werte, die für nichtbehinderte Bürger hinsichtlich Wohnen, Arbeit, Freizeit, Sexualität usw. schon lange als normal gelten, werden mehr und mehr auch für Menschen mit geistiger Behinderung als gültig anerkannt. Dies hat auch direkte Implikationen für Praxis und Forschung hinsichtlich der Lebenssituation alter Personen mit geistiger Behinderung. Lange Zeit wurde die Begleitung geprägt durch Ausschluss aus der Öffentlichkeit, durch Segregation und Spezialisierung. Die Werte und Zielsetzungen der jetzigen Betreuung sind dagegen eher geprägt durch die Prinzipien der Integration und Normalisierung. Die kritische Funktion der Wissenschaft ist es, zu untersuchen, wieweit Pläne (»de jure«) von der Praxis (»de facto«) entfernt sind. Die geographische Integration (das Wohnen in gemeindenahen offenen Wohnungen) ist eine wichtige, aber nicht alleinige Voraussetzung für funktionelle (Rollengestaltung ähnlich wie bei anderen Bürgern) und soziale Integration (Akzeptanz und positive Bewertung von persönlichem Kontakt).

Im Folgenden sollen die bedeutsamsten, soziologisch begründeten, gerontologischen Konzepte erläutert und auf ihre Relevanz für Menschen mit geistiger Behinderung analysiert werden.

Altern mit geistiger Behinderung

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